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Der Beginn der Geschichte: die Schrift

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Es sei eingeräumt, dass etliche Deutungen dieser frühen Geschehnisse am Übergang von der (neolithischen) Siedlung zur (meist bronzezeitlichen) Stadt ziemlich spekulativ sind. Leider besitzen wir ja keine Aufzeichnungen, die uns Hinweise darauf geben, wie man die Dinge damals gesehen hat. Andererseits ist die Sachlage selbst dort, wo wir schriftliche Berichte besitzen, nicht allein deswegen automatisch eindeutig. Auch können wir uns ein wenig mit späteren Erzählungen und dokumentierten Kulten behelfen, wenngleich solche Rekonstruktionen sich vor voreiligen Projektionen hüten müssen. Brauchbare Beschreibungen liegen naturgemäß erst aus der Zeit vor, in der es eine Schrift gab, also, nach der Einteilung der Historikerinnen, aus der geschichtlichen Periode.

Die sumerische Keilschrift kam Ende des 4. Jahrtausends auf, vielleicht zwischen 3500 und 3200 in der sumerischen Metropole Uruk, etwa zur gleichen Zeit, als man in Ägypten die Hieroglyphen erfand. Manches deutet darauf hin, dass die Keilschrift die Nase vorne hatte. Beide Schriftsysteme waren am Anfang eher unhandlich, weil sie mit einer Unzahl von bildhaften Zeichen hantierten, was die Schriftbeherrschung zu einer schwierigen und elitären Angelegenheit werden ließ. Nicht von ungefähr waren sowohl in Sumer als auch in Ägypten die Schreiber ein hoch angesehener Stand in der Gesellschaft. Weil sich komplizierte Sachverhalte in dieser sperrigen Schrift nur schwer abbilden ließen, gab es immer einen Druck zur Vereinfachung und Abstraktion. Die Keilschrift in ihrer typischen Form entstand daher einige Jahrhunderte später. Dabei wurden keilförmige Zeichen mit dreikantigen Griffeln in weiche Tontafeln geritzt. Ton gab es in Hülle und Fülle. Es war ein billiges und in gebrannter Form auch noch dauerhaftes Schreibmaterial. Bei der Hieroglyphenschrift entwickelte sich bald eine kursive Variante (also eine schnelle Schreibschrift) für den Alltagsgebrauch. Man kann darin eine Demokratisierung des einst elitären Mediums Schrift sehen. Um 1800 v. Chr. entstand dann, wie oben bereits berichtet, die Alphabetschrift und wurde von den Phöniziern weiterentwickelt und verbreitet.


Hieroglyphen-Relief, Tempel der Hatschepsut, Luxor

Weil die Schrift anfangs ein Speichermedium war, ist ihr Auftritt auf der Bühne der Weltgeschichte auch ziemlich unromantisch. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse sind nicht etwa Hymnen an die Götter oder epische oder lyrische Texte über die üblichen Lebensdramen, sondern staubtrockene Wirtschafts- und Verwaltungsaufzeichnungen! Man könnte das damit abhaken, dass eben zuerst das Essen kam und dann erst die Kultur. Aber es könnte auch einen anderen Grund gehabt haben: Vielleicht erschien den Menschen das „moderne“ Medium Schrift für religiöse Texte schlicht unpassend und würdelos. Meine Generation hat sich auch erst daran gewöhnen müssen, Wünsche zu besonderen Anlässen an Freunde per E-Mail oder WhatsApp zu versenden, und gratulierte noch geraume Zeit lieber mit einem handschriftlichen Kartengruß. Warum soll es damals anders gewesen sein? Religiöse Stoffe brauchen Authentizität und performative Sprechakte, sie leben von der Gestik der Hände. All das bot das demokratische und unpersönliche Medium der Schrift nicht.

Noch etwas kommt dazu: Landwirtschaftliche Produkte waren damals nicht einfach eine Handelsware und damit eine Möglichkeit, an der Börse mit Warentermingeschäften Geld zu verdienen (oder zu verlieren), sondern sie hatten die Aura einer göttlichen Gabe. Der sorglose Umgang mit Lebensmitteln ist ein sehr neuer und abstoßender Trend der Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Über viele Jahrhunderte war die landwirtschaftliche Betätigung hochgradig religiös aufgeladen. Eine Trennung von materiellen und kulturellen Bedürfnissen ist für die Zeit, von der wir hier reden, daher gar nicht so einfach. Um diese vielfachen Verwerfungen zu lösen, erfand man kulturelle Erzählungen, welche die Schrift – ebenso wie die Stadt, den Tempel und dann das Bild, vor allem das Götterbild – als direkte Gabe der Götter würdigten, die vom Himmel herabfiel. Im Alten Testament wird davon berichtet, dass der Prophet eine Buchrolle, die vom Himmel fiel, verspeiste.7 Das ist das faszinierende Bild der körperlichen Aneignung eines Himmelsgeschenks. Für die ältesten Teile des Alten Testaments, die bis in das 10. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen (und sich auf weit ältere Vorlagen stützen), ist die Mündlichkeit charakteristisch. Jesaja wird von Gott meist zum Sprechen aufgefordert, während später Jeremias alles seinem Schreiber Baruch diktiert. Abgesehen davon ist das Alte Testament eine Sammlung von Texten aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, teilweise aus literarischen und keineswegs religiösen Traditionen. Natürlich wurde von den Redakteuren der Bibel dann alles in den Kontext einer heiligen Erzählung gestellt.

Im mittelbabylonischen Fara fand man auf etwa tausend Tontafeln die ersten Textsorten, die über reine Verwaltungstexte hinausgingen: Rechtsurkunden, Sprichwörter, Beschwörungs- und Weihetexte, darunter Hymnen auf Stadt und Tempel. Im Preislied auf den Tempel von Kes heißt es: „Der Tempel ist von seinem Inneren her das Herz des Landes, von seiner Rückseite her der Odem, der das Innere füllt.“8 Das trifft unsere Erwartungen von der Würde alter Schriftstücke nun schon deutlich besser als Inventurlisten aus Getreidespeichern. Aber eben! Jetzt wurde hier sozusagen der Beipackzettel gleich mitgeliefert und versichert, dass diese Hymne vom Gott Enlil höchstpersönlich verfasst wurde. Auch dessen Kollegin, die Göttin der Schriftkunst, wurde mit Lob bedacht. Daran kann man ermessen, wie wichtig es den Menschen damals war, ihre Erfindungen gleichsam in die Hände der Götter zu legen.

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