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Woher wir kommen, oder: Out of Africa

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Es gibt zurzeit nur geringe Zweifel daran, was bereits Charles Darwin vermutete. Demnach wanderte der anatomisch moderne Mensch (Homo sapiens) aus Ostafrika nach Asien und Europa. Ich sage bewusst „zurzeit“, denn die einschlägigen Wissenschaften sind, gerade weil sie so wenig archäologisches Material besitzen, sehr dynamisch. Schon einzelne Funde können lange gepflegte Theorien über den Haufen werfen. Doch vorläufig spricht nichts dagegen, wenn wir uns der verbreiteten wissenschaftlichen Sicht, nämlich der Out-of-Africa-Theorie, anschließen. Darüber, wie man sich das genau vorzustellen hat, kursieren mehrere Varianten. Vor etwa 200 000 Jahren dürfte der moderne Mensch – also wir! – entstanden sein. Die Trennung von Menschen und Menschenaffen liegt – das mag uns beruhigen, auch wenn es nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich ist – schon etwa sechs oder sieben Millionen Jahre zurück. Den Affen haben wir also lange hinter uns, aber von einer linearen Abfolge der Menschwerdung kann keine Rede sein. Der Stammbaum des Menschen ist kompliziert und verzweigt. Deshalb sprechen ganz Gewitzte heute lieber von einem Stammbusch. Unsere uralten Vorläufer, die wie Blüten auf diesem Busch verteilt sind, schaffen es mit beneidenswerter Regelmäßigkeit auf die Titelseiten von Illustrierten. Darunter die vier Millionen Jahre alte Ardi aus Äthiopien oder die eine Million Jahre jüngere Lucy (auch aus Äthiopien), die nach dem Beatles-Song Lucy in the Sky with Diamonds benannt wurde. Dazwischen schiebt sich neuerdings ein Äthiopier mit dem wenig inspirierenden Namen MRD-VP-1/1. Sie alle waren Hominini, die zwar bereits aufrecht gehen konnten, aber sich auf den Bäumen, von Ast zu Ast schwingend, wohler fühlten. Irgendwann, vor etwa einer Million Jahren, begannen diese Menschen, das Feuer zu nutzen, eine gewaltige Revolution, und sie erstellten erste Werkzeuge aus Stein und Knochen. Gleichzeitig dürfte die Entwicklung der Sprache erfolgt sein.

Während dieser Zeit scheinen Menschen in mehreren Schüben aus Afrika ausgewandert zu sein. Darunter befanden sich auch unsere Vorfahren, die „modernen Menschen“. Sie wanderten zwischen 125 000 und 60 000 (je nach Forscherin) nach Asien, Australien und über den Nahen Osten nach Europa. Hier kamen sie vor etwa 45 000 Jahren an. Anfangs lebten wir in der Nachbarschaft des (ebenfalls in Afrika) unabhängig entstandenen Neandertalers, der uns vor 30 000 Jahren wieder verließ, um auszusterben. Mit ihm haben wir nicht nur den Tisch, sondern auch das Bett geteilt, denn ein bisschen Neandertaler lässt sich in unseren Genen immer noch nachweisen. Warum der Neandertaler ausstarb, der übrigens ein längeres Leben hatte als unsere Spezies und der kulturell ziemlich entwickelt war, weiß man immer noch nicht.

Dafür kennen wir den Weg, den unsere – übrigens bis mindestens in die Jungsteinzeit dunkelhäutigen! – Vorfahren bei der Besiedelung Europas nahmen, ganz gut, denn sie ließen an vielen Orten Gegenstände zurück. Sie zogen demnach über Bulgarien, Rumänien, Ungarn, immer schön das Donaubecken entlang, durch die Alpen nach Norden. Unter dem, was unterwegs liegen blieb, befinden sich exquisite Stücke der Kunst der Altsteinzeit (Paläolithikum). In der slowenischen Höhle Divje Babe bei Cerkno tauchte eine Flöte auf, die man allerdings Neandertalern zuschreibt. Aber der Rest stammt vom Homo sapiens. In der Nähe der österreichischen Stadt Krems holte man eine Fanny vom Galgenberg genannte Tänzerinnenfigur aus grünem Serpentin mit einem Alter von etwa 35 000 Jahren aus der Erde. Einige Kilometer weiter wurde 1908 die aus Kalkstein gefertigte Venus von Willendorf (25 000 Jahre alt) gefunden. In der Schwäbischen Alb tauchte die aus Mammut-Elfenbein geschnitzte Venus vom Hohlefels aus dem Schutt auf wie Aphrodite aus dem Schaum des Meeres. Neben weiteren Skulpturen, alle um die 35 000 Jahre alt, fand man Flöten aus Geierknochen und Elfenbein, die auf eine pentatonische Tonfolge gestimmt sind und immer noch funktionieren.

Die Venusfiguren waren der Anfang des ersten Kunst-Booms auf dem europäischen Kontinent. Den Ausdruck prägte übrigens 1864 der Marquis Paul de Vibraye beim ersten Fund einer solchen paläolithischen Figur. Er erschrak anscheinend zutiefst vor diesem in Ton geformten Berg unzüchtigen weiblichen Fleisches und nannte das kleine Figürchen, das er, eben vom Schmutz befreit, zwischen seinen Fingern hielt, vénus impudique, unzüchtige Venus! Diese überwiegend weiblichen Figuren zeichnen sich durch ähnliche Kennzeichen aus: übertrieben betonte Geschlechtsmerkmale, breite Hüften, dicke Oberschenkel und meist nur angedeutete oder überhaupt fehlende Beine, Arme und Gesicht. Die Kunst scheint uns ziemlich stereotypisch, weshalb man versucht ist zu folgern, es gehe um die Darstellung von etwas Prinzipienhaftem (Weiblichkeit, Fruchtbarkeit). Diese Annahme ist kühn, denn das würde bedeuten, dass diese ersten Künstler aus der Altsteinzeit bereits Philosophen waren. Und doch erscheint sie nach wie vor als plausibelste Erklärung. Freilich liefern sich die Archäologen längst einen Wettstreit, um diese Theorie angegraut und als Old School erscheinen zu lassen, und legen jede Menge von anderen Deutungen vor: Ahnen- oder Ritualfiguren, Bestandteile des Mutterkults oder gar schlicht steinzeitliche Sex-Toys für die damalige Männerwelt. Die Venusfiguren bilden jedenfalls eine große Klammer zwischen Alt- und Jungsteinzeit (Neolithikum). Auf welcher Insel im Mittelmeer Sie auch immer Ihr Badetuch über die Hotelliege werfen: Falls Sie einen Tag für das örtliche archäologische Museum erübrigen, werden Sie überall auf eine charakteristische Venusfigur – in aller Regel aus dem Neolithikum – stoßen: Auf der Kykladeninsel Milos begegnet man der Lady von Phylakopi, auf Kreta kann man der etwas unförmigen Göttin von Myrtos (eigentlich ein Gefäß in Form einer Frau), der Mutter der Berge oder der Schlangengöttin aus Knossos einen Besuch abstatten. Auf Sardinien gibt es die Mater Mediterranea in Senorbi, in der Argolis auf der Peloponnes die Göttin von Lerna, auf Zypern die Lady von Lempa. In Malta ist die schönste von den vielen die Sleeping Lady, die im archäologischen Museum von Valletta in ihrem Tempelschlaf (das meinen zumindest einige Archäologen) vor sich hin döst.


Lady von Lempa (6000 v. Chr.), Cypros Museum, Nikosia

Um kurz in der jüngeren Altsteinzeit zu bleiben, so war der künstlerische Ehrgeiz unserer Vorfahren aus Afrika mit den erwähnten kleineren Kunstwerken keineswegs befriedigt. Sie liefen zur Zeit der letzten Eiszeit, die Europa überzog, zur Hochform auf und begründeten die erste große Kunstperiode der Menschheitsgeschichte. Zwar ist uns nur erhalten geblieben, was die vielen Jahrtausende überdauerte, während wir von Arbeiten mit Holz, Tierhäuten und Stoffen, ganz zu schweigen von Musik, Ritualen, Tänzen, Körperbemalungen wenig bis gar keine Ahnung haben. Dass man ein solches Urteil dennoch gut begründen kann, liegt an der Felsen- und Höhlenmalerei. Ab etwa 20 000 datiert die unglaubliche Kunst der bemalten Höhlen, vor allem (aber nicht nur) im Grenzgebiet des heutigen Frankreich und Spanien. Als man im 19. Jahrhundert die ersten Höhlen entdeckte – darunter 1879 das Juwel: die Höhle von Altamira –, war man fassungslos und hielt die ganze Sache für eine raffinierte Fälschung. Es vergingen einige Jahrzehnte, bis man es wagte, die Kunstwerke – inzwischen summierten sie sich auf mehrere Hundert – angemessen zu würdigen. Die Kunst des späten Paläolithikums war so außergewöhnlich, dass der französische Philosoph Georges Bataille wohl nicht ohne Lust an der Provokation die Kulturwerdung des Menschen, die wir gerne auf die griechische Antike projizieren, dem paläolithischen Menschen zuschrieb. Und von Pablo Picasso wird gerne der Spruch zitiert, dass nach Altamira alles Dekadenz sei!

Kaum war Europa mit einigen Sippen aus Afrika spärlich besiedelt, erlebte es auch schon seine erste große Kunstperiode. Da tauchen naturgemäß viele Fragen auf: Was waren Antrieb und Ursprung dieser Kunst? Wie stand es mit der mentalen Ausstattung der damaligen Menschen? Welches „Weltbild“ stand hinter dieser Kunst? Derlei Fragen habe ich mich an anderer Stelle ziemlich ausführlich gewidmet – nur für den Fall, dass Sie das vertiefen möchten.2 Hier sei nur kurz und generell festgestellt, was sich mit einiger Plausibilität vermuten lässt: dass für diese Kunst tatsächlich religiöse und magische Antriebskräfte verantwortlich waren. Die ersten Bausteine für die Erzählungen der Religionen und für andere kulturelle Geschichten sind parallel mit der Kunst in dieser frühen Zeit entwickelt worden. Da wir keine Texte über diese Zusammenhänge besitzen, bleibt uns keine andere Wahl, als diese Kunst als Ausdrucksgestalt solcher Weltbilder anzusehen. Unsere fernen Vorfahren in der späten Steinzeit waren jedenfalls auf einem so hohen kulturellen Niveau, dass wir darauf auch heute noch ohne Weiteres stolz sein dürfen.

Das ist umso gebotener, als die Kultur der Höhlenmaler schon bald wieder zusammenbrach. Ohnehin ist es merkwürdig, wie isoliert diese unglaublichen Kunstwerke in der Landschaft stehen. Es fehlen Begleitentwicklungen, die zu einer solch fortgeschrittenen Kunst passen würden wie zum Beispiel die Gründung von Städten. Die Leute waren noch nicht einmal sesshaft, sondern umherziehende Nomaden! Technische Werkzeuge sind nicht bekannt. Wir wissen nicht, wo und wie diese frühen Menschen gewohnt haben und was sie den ganzen Tag lang trieben. So beeindruckend die Höhlenkunst in Europa auch ist, entstand die Kultur in ihrer gesamten Breite doch nicht in Europa, sondern im Orient. Vielleicht war einer der Gründe dafür die Tatsache, dass es in Europa damals eher unwirtlich war: zuerst zu kalt, dann zu nass.

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