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3GÖTTER AUS DEM MORGENLAND – DIE ERFINDUNG DER RELIGION

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Das schmucke Volkskunstmuseum in Tirols Landeshauptstadt Innsbruck beherbergt einen eindrucksvollen Schatz von Exemplaren der lokalen Krippenschnitztradition. Die phantasievollen Darstellungen der Geburt Christi bilden zwei große Gruppen: Die eine projiziert das Weihnachtsgeschehen in eine Tiroler Winterlandschaft. Die Hirten tragen eine Tracht aus dem Südtiroler Pustertal oder dem Nordtiroler Ötztal, versammeln sich in verschneiter Landschaft um ein wärmendes Lagerfeuer und der Stall nimmt die Gestalt einer Almhütte an. Um 1900 änderte sich die Szenerie. Eine Gruppe von Wallfahrern war über Genua ins Heilige Land gereist und die Pilger waren überwältigt von den neuen und authentischen Eindrücken. Die Kunsthandwerker bastelten nun orientalische Paläste aus Pappe und Packpapier, stellten Palmen und Kamele in die Landschaft, ließen Minarette in den Himmel ragen (die freilich erst 600 Jahre nach der dargestellten Geburt Christi aufkamen) und verpassten den Figuren eine phantasievolle Kleidung – und manchmal eine schwarze Hautfarbe. Auch wenn das ein Fest des grassierenden Orientalismus war, kamen diese Krippen der Wahrheit weitaus näher, denn Europäisches findet sich herzlich wenig im Christentum. Es ist – wie auch das Judentum und der Islam – eine orientalische Religion.

Es gibt „Erfindungen“, deren Ursprünge so eng mit der menschlichen Entwicklung verbunden sind, dass es aussichtslos ist, ihre genauen Anfänge festzumachen. So verhält es sich auch mit der Religion. Wir Menschen befanden uns ursprünglich in einem Umfeld, wo wir täglich und sehr existenziell mit lebenspendenden und lebensbedrohenden Mächten wie der Sonne, dem Mond, dem Wasser, schroffen Felsformationen, endlosen Wüsten, Erdbeben, Sturm, Blitz und Donner konfrontiert waren. Diese Mächte versammelten meist beides in sich: zerstörerische ebenso wie heilsame und belebende Aspekte; sie waren ambivalent. Wir lebten auf der fruchtbaren Erde, zu der man sich bücken muss, um ihre Spenden zu entnehmen, und wir blickten auf die majestätischen Gestirne, die Orientierung gewährende Haltepunkte in der schwer erträglichen Dynamik der Zeitläufe sind. Es liegt nahe, dass sich unsere Vorfahren diesen Mächten mit Verehrung, Furcht und Demut näherten und um sie herum Erzählungen spannen. Solche Erzählungen projizierten sie auch in gefundene und aufgelesene Objekte, die sie in die eigene Behausung stellten oder zu ersten Artefakten bearbeiteten. Der Beginn kultureller Erzählungen war zugleich der Beginn der Kunst – und sei es nur eine frühe Proskynese vor einer majestätisch aufragenden Bergspitze in der Wüste (eigentlich bereits das, was man modern eine Performance nennt). Denn Kunst und ihre Werke waren nichts Geringeres als verdichtete Symbole und Zeichen solcher kulturellen Erzählungen.

Man darf davon ausgehen, dass das Leben der Menschen von Anfang an durch religiös zu nennende Erzählungen strukturiert wurde, die von übermenschlichen Mächten und Gewalten handelten, aus denen schließlich Götter und Göttinnen wurden. Religion kennt keine identifizierbaren Erfinder, sie hat sich vielmehr – ähnlich wie der alte Schatz von Märchen – im und mit dem Leben der Menschen entwickelt. Dieser Entwicklungsvorgang dauert bis heute. Denn kulturelle Erzählungen werden immer und immer wieder neu erzählt, fließt in sie doch die jeweilige aktuelle Lebenserfahrung ein, die wiederum von diesen Erzählungen gesteuert ist. Dabei lassen sich bestimmte Tendenzen ausmachen, von denen eine im Spannungsfeld von Erde und Himmel die Himmelsorientierung stärkte. Das entsprach in aller Regel einer stärkeren Abstraktion. Eine andere führte zur Versammlung verschiedener Mächte und Gewalten auf eine einzige Gottheit, eine Tendenz, die man in praktisch allen polytheistischen Systemen beobachten kann. In der praktischen Konsequenz folgte aus all dem, dass ein eigenes religiöses Reservat von der Gesellschaft abgesondert werden konnte. Leben und Kult ließen sich künftig leichter trennen, wann immer man das wollte.


Verehrung anikonischer Stelen (15.–13. Jh. v. Chr.), Israel Museum, Jerusalem

Die ersten Gottheiten waren personifizierte Naturmächte. Es gab Götter und Göttinnen des Süß- und des Salzwassers, Berggottheiten, Götter des Sturms und des Windhauchs, der Vegetation und der Sommerhitze. Dazu kamen im Laufe der Zeit Abstraktionen wie Götter des Heils, des Friedens und des Kriegs, vor allem der Fruchtbarkeit. Es gab astrale Gottheiten, also Sonne, Mond und Sterne. Es gab Gottheiten, welche Emotionen wie Hass und Liebe abbildeten. Weil die alten Mythen in Ambivalenzen dachten, waren (eben nur scheinbare) Gegensätze häufig in einer Gottheit versammelt. Es war auch keineswegs so, dass Götter prinzipiell unsterblich waren. Eine charmante Erzählung berichtet etwa, wie der Gott der sengenden Sommerhitze den Gott der Vegetation tötet. Das ist ganz im Sinne dessen, was Menschen im Orient ständig und auch wir in unseren Gärten angesichts des rasanten Klimawandels immer öfter erleben, sodass der Gartenschlauch dem Gott der Vegetation zu Hilfe eilen muss. Andere wiederum (vor allem die Fruchtbarkeitsgöttinnen) erwachten zu neuem Leben.

Es entsprach der üblichen Entwicklung, dass die Zahl der Gottheiten anfangs ausuferte und in Rationalisierungsmaßnahmen reduziert wurde. Zudem wurden die Gottheiten im Laufe der Mythengeschichte immer abstrakter. Am Beginn der für uns greifbaren Geschichte zählen die Forscher in Mesopotamien über 3000 Gottheiten. Ein solches „Gewimmel im 3. Jahrtausend“,1 wie es Jean Bottéro wenig respektvoll nannte, war schwer zu handhaben. Mit einem ähnlichen Ehrgeiz, wie man ausufernde Behörden reformiert, reduzierte man die Zahl. Man ging daran, das Götterpantheon wie einen Hofstaat und nach dem Vorbild einer differenzierten Gesellschaft zu organisieren.

Die verschiedenen Städte wurden zu Sitzen der verschiedenen Gottheiten. Die Muttergöttin Inanna saß in Uruk, der Mondgott Nanna in Ur, der Sonnengott Utu in Larsa und Sippar, der Wassergott Enki residierte in Eridu, in Babylon hatte der Sonnengott und Ordnungsstifter Marduk seinen Sitz. Besonders in Ägypten strukturierten die lokalen und städtischen Traditionen die Zahl der Gottheiten, die hier wie Aufsichtsräte agierten. Es gab eine Neunheit von Heliopolis (die Gottheiten des ägyptischen Schöpfungsmythos) und eine Dreiheit von Memphis (Ptah-Sachmet-Nefertem). Einer anderen Dreiheit, jener von Theben (Amun-Mut-Chons), war die gigantische Anlage des Karnak-Tempels geweiht. Jede der Gottheiten hatte ihre Aufgabe und einen eigenen Kultbereich, den man heute noch aufsuchen kann. Diesen Gremien saß jeweils ein „Vorstandsvorsitzender“ vor, denn es hatte stets ein Gott die Nase vorn. Atum war Chef in Memphis, Amun in Theben. Weil Theben als erste Theokratie der Geschichte so etwas wie das inoffizielle Zentrum ganz Ägyptens war, war Amun über viele Jahrhunderte auch der klare Anführer im gesamt-ägyptischen Pantheon. Die Ägypter haben ihre Gottheiten nicht wirklich vermenschlicht. Es handelte sich um Mischwesen, um Tiere und individualisierte magische Kräfte. Um die Sache noch komplizierter zu machen, schlüpften sie bisweilen in verschiedene Verkleidungen. Um sich in den Geschichten der ägyptischen Götterwelt, wie sie in den berühmten Königsgräbern abgebildet sind, zurechtzufinden, muss man einige Semester Ägyptologie studiert haben. Weil Gottheiten in Tiergestalten auftraten, galten viele Tiere als heilig. Man mumifizierte sie sogar nach dem Tod und legte große Grabanlagen für sie an (zum Beispiel in Tuna el-Gebel etwas nördlich von Assiut). Die Griechen fanden das abstoßend und konnten auch mit der Mumifizierung von Menschen nichts anfangen. Für sie war der Körper nur ein Hilfsmittel für Seele und Geist, den man beim Tod unbedingt loswerden musste, um die Seele in die Freiheit zu entlassen.

Da die polytheistischen Systeme wie Hofstaaten funktionierten, entsprach das Aufeinandertreffen von verschiedenen Religionen den Gepflogenheiten der damaligen internationalen Diplomatie. Man dachte gar nicht daran, sich wegen fremder Götter die Köpfe einzuschlagen. Polytheistische Systeme kannten keine falschen Götter, sondern nur fremde, die den eigenen entsprachen, aber andere Namen trugen. Sie wurden mühelos in ihren Zuständigkeiten akzeptiert. Der erste erhaltene Friedensvertrag der Weltgeschichte stammt aus dem Jahr 1259 v. Chr. Er wurde zwischen Ramses II. und dem Hethiterkönig Hattusili II. abgeschlossen, und er betraf den ägyptischen Sonnengott und den hethitischen Wettergott: „Das Verhältnis, das der Sonnengott geschaffen hat und das der Wettergott geschaffen hat, für das Land Ägypten und das Land Chatti.“2 Der Text ist ein schönes Beispiel für diplomatische Flexibilität und Toleranz des Polytheismus. Mit dem Friedensschluss endete der heiße Krieg zwischen Ägypten und dem Hethiterreich nach der Schlacht von Kadesch (Westsyrien) 1274 v. Chr., die für Ägypten ziemlich desaströs endete. Doch da die Hethiter eine Defensivstrategie verfolgten, konnten ihre Gegner sich mit blauem Auge davonstehlen. Wenn Sie heute die Ramses-Tempel im Westteil von Luxor besuchen, sehen Sie dort auf den Pylonen freilich ein ganz anderes Bild eingraviert: Die ägyptische Propaganda hat diese Schmach in einen gloriosen Sieg umgedeutet. Natürlich wurden – wie alles – auch Fake News und Propagandalügen im Orient erfunden!

Solche gut funktionierenden „Übersetzungen“ sind eine beeindruckende Leistung des Polytheismus. Manche Gottheiten waren unter verschiedenem Namen in mehreren Stadtstaaten präsent. Die Muttergöttin und Stadtgöttin von Uruk, Inanna, hieß in Kesch Ninhursag und in Lagasch Bawa. An anderen Orten war sie als Nintu, Ninmah oder Aruru bekannt und später bei den Semiten hieß sie Ischtar. Schließlich verlor sie im Sinne der angesprochenen Abstraktion ihren Namen und war einfach „die Muttergöttin“. Ein gemeinsames Pantheon, das in einem größeren geographischen Bereich Gültigkeit besaß, setzte eine kulturelle Identität voraus, die über die autonomen Stadtstaaten hinauswies. So etwas gab es später in Griechenland und natürlich im Flächenstaat der Römer, wo die Götter allerdings reine Importware aus Griechenland waren, die neu etikettiert wurde.

Auch im späteren Christentum feierten städtische Beschützer – in diesem Fall waren es Heilige – fröhliche Urständ. Rom war stolz auf die Apostelgräber von Petrus, Paulus, Philippus, Jakobus d. J., Damaskus verfügte über die Gebeine des hl. Johannes (Ephesos über ein „leeres Grab“ des Johannes, das man ebenfalls verehrte), und Bari nannte die Knochen des hl. Nikolaus sein Eigen. Venedig, das sich als Fluchtburg und Bollwerk gegen die anstürmenden Heiden verstand, trieb es besonders bunt. Es war zunächst dem byzantinischen Heiligen Theodoros geweiht, dann dem hl. Markus, der 828 in einer feierlichen translatio (lat. Übertragung) aus Alexandrien – geraubt oder gekauft, das wissen wir nicht – in die Stadt geschafft wurde. Daneben machte man den Christophorus zum Patron und beanspruchte kurzzeitig die Gebeine des hl. Nikolaus, den aber bereits die Bewohner Baris aus dem antiken Myra (heute Demre, Türkei) für sich reklamierten. Schließlich errichteten die Venezianer etliche Kirchen, die der hl. Muttergottes geweiht waren. Peter Ackroyd hat akribisch nachgezählt und kommt auf über 300 Altäre, an denen die Jungfrau verehrt wurde. Auch Legendenfiguren taugten manchmal zur Verehrung. In Sainte-Maxime an der Côte d’Azur trägt man noch heute alljährlich die Figur der hl. Maxime mit reichlich Rouge auf ihren Wangen in einer feierlichen Prozession durch den Ort.

Wenn Götter mit Namen angesprochen werden, bedeutet das stets, dass man sich in einem polytheistischen Umfeld bewegt. Andererseits hatten, wie berichtet, alle polytheistischen Systeme eine Tendenz zu einem starken Gott oder einer starken Göttin, so wie über den Hofstaat ein König residierte: Amun in Ägypten, Zeus bei den Griechen, Jupiter in Rom. Wurde diese Stellung unumstritten, verloren diese Gottheiten manchmal den Namen wie bei Ischtar, die zur abstrakten Großen Muttergöttin mutierte. In den monotheistischen Religionen war ein Gottesname grundsätzlich verpönt, damit man eben nicht auf die Idee kommen konnte, dass es daneben noch andere Gottheiten gab. Sowohl Jahwe als auch Allah waren ursprünglich Eigennamen (beide hatten auch noch Partnerinnen, nämlich Aschera und Allat). Doch durfte Jahwe später im Judentum überhaupt nicht mehr ausgesprochen werden und Allah bedeutet im Islam einfach nur Gott.

Anders als bei dem in aller Regel toleranten Polytheismus vertraten die monotheistischen Konzepte einen exklusiven Anspruch auf die Wahrheit ihres Gottes, der gegen die falschen Götter der anderen Religionen in Stellung gebracht wurde. Das sorgte für ein erhebliches Gewaltpotenzial in diesen Religionen, das vor allem dann explosiv werden konnte, wenn es politisch instrumentalisiert wurde. Der große Aufklärer François-Marie Arouet Voltaire schrieb unter dem Stichwort „Toleranz“ in seinem Philosophischen Wörterbuch: „Habt ihr zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden.“ Da die monotheistischen Systeme in der Regel aus polytheistischen Ursprüngen entstanden sind, richteten sie ihren Furor zunächst in erster Linie gegen die eigene polytheistische Vergangenheit und die Anfechtungen der jeweiligen Gegenwart. Das werden wir uns gleich noch genauer ansehen, bleiben aber noch kurz bei dem Spannungsfeld von Erde und Himmel.

Die Herkunft Europas

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