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Die Beschwörung der Harmonie: Ma’at
ОглавлениеDer harmonische Rhythmus der Natur scheint die Menschen damals tief beeindruckt zu haben. Er bezeichnete die Voraussetzung der Sesshaftwerdung, indem er den ungeordneten, flanierenden Prozess des Nomaden-Daseins ersetzte und dadurch gleichsam stabilisierte. Und er entsprach der Beobachtung, dass – neben dem regelmäßigen Sonnenlauf – der Nil die Landschaft mit stabiler Regelmäßigkeit befruchtete. Der harmonische Rhythmus, in dem das passierte, war gleichsam die Versicherung dafür, dass der Schadensaspekt den Heilsaspekt nicht zunichtemachte. Es ist schon ziemlich ausgefuchst, neben der Sonne und dem Nil diesen Rhythmus selbst und gesondert zu beschwören. Genau dies taten die Ägypter in Gestalt der Göttin der Gerechtigkeit, genannt Ma’at. Sie ist gleichsam ein Maß für den regelmäßigen Takt des Naturzyklus. Zwar stiftete der ägyptische Sonnengott Atum-Re wie jeder Sonnengott die Ordnung und beseitigte das Chaos. Aber Ma’at war sozusagen die absichernde Kraft dieser Ordnung, indem sie für den Ausgleich zwischen Segens- und Fluchaspekt sorgte. Die Rhythmen des Sonnengangs, der Fruchtbarkeit, von Ebbe und Flut, des Nils – sie alle waren Abbilder von Ma’at. Jan Assmann spitzt das auf den (philosophischen) Punkt zu: Ma’at „verkörpert das ‚Gelingen‘ des Weltprozesses“,3 indem jeder Stillstand verhindert wird. Dass der Prozess hier nicht als Mittel für eine Erlösung des Kosmos am Ende der Zeiten stand, sondern für seinen Bestand, mag uns Menschen des 21. Jahrhunderts zunächst irritieren. Ist uns doch der Prozess eher als Mittel zu einem Zweck geläufig. Er dient dazu, von hier nach dorthin zu gelangen, an ein Ziel zu kommen. Die europäischen Philosophen haben das von Platon bis zu Hegel und Marx in ihren ausgeklügelten Systemen alle irgendwie so gesehen. Der Prozess war stets nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als eine notwendige Voraussetzung zum Erreichen eines endgültigen (glücklichen) Zustands. Der Ägypter dachte hier anders. Der Prozess selbst war ein Wert und der Stillstand (Verlust der harmonischen Bewegung) als solcher schlecht. Solche Überlegungen fanden einiges Echo im Alten Orient, unter anderem im Alten Testament. Im ersten Buch Mose garantiert Gott den Bestand seines Bundes mit den Menschen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Same und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“4 Die Erde steht, solange der Zyklus der Natur funktioniert!
Die Ägypter fanden für diesen Gedanken ein abstraktes Logo: Sie ließen Ornamentbänder aus den Zeichen von djet, anch oder uas meterweise über Tempelmauern laufen. Dabei steht djet für Dauer und Beständigkeit, anch für die Wiedergeburt, und uas ist das Zeichen für Glück. Die Entzifferung dieser Graphik lautet: Durch das ständige (rhythmische) Vergehen und Neu-Werden entsteht Stabilität und Glück.
Ein solches Ornamentband könnte man auch über die aktuelle globalisierte Welt hängen. Denn Prozess, stetige Veränderung, Fortschritt markieren auf der einen, Statik und System auf der anderen Seite das Koordinatensystem, das die europäische Kultur auszeichnet. Mal bewegt sich die Geschichte in Richtung der einen, mal in Richtung der anderen Seite. Ägypten hat diese beiden Pole kreativ miteinander verschränkt. Und das ist von ziemlich aufregender Aktualität. Zur dynamisch fortschreitenden Welt von heute passt nur schwer die alte Systemambition der europäischen Meisterdenker (wie sie immer noch dem Selbstverständnis der meisten politischen Parteien entspricht). Faktisch wissen die involvierten Politiker und Währungshüter nämlich längst, dass Stabilität der Welt nur durch die Pflege des Prozesses oder, im Slang der Ökonomen gesagt, durch „stabiles Wachstum“ zu sichern ist. Meist nennen sie ein BIP-Wachstum von um die zwei Prozent als Voraussetzung für Stabilität (in den Worten der Bibel: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören […]“) und tun alles, um das Wachstum mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten etwa auf dieser Höhe zu halten. Die alten Ägypter haben vor mehreren tausend Jahren die dazugehörige „Theorie“ formuliert.
Zeichen von anch und uas
Erst in der späten Zeit der Ramessiden, also der Dynastie der Ramses-Könige, ging das (unpersönliche) Ma’at-Prinzip zugunsten des direkten Handelns Gottes zurück. In einem spätramessidischen Brief heißt es: „Heute geht es mir gut; das Morgen liegt in Gottes Hand.“5 Jan Assmann nennt diese Veränderung eine „kopernikanische Wende“ in der Religionsgeschichte. An die Stelle des harmonischen, den Bestand sichernden Prozesses (Ma’at) trat die Zuversicht des Frommen. Die Menschen wollten nun einen Gott individueller Zuwendung. Wenn das einer Schärfung des Individuums geschuldet war, müsste man es einen „Fortschritt“ nennen. Aber Fortschritte haben auch ihre Tücken. Einerseits konnte man dies als Befreiung aus einem unpersönlichen kosmischen Geschick verstehen, andererseits ist der damit verbundene Auszug aus einer strukturellen Geborgenheit und Sicherheit eine persönliche Zumutung und hat die Last erheblicher Verantwortung zur Folge. Deshalb suchte man den Zuspruch eines personal aufgefassten Gottes, dem man Prädikate zuschrieb, die man aus der Attributsammlung der Könige zur Verfügung hatte: Herr, Vater, Mutter, Zuflucht, guter Hirt.
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