Читать книгу Bulle bleibt Bulle - Ein Hamburg-Krimi - Ben Westphal - Страница 6
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Am dunstigen Himmel lässt die aufsteigende Sonne mit ihren wärmenden Strahlen letzte dünne Wolken verschwinden und taucht den Himmel in ein tiefes Blau. Wabernde Nebelschwaden lösen sich langsam auf dem Gelände des Ohlsdorfer Friedhofs auf. Ein Parkfriedhof, der zu den größten Europas zählt. Sogar eine eigene Buslinie verkehrt auf dem Gelände. Breite Straßen durchziehen das Areal, das von vielen Hamburgern genutzt wird, um dem alltäglichen Stau des Berufsverkehrs auf den Hauptverkehrsadern auszuweichen. In einer langen Schlange stehen viele Fahrzeuge mit laufenden Motoren vor dem Ausgangstor des Friedhofs am westlichen Ende. Ihre Fahrer hoffen, dass sie möglichst eine der nächsten Ampelphasen nutzen können, um auf die Fuhlsbüttler Straße zu gelangen und so zum Arbeitsplatz zu kommen.
Durch das westliche Eingangstor fährt ein dunkler Mittelklassekombi. Am Steuer sitzt ein Mann mit grauem, schütterem Haar, der sich strecken muss, um über das Lenkrad zu schauen. Er umfasst es mit beiden Händen und lässt den Blick über die Wege entlang der Straße gleiten. Er schüttelt den Kopf über die Pietätlosigkeit der Autofahrer, einen Friedhof als Abkürzung zu missbrauchen. Auch schaut er den Fahrern entgegen, die in der Warteschlange stehen. Er taxiert ihre Aufmerksamkeit ihm gegenüber, doch die meisten sind mit ihrem Rückspiegel zum Schminken oder Rasieren beschäftigt, singen zu den alltäglich gleichen Liedern im Radio oder blicken suchend und lesend auf ihre Smartphones. Das Warten am Ausgang entschleunigt ihre Fahrt zur Arbeit für einen Moment. Zumindest bis sie aus dem Parkgelände hinausfahren.
Der Fahrer des dunklen Kombis braucht nicht zu warten. Er fährt den Berufspendlern entgegen und rauscht die Allee hinauf zur Kapelle Nummer 9, wo er in eine Sackgasse abbiegt und langsam in einer Haltebucht rückwärts einparkt. Er bleibt zunächst sitzen und beobachtet die Umgebung.
Einzelne Eichhörnchen jagen über die Rasenflächen und an den Baumstämmen der schattenspendenden Kastanien entlang. Vereinzelt lassen Lücken zwischen den großen Rhododendronbüschen einen Blick auf die Grabsteine der unmittelbaren Umgebung zu.
Ganz allein steht der Wagen auf der Parkfläche. Die weiteren Buchten sind noch nicht besetzt. Am frühen Morgen sind offenbar noch keine Bestattungen in der Kapelle und auch Verwandte und Angehörige treffen erst langsam auf dem weitläufigen Gelände ein, um die Gräber ihrer Angehörigen zu pflegen.
Harry Goldutt, der Chef des Hamburger Rauschgiftdezernats, stößt die Autotür auf, nachdem er den Schlüssel aus der Zündung gezogen hat. Ein anonymer Anruf am frühen Morgen hat ihn hierhergelockt. Der Anrufer habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen, sagte er mit einer flüsternden Stimme bei unterdrückter Rufnummer. Er sprach in gebrochenem Deutsch, die Sätze schienen nicht einstudiert. Sie wirkten glaubwürdig auf Harry. Nachfragen konnte er keine mehr stellen, so schnell hatte der Anrufer wieder aufgelegt. Es könnte auch ein Wichtigtuer oder Spinner gewesen sein, aber das Bauchgefühl rät ihm, dieses konspirative Treffen wahrzunehmen.
Harry steigt aus, stellt sich neben sein Fahrzeug und schließt die Tür. Er schaut sich aufmerksam um. Sein Blick fällt auf den vereinbarten Treffpunkt. Ein dunkler Stein ragt aus dem sattgrünen Rasen vor ihm. Eingraviert steht auf dem anthrazitfarbenen Marmor in goldener Schrift “Gott kennt kein Warum”.
Der Satz umgreift Harrys Herz und zieht ihn förmlich an.
Harry geht mit langsamen Schritten auf den Grabstein zu. Seine Absätze lassen die Schritte auf dem Asphalt erschallen. Unterschiedliche Vögel singen von den Bäumen herab ihr Lied, während ein leichter Wind die Blätter der Büsche rascheln lässt.
«Sind Sie alleine?», fragt eine tiefe Stimme aus einer dichten Hecke hervor.
«So, wie verabredet. Was kann ich für Sie tun?», erwidert Harry Goldutt mit seriösem, aber freundlichem Grundton, ohne in Richtung des Fragenden zu blicken.
Er hört, wie der Mann mit langsamen Schritten an ihn herantritt.
«Es kommt Laster nach Hamburg. Er hat viel Drogen geladen. Kokain. Viel Kokain. Aus Spanien. Sie müssen aufhalten», beginnt der Mann zu erzählen.
«Es kommen viele Laster nach Hamburg. Ein bisschen genauer bräuchte ich es schon», erwidert Harry Goldutt und blickt zu dem Mann, der sich seitlich neben ihn gestellt hat.
«Es ist deutscher Laster. Er hat Pinneberger Kennzeichen. Großer Laster. Er bringt Paletten mit Katzenstreu. Ist aber nicht nur Katzenstreu drin.» Er reicht Harry einen Zettel und nickt ihm einmal kräftig zu.
«Das ist Kennzeichen. Ich weiß nicht, wo er hinfährt. Jedes Mal eine andere Halle, aber immer bei Hamburg.» Sein rundliches Gesicht sieht dabei traurig aus, als würde er jetzt schon bereuen, was er gerade macht.
«Warum helfen Sie uns?», fragt Harry einfühlsam und nimmt dabei den Zettel entgegen, den er ungesehen in seine Jackentasche steckt. «Angst? Schulden? Rache?» Harry lässt zwischen jedem Wort eine bedeutsame Pause, betrachtet dabei das Gesicht des südländischen Informanten. Doch es bleibt traurig und verschlossen. «Alles. Leider alles», antwortet der dunkelhaarige Mann und beginnt sich rückwärts von Harry zu entfernen.
«Warten Sie. Für wen ist der Laster bestimmt? Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich Fragen habe?», ruft Harry ihm nach, ohne ihm dabei zu folgen.
Der Südländer blickt sich noch einmal um. «Guckst Du auf Zettel in deiner Jacke.» Er deutet auf Harry Goldutt, der umgehend an sich hinabschaut. Langsam zieht er den übergebenen Zettel wieder aus der Jackentasche.
Er faltet ihn auf und sieht dort ein Pinneberger Kennzeichen. Harry blickt auf, sein Mund steht ihm offen, weil er umgehend noch einmal nach dem Mann rufen will. Doch der ist spurlos im Dickicht der Büsche und Hecken verschwunden. Harry blickt wieder auf den Zettel und wendet ihn. Auf der Rückseite des cremefarbenen Notizzettels steht in geschwungener Schrift Cemal Sarikaya.