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Emigration in den Fußball
ОглавлениеMittlerweile hatten die Nationalsozialisten ihre Machtpositionen weiter gefestigt. Im Zusammenhang mit der Einverleibung Österreichs als »Ostmark« fanden am 10. April 1938 Reichstagswahlen statt, bei denen nur eine nationalsozialistische Einheitsliste zugelassen war, die angeblich über 99 Prozent der Stimmen erhielt. Gauleiter und Reichsstatthalter Martin Mutschmann schwadronierte im Dresdner Tanzlokal »Weißer Adler« vor 2.000 Nazifunktionären über die »jüdische Weltpest«.
Die Beziehungen des Dresdner SC zu den örtlichen Machthabern gestalteten sich offenbar weiterhin gut. Jedenfalls konnte der Verein zu seinem 40-jährigen Bestehen im April 1938 eine günstige Vereinbarung mit der Stadt Dresden aushandeln: Der DSC übernahm Grund und Boden des Ostrageheges auf 99 Jahre in Erbpacht. Bis dahin – so die Darstellung im DSC-Jahrbuch 2007 – hatten ihm zwar die Stadionanlagen gehört, nicht aber das Grundstück, auf dem sie standen. Zum Jubiläum gab der Verein eine Werbebriefmarke heraus, auf der statt des traditionellen Klublogos – der rot-schwarzen Fahne – das Abzeichen des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL) prangte, der Reichsadler mit Hakenkreuz. Der NSRL hatte den Deutschen Reichsbund für Leibesübungen abgelöst und bildete die Dachorganisation sämtlicher Turn- und Sportvereine. Anbiedernd hieß es in der Jubiläumsfestschrift des DSC: »Von festlicher Freude bewegt, entbieten wir in Verehrung und Dankbarkeit ergebenen Gruß dem Schöpfer und Wahrer deutscher Macht und Größe, dem Schirmherr des deutschen Sportes, unserem Führer Adolf Hitler.«
Die Sympathien, die im DSC für die Nationalsozialisten gehegt wurden, erfassten allerdings nicht die wichtigsten Spieler des Vereins, obwohl die Nazis sich darum bemühten. Helmut Schön berichtete 1979 in einer Fernsehsendung darüber, dass ihm und seinen Kameraden eine NS-Mitgliedschaft angetragen worden sei: »Wir sind nicht gezwungen worden, aber es ist uns immer wieder nahegelegt worden.« Er selbst trat ersatzweise in den »Reichskolonialbund« ein, den er in seiner Autobiografie »eine harmlose Organisation« nannte: »Wir hatten ja keine Kolonien mehr.« Tatsächlich handelte es sich beim Kolonialbund um eine von den Nazis formal unabhängige, aber stark beeinflusste politische Gruppierung, die offiziell für die Wiedererlangung deutscher Kolonien warb. 1938 zählte die Organisation bereits über eine Million Mitglieder und wuchs in den folgenden Jahren auf mehr als zwei Millionen. Der starke Anstieg mag ein Indiz dafür sein, dass manche Mitgliedschaft ähnlich motiviert war wie die von Schön: nämlich als Vehikel, um leichter eine NSDAP-Mitgliedschaft zu umgehen.
Allerdings wurde Schön (laut seiner Autobiografie von 1978) als Nationalspieler besonders intensiv bearbeitet, der nationalsozialistischen Partei beizutreten. Zunächst legte ihm Kurt Gruber, ab 1936 Sportführer im Gau Sachsen, ein Aufnahmeformular vor, das Schön ihm aber unausgefüllt zurückschob. Danach bestellte ihn – und seinen Mannschaftskameraden Willibald Kreß – ein hoher SS-Funktionär namens Laake in sein Büro und forderte die beiden Spieler auf, der SS beizutreten. Schön und Kreß entzogen sich dem Ansinnen mit allerlei Ausflüchten.
Helmut Schön machte später nicht den Versuch, sich deswegen zum Widerstandskämpfer zu stilisieren. Er sei nie jemand gewesen, der gegen den Strom geschwommen sei, bekannte er in seiner Autobiografie. Aber es sei auch »falsch zu sagen, ich hätte mich mit geschlossenen Augen treiben lassen«. Die familiäre Prägung half ihm, sich der nationalsozialistischen Ideologie zu verweigern: »Mein Vater, meine zwölf Jahre ältere Schwester, mein Bruder, sie alle waren total ›contra‹. […] Eine Mitgliedschaft in der SS hätte den Bruch mit dem Elternhaus bedeutet.« Öffentlich habe er seine Ablehnung in Form politischer Witze geäußert: »am liebsten im vollen Club-Casino«. Von einem untergeordneten Gestapo-Mann erfuhr Schön nach dem Krieg, dass ihn die Witzeleien auf die schwarze Liste der Geheimen Staatspolizei gebracht hätten.
Bestärkt wurde Schön in der Ablehnung einer NS-Mitgliedschaft möglicherweise auch durch die Tatsache, dass er sich damit in guter Gesellschaft befand: Auch für die weiteren Schlüsselspieler des Dresdner SC – Willibald Kreß, Richard Hofmann und Walter Dzur – sowie für DSC-Trainer und -Urgestein Georg Köhler finden sich im Bundesarchiv keinerlei Hinweise auf die Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Organisation. DSC-Nationalspieler Herbert Pohl beteuerte im hohen Alter noch (in einem Brief von 2005 an Jens Genschmar, den Leiter des Dresdner Fußballmuseums): »Wir waren fast alle keine Anhänger der Nazis.« Man bewahrte auf dem Rasen des Ostrageheges eine Nische politikfreier Idylle – unbeschadet der Tatsache, dass der Verein und seine Spitzenspieler gerade mit steigenden Erfolgen durchaus zu wertvollen Versatzstücken nationalsozialistischer Propaganda avancierten. An der politischen Instrumentalisierung populärer Spieler änderten ihre Distanz zum Regime und die Flucht in eine Parallelwelt letztlich nichts.
Zwar zählten Fußballer generell nicht zu den nationalen Sportidolen des NS-Reiches, wie der Historiker Matthias Marschik feststellt. Dieses Terrain war Sportarten vorbehalten, die jene »Helden« hervorbrachten, »die den deutschen ›Übermenschen‹ verkörpern konnten«: Boxer, Flieger oder Autorennfahrer. Doch im Fußball gab es die »local heroes«, denen die Nazis durchaus politische Freiräume, materielle Vergünstigungen und sogar gewisse Widerständigkeiten zugestanden. Denn den Machthabern war bewusst, so Marschik: »Die Massenkultur des modernen Fußballs bezieht ihre Anziehungskraft nicht zuletzt daraus, dass der Sport als unpolitisches Terrain konstruiert wird.« Im Gegenzug wurden allerdings Bekenntnisse erwartet: beispielsweise der »Deutsche Gruß« vor und nach den Spielen oder systemkonforme Interviews wie jenes, das Helmut Schön nach seiner Länderspielpremiere ablieferte.
Auch das Hakenkreuz trugen die Spieler des Öfteren auf der Brust, da es, wie erwähnt, Bestandteil des NSRL-Abzeichens war. Bei Länderspielen ohnehin, aber auch im Vereinsrahmen. Zwar schrieb Helmut Schön in seinen Erinnerungen, die DSC-Spieler hätten es »meisterhaft umgehen« können, das Verbandsabzeichen zu tragen, doch diese Erinnerung ist nicht ganz korrekt. Sie trugen es – vermutlich zwingend vorgeschrieben – bei ihren nationalen Endspielen, sie trugen es beim Marsch zum 40-jährigen Vereinsjubiläum 1938 durch Dresden, und einige trugen es, wie auf Fotos ersichtlich, bei Sammelaktionen für das Winterhilfswerk. Da auf diesen Fotos sowohl Spieler mit Vereinsfahnen-Logo wie solche mit Verbandsabzeichen zu sehen sind, erfolgte das Tragen des Hakenkreuzes in diesem Fall offensichtlich freiwillig. Schön übrigens zählte zu den Spielern, die die traditionelle »Fahne« bevorzugten.
Doch sich solchen Regeln generell zu entziehen, wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Verzicht auf die Karriere als Fußballer. Für Schön vermutlich ein undenkbarer Schritt, vor allem in seiner persönlichen Situation. Er hatte nach dem Abitur kein Universitätsstudium antreten können, da sein Vater finanziell nicht in der Lage war, beiden Söhnen eine Hochschulausbildung zu finanzieren. Doch selbst als ein reicher Gönner ihm später das Stipendium für ein Medizinstudium anbot, lehnte Schön ab: Ihm war der Fußball wichtiger. Aus Leidenschaft wie auch als Bezugspunkt innerer Emigration.
Nach seiner Banklehre hatte Schön im Oktober 1937 eine Stelle als kaufmännischer Angestellter bei der Arzneimittelfirma Dr. Madaus in Radebeul angetreten. Madaus war auf pflanzliche Pharmazeutika spezialisiert; 1938 gelang dem Unternehmen die Einführung des Immunstimulanzmittels Echinacin. Schön war im Außendienst tätig, er sollte bei Ärzten und Apothekern für die Madaus-Produkte werben. »Das machte Helmut Schön auch im Umkreis von Dresden. Er war ja bekannt wie ein bunter Hund, schon damals, mit 22 Jahren«, berichtete Dr. Udo Madaus, Sohn eines der Firmengründer, 2015 in einer Fernsehdokumentation von Steffen Jindra. »Die Stärke von Schön war seine Persönlichkeit. Er war ein lustiger Typ, er war intelligent, er wusste sich zu benehmen, also das stimmte alles. Er stammte ja aus einer guten Familie. Solche Leute brauchte man.«
Eine im Sächsischen Staatsarchiv aufbewahrte Personalkontokarte von 1939 weist für Schön ein monatliches Gehalt von 200 Mark aus, das im September 1939 auf 350 Mark anstieg. Den interessantesten Vermerk auf dieser Karte fand ein Archiv-Mitarbeiter an deren rechtem oberem Rand. In dünner Bleistiftschrift war dort diskret vermerkt: »Arbeitszeitausfall dch. Sport bezahlen.« Selbst mehrtägige Fahrten zu Nationalmannschaftseinsätzen wurden, wie der Firmeninhaber persönlich bestimmte, nicht als Urlaubstage gerechnet. Die Firma Madaus, bei der auch Schöns Freund und Mitspieler Herbert Pohl beschäftigt war, zählte ganz offensichtlich zu jenen Unternehmen, die den Dresdner SC und seine Spitzenspieler in vielerlei Hinsicht großzügig unterstützten.