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Zwischen Himmel und Hölle – der Streit um die Moderne
ОглавлениеVon den vielen Ingredienzien, die nun vorliegen, suchten sich die Populisten und Nationalisten von jeher leider immer die hässlichsten aus und fügten damit dem eigenen Volk viel Schaden zu. Wie verheerend ein Konflikt zwischen Moderne und engstirnigem Nationalismus ausarten kann, zeigt sich in der Geschichte Israels in erschütternder Weise. Die von den Nationalisten gebraute religiöse Ideologie des „auserwählten Volkes“ (man kann auch sagen: „Israel first“) kollidierte mit dem weltläufigen Zeitgeist des Hellenismus. Vorläufig mag es genügen, den Hellenismus als Ausdruck einer aufgeklärten globalisierten Welt der Antike und Spätantike zu verstehen und den Blick auf den Konflikt zu richten. Dieser Streit legte nämlich die Axt an das Land. Wie kam es dazu?
Der Wechsel von den Persern zu den Griechen blieb zunächst ohne nennenswerte Folgen. Erst nach dem Tod Alexanders des Großen 323 wurde Juda in die Diadochenkämpfe um Alexanders Nachfolge verstrickt, zumal es unglücklicherweise an den Grenzen der jeweiligen Einflusssphären lag. Die in Antiochien regierenden Seleukiden erhielten Mesopotamien und Syrien, die Ptolemäer regierten von Alexandrien aus. Die Herrschaft über Jerusalem wechselte mehrmals. Was trotz dieser politischen Wechselbäder erhalten blieb, war die Leitkultur der zeitgenössischen Moderne: die griechische Kultur. Die griechische Sprache war damals das, was heute das Englische ist. Man kam mit einigen Brocken Griechisch im ganzen Mittelmeerraum bis weit in den Orient durch die Hotels, Restaurants und Geschäfte. Es gab allerorten Bemühungen um einen freien Handel und Währungsharmonisierung. Alle großen Metropolen waren sich ähnlich in der Stadtanlage inklusive Konsum- und Unterhaltungssektor. Solche Entwicklungen führen in aller Regel zu einem großen Gewinn an Freiheit und Wohlstand und sind auch kulturell spannend. Überholte enge Weltbilder brechen auf, neue faszinierende Sichtweisen bereichern das Leben, wenn man sich auf das Fremde mit Neugierde und Entdeckergeist einlässt. Aber natürlich gibt es auch Verluste. Manche identitätsstiftenden Gewohnheiten verlieren ihre dominierende Stellung, was der Einzelne als Verlust oder auch Gewinn quittieren wird. In unserem Fall ging es nun konkret darum, wie weit man sich als Jude dem hellenistischen Internationalismus öffnen sollte. Den Juden in der Diaspora bereitete das wenig Kopfzerbrechen, denn weltläufig waren sie ohnehin. Dass es viele solche Diaspora-Juden gab, war ein Glück für die Kultur des Judentums. Eine bedeutende Frucht dieser Kulturkontakte war die Übertragung der hebrä-isch-aramäischen Bibel durch sprachkundige Juden ins Griechische. Dieses von den Ptolemäern angeregte und im weltoffenen Klima Alexandriens angesiedelte Projekt dauerte von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis gegen 100 v. Chr. Man nannte es Septuaginta (lat. siebzig) nach einer Legende, wonach 72 Gelehrte in 72 Tagen die Tora unabhängig voneinander übersetzt haben sollen und alle Übersetzungen identisch gewesen seien. Unter den zugrunde liegenden hebräischen Texten befanden sich einige apokryphe Schriften, die aus der jüdischen (masoretischen) Version entfernt worden waren, darunter das Buch der Weisheit mit seinen griechischen Einflüssen. Manche Zeilen dort könnten direkt aus den Schriften Platons abgeschrieben worden sein.
Bei dieser ersten großen Übersetzungsarbeit wurde nicht nur der Text in eine andere Sprache übertragen, sondern auch der kulturelle Kontext verändert. Das hatte erhebliche Auswirkungen auf die Gestalt der kulturellen Erzählung. Ein berühmtes Beispiel ist die Übersetzung von „junge Frau“ (almah) im Hebräischen in „Jungfrau“ (parthenos; Jes 7,14) im Griechischen. Das ist nicht einfach der Fehler eines nachlässigen Übersetzers, es ist eine Kulturverschiebung. Der griechisch gebildete Übersetzer konnte in einer Gottesmutter nur eine Jungfrau sehen, denn anders als die Ägypter schätzten die Griechen den Status der Jungfrau sehr hoch; alle großen Göttinnen waren Jungfrauen. Die Septuaginta spielte übrigens im Judentum selbst nur eine untergeordnete Rolle, auch weil das hellenistische Judentum praktisch bedeutungslos wurde. Umso wichtiger wurde das Werk für das Christentum.
Ähnlich wie in Ägypten verhielt es sich mit der jüdischen Kolonie im persischen Exil. Viele Juden hatten sich häuslich eingerichtet und fühlten sich in der fremden Kultur wohl, zumal das Exilland kulturell höher stand und politisch stärker und fortschrittlicher war als jenes, das sie hatten verlassen müssen. Andere vergruben sich hingegen in einem Haufen von Klagen über die verlorene Heimat und das Leben in der Fremde. Diese Klagen wurden als Ausdruck des Selbstmitleids eines vermeintlich unterdrückten und bestraften Volkes eifrig gesammelt. Man projizierte das Leid, ob tatsächlich so erlebt oder nur eingebildet, auf das gesamte Volk und das geschundene eigene Land. Eine solche Klage handelte vom leidenden Gottesknecht Israel, der aus seiner Schwäche Heil schafft, indem er stellvertretend die Leiden der Völker auf sich nimmt.18 Etliche theologische Theorien knüpften an dieser Umkehr der Rolle Israels an. Letztlich lässt sich die theologische Erzählung, die später auf den Juden Jesus von Nazareth projiziert wurde, als Echo der geschichtlichen Befindlichkeit des kleinen Israel im Konzert der großen und starken Mächte interpretieren.
Im Unterschied zum heutigen erzkonservativen Jerusalem, das überwiegend von religiösen Kernschichten bewohnt wird, prallten im Jerusalem von damals solche unterschiedlichen Haltungen unvermittelt aufeinander. In urbanen Zentren gibt es immer beide Gruppen: aufgeklärte und zukunftsoffene Bürger in der Nachbarschaft mit jenen, die am Status quo festhalten oder die Vergangenheit nostalgisch verklären. Auf die gebildetere Gesellschaftsschicht übte der Hellenismus mit seiner hochstehenden Kunst, Literatur, Philosophie große Anziehungskraft aus. Solche Faszination hat keineswegs zwangsläufig zur Folge, dass man die eigene Kultur nicht mehr schätzt, im Gegenteil: Erst mit dem Blick auf das andere werden auch Stärke und Originalität des Eigenen sichtbar, aber eben nicht mehr als einzige Sinngebung.
So sah das auch der in Alexandrien residierende König. Ptolemäus II. interessierte sich für die fremden Kulte, war daher den Juden gegenüber offen eingestellt. Er befreite Zehntausende jüdischer Sklaven und spendete für den Schmuck des Tempels. Er selbst war natürlich „Heide“ und veranstaltete Dionysos-Feste, bei denen er etwa einen 55 Meter langen Riesenphallus durch die Straßen tragen ließ.19 Dass dabei der Wein in Strömen floss, ist leicht vorzustellen. Man errichtete Gymnasien, pflegte Kunst und Wissenschaft ohne wie immer geartete Tabus, betrieb wirtschaftlich einen Merkantilismus und pflegte eine Symposiumskultur. Das Buch Kohelet des Alten Testaments mit seiner „weltoffenen Minimaltheologie“ (Othmar Keel) schildert dieses Multikulti-Milieu erstaunlich freundlich, vergisst darüber aber nicht, die sich aus reiner Konsum- und Spaß-kultur ergebende Leere und Orientierungslosigkeit zu beklagen: „Zur Belustigung hält man Mahlzeit, Wein erfreut das Leben und das Geld ermöglicht alles.“20 In diesem Buch findet sich auch der bekannte Spruch: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, und das ist delikat, denn ein solches Wort konterkariert die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, von der die Propheten landauf und landab predigten.
Zwischendurch brachte der Herrscher des Seleukidenreichs, Antiochos III., Jerusalem unter seine Hoheit. Er gewährte der Stadt eine weitgehende Selbstverwaltung unter dem Hohepriester Simon. Damit war Jerusalem eine Theokratie (so beschrieb bereits der um 37 n. Chr. in Jerusalem geborene römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus die Regierungsform) und der Hohepriester eine „Kombination aus Monarch, Papst und Ayatollah“,21 wie Simon Sebag Montefiore die Sache launisch zuspitzt. Mittelpunkt des öffentlichen Lebens war der Tempel als Sitz des Hohepriesters und des Rates, zugleich Höchstgericht (Sanhedrin). Nach Aussage der Autoren des Neuen Testaments war es dieser Sanhedrin, der gegen Jesus von Nazareth später die Anklage des Messiasanspruchs erhob, ein Todesurteil fällte und Jesus zur Vollstreckung desselben an den römischen Statthalter Pontius Pilatus übergab.
In den zahlreichen neuen Städten an der Küste bewohnte die Oberschicht ihre nach der neuesten Mode hellenistischer Architektur gebauten Villen. Es war geradezu ein Hype: „Fast täglich erhöhte sich in Jerusalem die Zahl der Menschen, die Griechisch lernten und griechische Umgangsformen annahmen.“22 Manch ein hellenismusfreundlicher Hohepriester wollte gar das Judentum „zeitgemäß“ machen. Bekannt geworden ist der um 175 v. Chr. amtierende Jason, der in Jerusalem ein Gymnasium eröffnete und die heilige Stadt in eine griechische Polis verwandeln wollte. Mit einem solchen Kosmopolitismus mutete er denjenigen, die an der vermeintlich glorreichen Vergangenheit hingen, freilich zu viel zu und rief den fanatischen Protest religiöser Fundamentalisten hervor. Und wie das meistens ist, kommen in solch heiklen Momenten zusätzlich noch ziemlich schräge Gestalten ins Spiel. So der als übergeschnappt verschriene Antiochos IV., der gerne als Römer verkleidet über die Plätze wandelte. Er bestrafte die Juden nach einem Aufstand, indem er die jüdischen Riten verbot, den Tempel mit Schweinefleisch anfüllen, eine Zeus-Statue aufstellen und ihn – wie einen alten Aphrodite-Tempel – als Bordell verwenden ließ. Viele Griechen und Römer hielten den Monotheismus für primitiv und machten sich über die vermeintliche Einfalt der Juden und später der Christen lustig. Vor allem mit den vielen Vorschriften und Tabus der Juden konnten sie nichts anfangen. Antiochos ging nun aber tatsächlich zu weit und die gesetzestreuen Anhänger der Religion ließen sich lieber töten als mit Schweinefleisch füttern. Der Hass der Nationalisten und religiösen Eiferer wuchs jedenfalls ins Unermessliche, was wiederum Folgen für die Theologie hatte. Den Aufklärern und Globalisierern wünschte man alles erdenkliche Unheil an den Leib und erfand für sie in dieser Zeit etwa die Hölle mit phantasievoller Möblierung. Der Satan wurde (erstmals: 1 Chr 21,1) ein eigenständiges Wesen, mit Namen ansprechbar. Vorher war die Satansfigur – so beschreibt das Othmar Keel – eine Art staatsanwaltliche Praxis am himmlischen Hof. Auch hier darf man die persischen Einflüsse nicht übersehen. Der strenge Dualismus von Gut und Böse, Licht und Dunkel hinterließ deutliche Spuren.
Den nach dem Priester Hasmon benannten Hasmonäern und den Makkabäern (nach dem Sohn des religiösen Eiferers und Hasmonäers Mattatias/Judas, dem man den Beinamen Makkabäus gab, nach makkab/Hammer) war das bloße Erdulden des provozierenden Frevels und das passive Martyrium zu wenig. Sie riefen zum bewaffneten Kampf auf, zumal das Seleukidenreich durch die andrängenden Parther und Römer an anderen Fronten bereits unter Druck war. Für diejenigen, die im Kampf gegen die Moderne den Tod erlitten, entwickelte man die neue Idee eines paradiesischen Himmels im Jenseits – was zugleich einen gerechten Ausgleich zur ewigen Verdammnis der Bösen darstellte. Die Vorstellung eines Fortlebens nach dem Tod ist altes orientalisches Gedankengut und floss in das Alte Testament aus dem Repertoire des Platonismus ein. Das veränderte die gesamte Religion, die ihre Diesseitsbezogenheit zu einem Jenseitsglauben wandelte. Mit dem Dualismus der persischen Kultur im Hintergrund wurde die Welt schlecht geredet und das zu erwartende Jenseits gut, wie herumziehende apokalyptische Heilsprediger auf den Stadtplätzen nun nicht müde wurden zu betonen. Himmel und Hölle waren im Grunde Geschichten im Echoraum des Streits um Moderne und Aufklärung.
Judas Makkabäus gelang schließlich die Eroberung Jerusalems. Er reinigte den Tempel von den buchstäblichen Schweinereien einschließlich eines Zeus-Altars und weihte ihn 164 v. Chr. neu, welches Ereignis die Juden im Chanukkafest bis heute feiern. Das Fest ist letztlich ein Protest gegen die Hellenisierung, allgemein gegen Moderne und Kosmopolitismus. Es folgte ein langes kriegerisches Ringen, in dem die mehrfach geschlagen scheinenden Makkabäer sich immer wieder erhoben und schließlich um 142 v. Chr. die Unabhängigkeit Jerusalems durchsetzen konnten. Sie führten das Land mit harter Hand und religiösem Eifer. Heiden und abtrünnige (also vor allem hellenistische) Israeliten wurden vertrieben oder ermordet. Es entstand ein ethnisch reiner jüdischer Staat. Die brutale Herrschaft wurde schließlich von der jüdischen Bevölkerung selbst beendet. Die Menschen wollten die alte Priesterherrschaft zurück und das Land den Römern unterstellen. 63 v. Chr. war es so weit. Judäa und Jerusalem kamen unter römische Herrschaft und erlebten ein unübersichtliches Jahrhundert mit vielen konkurrierenden religiösen Gruppen und starken apokalyptischen Stimmungen.