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„Von Europa weiß keiner der Menschen …“
ОглавлениеTatsächlich wurde der Begriff Europa bereits im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. geographisch (aber nicht kulturell) verwendet. Er bezeichnete unterschiedliche Gebiete neben Afrika und Asien, die aber wenig mit dem heutigen Europa zu tun hatten, das damals in seiner Ausdehnung gar nicht bekannt war. Die Gebiete diesseits und jenseits solcher Kontinentgrenzen bewohnten vielmehr Griechen. Der erste große Historiker der Geschichte, Herodot, schrieb in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.: „Von Europa weiß keiner der Menschen etwas, […] weder woher es diesen Namen erhalten hat, noch, wer ihn ihm gegeben hat, ist klar, wenn wir nicht sagen wollen, das Land habe den Namen von der Europa aus Tyros erhalten; zuvor war es also namenlos, wie auch die anderen Erdteile.“1 Und Herodot wundert sich, dass Europa keine Europäerin ist und nach seiner geographischen Einteilung Europa nie betreten hat.
Herodot gehörte wie der große Tragödiendichter Aischylos zu jenen, die an eine göttlich gesetzte Grenze zwischen Orient und Okzident glaubten. Das hilft den heutigen Orientverächtern freilich auch nicht weiter, denn Herodot hat die Grenze zwischen den Griechen und den Persern gemeint. Nur schwer konnte man sich nämlich erklären, wie das kleine und in unzählige Stadtstaaten zersplitterte Griechenland die Supermacht Persien hatte niederringen und seine „Freiheit“ bewahren können. Also führte man den Sieg darauf zurück, dass der persische Großkönig Xerxes von den Göttern bestraft worden sei, weil er, der Gottlose und Barbar, es gewagt hatte, diese heilige Grenze zwischen Orient und Okzident zu überschreiten.
Herodot zog eine höchst willkürliche Grenze, die uns deshalb eigentlich ziemlich gleichgültig sein kann. Noch der große griechische Philosoph Aristoteles zählte die Griechen nicht zu den Europäern, sondern dachte ihnen einen Zwischenstatus zwischen Europa und Asien zu. Da er mit den Kontinenten vor allem Klimazonen verband, könnte man ihm zugutehalten, dabei den Schnee im Pindos-Gebirge und die Hitze in Athen im Auge gehabt zu haben. Aber es gab auch einen weniger harmlosen Aspekt der Sache. Nach dem Sieg über die Perser kannte die populistische Propagandamaschine der griechischen Sieger kein Halten mehr, und die Frage der klimatischen Grenzen bekam eine rassistische Schlagseite. Der berühmte Mediziner Hippokrates stellte eine Klimatheorie auf, nach der die im ausgeglichenen Klima Asiens lebenden Menschen zwar kultiviert seien (immerhin!), aber Tapferkeit und Mut gedeihe nur im rauen Klima des Nordens. Aristoteles übernahm diesen Unsinn und führte die angebliche Knechtung der orientalischen Völker darauf zurück. Das Narrativ vom freiheitsliebenden Europa und dem despotischen Orient war ziemlich erfolgreich und begleitete die historische Konfrontation von Griechen und Persern über lange Zeit hartnäckig.