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Zeit und Subjektivität
ОглавлениеAspasia wirft einen Blick in die Küche und Hans lädt sie ein, Suppe zu essen. »Tut mir leid, ich habe keine Zeit!«, ruft sie. Daraufhin fragt Diotima: »Wie machst du das? Wie kannst du keine Zeit haben?« Das aber bekommt Aspasia aber schon nicht mehr mit, weil sie bereits weggerannt ist.
Hans stellt die Kürbissuppe auf den Tisch und fragt: »Was ist Zeit überhaupt? Worüber genau redest du, wenn du über Zeit redest?«
Diotima, mit Blick auf die dampfende Suppe: »Zeit ist ein Phänomen. Das heißt, es gibt Effekte, an denen wir erfahren können, dass es etwas gibt, das wir als Zeit beschreiben können.«
Sie greift sich die Eieruhr vom Küchenbord und zeigt sie Hans:
»Diese Sanduhr zeigt das Phänomen Zeit, wie es uns erscheint: Es gibt eine Zukunft – der Sand im oberen Teil des Glases, und es gibt eine Vergangenheit – der Sand im unteren Teil des Glases, und es gibt eine Gegenwart – die Verjüngung zwischen den beiden Hälften. Das ist der Ort, an dem das Sandkorn von oben nach unten fällt.
Die Zeit, wie sie für uns erscheint, ist ein Prozess. Vergangenheit und Gegenwart sind etwas, das dann, wenn wir sind, nicht mehr oder noch nicht ist. Das eine war einmal, das andere wird erst sein. Soweit ist es banal und allen bekannt.«
»Und,« wirft Hans ein, »was sind aber die Schlussfolgerungen aus diesem Erscheinen von Zeit oder ihrer Phänomenologie?«
»Vergangenheit ist etwas, das jetzt – in der Gegenwart – ist, denn nur in der Gegenwart existiert etwas. Vergangenheit ist ein Konstrukt, aus den Residuen der Vergangenheit rekonstruiert und neu erzählt, immer wieder und immer aus dem Standpunkt jener Verjüngung der Sanduhr.
Zukunft, die ja noch nicht ist und für uns Seiende ebenfalls nur konstruiert werden kann, ebenfalls aus den Residuen der Vergangenheit und der daraus anzunehmenden Tendenz, existiert also ebenfalls jetzt.«
»Ich glaube, ich habe verstanden«, sagt Hans »Vergangenheit und Zukunft sind also nur existent im Jetzt, es gibt nichts anderes als die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft sind etwas, das ausschließlich als Interpretation von im Jetzt existierenden, wirkenden Resten aus der Vergangenheit existiert. So existieren für uns Vergangenheit und Zukunft als etwas Subjektives, als etwas nur in unserem Denken Existierendes. Wie alles in unserem Denken Existierende beschränkt sich diese Interpretation auf das, was wir heute – jetzt – erinnern oder finden und für die Interpretation nutzen können.
Gegenwart ist demnach der Ort der Konstruktion von Vergangenheit und Zukunft, einer Konstruktion, die sich ständig ändert. Einmal, weil die erwünschten Zukünfte von der Interpretation der Residuen der Vergangenheit abhängen, zum Anderen, weil sie Weitererzählungen der Geschichte und Geschichten über diese Residuen sind.
Wenn es Geschichte gibt, gibt es sie jetzt; wenn es eine Zukunft gibt, gibt es sie ebenso gerade jetzt, weil und insofern ich von ihr erzähle.«
Diotima antwortet: »Deshalb ist der Satz von Aspasia, sie habe keine Zeit, auch falsch. Richtig wäre: ›Ich interpretiere meine Zukunft so, basierend auf meinen Erfahrungen aus der Vergangenheit, dass wenn ich zu einem Termin nicht rechtzeitig erscheine, diese meine Zukunft anders werden könnte, als ich erwarte.‹ Das wird die Zukunft aber sowieso, da hätte sie auch mit uns erst mal Kürbissuppe essen können.«
»Ja,« sagt Hans, »auf meiner Reise in Tibet ist mir aufgefallen, dass einige Menschen dort noch leben wie sie es seit tausend Jahren gewohnt sind. Scheinbar gibt es für diese Menschen eine andere Zukunft als unsere. Ihre Zukunft ist die Wiederholung des immer Gleichen, sie ist ein Zyklus. Unsere Zukunft ist immer vorgestellt als etwas Neues, nie vorher Dagewesenes, etwas, von dem wir nichts wissen können. Ihre Zukunft hingegen ist die Wiederholung von etwas, was sie schon oft erlebt haben, eine Blume aus einem Strauß von Ereignissen.
So ist auch die Art, wie sie essen. Tsampa und Milchtee sind die Basis, Fleisch, Brot, Bonbons, sind glückliche Ereignisse, mit denen sie aber nicht rechnen, die sie einfach nur akzeptieren.«