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Die ersten Bausteine der Kultur
ОглавлениеBetrachten wir das Neolithikum als eine Art Labor der Kultur, in dem ähnlich wie in einem biologischen Labor die Bausteine des (kulturellen) Lebens analysiert werden. Und wie das Leben auf vier organischen Basen basiert, die sich zu Nukleotiden und weiter zu Nukleinsäuren als den Informationsträgern des Lebens verbinden, so bildeten sich im Neolithikum die „Basen“ und „Nukleotide“, die sich in den frühen Hochkulturen zu den „kulturellen Nukleinsäuren“ verbanden, aus denen sich die Kultur zusammensetzt.
Sesshaft zu werden, war ein wahrlich revolutionärer Schritt in diesem Prozess und ein durchaus heikles Unterfangen. Eine Voraussetzung dafür war das große Vertrauen darauf, dass aus den Samen, die man in die Erde setzt, Monate später Früchte reifen, dass sich dieses Geschehen Jahr für Jahr wiederholt und dass die erzeugten Produkte des Feldes eine ganze Sippe satt machen können. Um das zu gewährleisten, musste man in den Zyklus der Natur eingreifen, womit das bis heute aktuelle Thema der technischen Verwandlung der Welt aufkam. Man musste das Feld pflügen, Sämlinge setzen, bewässern, Schädlinge abhalten, Unkraut beseitigen, die Früchte ernten und sie konservieren; Speichertechniken wurden nötig und schließlich bürokratische Handlungen wie Messen, Einlagern, Etikettieren, Zuweisen.
Über den Niederschlag, den die Sesshaftwerdung generell und solche Bearbeitungstechniken im Speziellen in den kulturellen Erzählungen gefunden haben, könnte man einige Spekulationen anstellen. Vielleicht darf man darin sogar einen Schlüssel für die Sündenfall-Geschichte vermuten. Als der Mensch seine Geborgenheit im Zyklus der Natur verließ, wurde er gleichsam aus einem Paradies verjagt. Die Natur schenkte ihre Güter nicht mehr freigiebig, im Vorübergehen sozusagen. Vielmehr musste sie ihr der Mensch in schweißtreibender Arbeit und mit technischen Eingriffen abringen, um sein Überleben zu sichern. Es ist davon auszugehen, dass die Menschen solche Eingriffe in den Lauf der Natur nicht auf die leichte Schulter nahmen, sondern sie zu rechtfertigen suchten. Vielleicht liegt darin eine Motivation für die ersten religiösen Erzählungen. Indem man die Eingriffe in die Natur magisch-religiös überhöhte, lagerte man sie in ein anderes kulturelles Feld aus. Solche Erzählungen wären dann gleichsam ein Preisschild, das die Kosten für die Umwandlung von Natur in Kultur abbildet.
Die wohl wichtigste Voraussetzung der Ackerbaukultur war indes eine aufregende Entdeckung: der Rhythmus, in dem der Zyklus der Fruchtbarkeit abläuft. Es ist in der Tat faszinierend, mit welcher Verlässlichkeit die Pflanzen, die mit Anbruch des Winters absterben, im Frühling neu erscheinen, zuerst Blüten, dann Früchte tragen und sich im Herbst wieder in „die Unterwelt“ zurückziehen. Das bedeutet nichts anderes, als dass das stetige, lineare Vorwärtsschreiten der Zeit durch die Wiederkehr des immer Gleichen gebrochen wird. Der Zeit in ihrer zyklischen Gestalt kommt damit etwas Bergendes zu; sie stiftet jene ruhige Stabilität, welche die Sesshaftigkeit absicherte. Damit wird unversehens der Ort des Bleibens zu einem Ort der Identität und Sinnstiftung. Die großen Gründungsgeschichten der Stadt haben hier ihre Wurzeln.
Vielleicht hat der Mensch des Neolithikums diese wunderbaren und auch ein wenig mysteriösen Entdeckungen in ikonographische Zeichen gefasst. Denken wir etwa an die auf runde Steine geritzte Kreuzform, die Steinschale, die die Vollkommenheit und In-sich-Geschlossenheit des Sphärischen ausdrückt, oder die Spiralverzierung, die überall begegnet, wo Menschen solche Erfahrungen machten.
Jedenfalls sollte nicht verwundern, wenn viele scheinbar noch so pragmatische Handlungen einen religiösen Überbau erhielten. Die ersten sesshaften Ackerbauern bauten ihre Hütten zweckmäßig in der Nähe von Wasserquellen, aber Wasserquellen waren selbstverständlich göttliche Orte. Ganz generell musste, wer sesshaft wurde und Hütten baute, zwangsläufig mit dem Raum umgehen, ihn gestalten und ordnen. Also trennten die ersten Hüttenbauer den Wohnraum vom Acker, wiesen den Tieren ihren Platz zu und markierten Orte für die Bestattung der Toten. Nicht nur Pflanzen und Tiere wurden domestiziert, sondern auch Raum und Zeit. Die bewusste Auseinandersetzung mit Letzteren führte, um beim oben vorgeschlagenen Vergleich zu bleiben, zu den organischen Basen für die Architektur genauso wie für die Religion. Dem Raum war von Anfang an ein Koordinatensystem von Unten und Oben eingeschrieben. Die Fruchtbarkeit fand in der Erde statt, aber sie benötigte dazu Regen und Sonne, und beides kam aus dem Himmel. Bildet die Erde die Grundlage für das Wachsen der Pflanzen, gibt die Sonne durch ihren beständigen Lauf den Rhythmus der Fruchtbarkeit vor. Es ist die Sonne, die Ordnung schafft! Aus dieser Erfahrung teilten sich schon früh die Zuständigkeiten. Während Erde und Wasser mit allerhand Vegetationsgottheiten besiedelt wurden, war die himmlische Sphäre für Ordnung und Gesetze zuständig. Mythen aus der griechischen Zeit handeln vom Wachsen der Kulturpflanzen aus dem Leib einer Gottheit. Das Getreide, das die Grundlage des Lebens war, wurde als Ergebnis einer heiligen Hochzeit dargestellt.
Die Gesetzgebung war also von Anfang an eine Angelegenheit von himmlischen Mächten. In den ersten Hochkulturen im Nahen und Mittleren Osten waren es die Gottheiten des Himmels, die nicht selten auf Bergen residierten (der Berg war zwar auch chthonisch konnotiert, aber zugleich dem Himmel nahe), die das Chaos bekämpften und eine harmonische Ordnung schufen. Ordnung aber heißt, umgemünzt auf Staatsgebilde, Gesetz. Daher gaben die Himmelsgötter die Gesetze an die Könige als ihre Stellvertreter weiter, die sie zur Grundlage des Staates machten. Praktischerweise waren diese Gesetze meist auf steinerne Tafeln geschrieben, haltbarer als Festplatten, gespeichert für die Ewigkeit!
Religiöse Vorstellungen entfalteten sich demnach immer im Spannungsfeld von Erde und Himmel, und wir werden sehen, wie stark die Tendenz war, die göttlichen Wesen von der Erde in den Himmel zu hieven. Dabei hatte die verbreitete Ikonographie der Erdmütter einen großen Reiz, was moderne Forscherinnen manchmal zu phantasiereichen Spekulationen verleitete. So vertrat die litauische Prähistorikerin und Anthropologin Marija Gimbutas in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die These einer neolithischen Muttergottheit und eines daraus abzuleitenden flächendeckenden Matriarchats mit einem Höhepunkt um 5000 v. Chr. Gimbutas nannte den Umkreis des Donaubeckens, also das Einzugsgebiet der Ackerbauern und Viehzüchter aus dem Orient, das „Alte Europa“. Es ist das älteste „Alte Europa“, das wir kennen. Aus der Verehrung der Fruchtbarkeit der Erde schloss sie auf das Bestehen eines ausdrücklichen Matriarchats, das schließlich durch indogermanische Einwanderer zerstört worden sei. Ihre These erregte viel Aufsehen und fand naturgemäß in feministischen Kreisen großen Anklang. Unbestritten spielten weibliche Gottheiten quer durch die damalige Welt eine große Rolle. Es ist auch keineswegs abwegig, dass die neolithische Muttergottheit (prehistoric Great Goddess) als Symbol der ständigen Regeneration sich selbst genügte und sich damit von der indoeuropäischen Erdmutter unterschied, die zur Fruchtbarkeit den männlichen Himmelsgott brauchte. Trotzdem haben die Fakten der Forschung der letzten Jahre (ausdrücklich auch unter der Federführung von Wissenschaftlerinnen) das Narrativ von der großen Muttergöttin des Neolithikums arg zerzaust.
Der die Feinde schlagende Pharao, Tempel von Edfu