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Erlösung unten oder oben?
ОглавлениеDie zwei Pole, Erde und Himmel, um die sich die bisherigen Erzählungen rankten, gelten seit Jahrtausenden als Orte der Erlösung. Sie sind die perfekten Projektionsflächen für die Sehnsucht nach einem neuen Lebensabschnitt nach dem Tod. Die dominante Orientierung bildete zunächst die Erde. Das liegt auf der Hand angesichts dessen, dass sich genau dort über den Zyklus der Natur der Tod in neues Leben verwandelt. Zur Anlage von Grabstätten lotete man die Landschaft sorgsam aus, nicht ohne auch der Sonne und anderen Gestirnen die Reverenz zu erweisen. Immerhin setzte sich der Mensch nach bereits sehr früher Auffassung aus einem erdigen Körper und dem freien Flug von Gedanken, nennen wir ihn Geist oder Seele, zusammen. Geist und Seele galten als Atem einer Gottheit und dieser belebende Hauch besaß in aller Regel einen höheren Stellenwert als der verfallende Lehmklumpen des Körpers.
Grabanlage in Coddu Vecchiu (um 2200 v. Chr.), Sardinien
Lange vor der Entstehung von Dörfern und Städten stellte man also Markierungen für Bestattungsplätze in die Landschaft: Monolithe, Menhire, Dolmen, Steintürme. Es versteht sich von selbst, dass solch ein bis heute beeindruckender Aufwand nicht für Hinz und Kunz, sondern nur für den vornehmen Teil der Gesellschaft betrieben wurde. Die Markierungen konnten einzeln auftreten oder zu größeren, manchmal gigantischen Architekturanlagen zusammengefasst werden: Steinreihen und Steinkreise (allein in England zählt man etwa 700), Megalithtempel (der älteste vielleicht im anatolischen Göbekli Tepe, falls es sich überhaupt um eine Grabanlage handelte; dann folgen die Hypogäen auf dem maltesischen Archipel), einfache und schlichte Dolmen, kegelförmige Turmbauten auf Sardinien (Nuraghen), Korsika und in Süditalien (Trulli), deren genaue Funktion unklar ist.
Offenkundig handelt es sich um Bestattungsstätten der Erde, aber viele Anlagen haben darüber hinaus solare Bezüge. Besonders prominent stand etwa das zwischen 3000 und 2500 entstandene Stonehenge in der Spannung von Chthonischem und Solarem. Es war – so Frederik Adama van Scheltema – „eine dem unlösbar miteinander verknüpften Sonnen- und Erdkult geweihte Stätte“.6
Geradezu ein Schulbeispiel für die Verschiebung der kulturellen Erzählung hin zum Solaren ist die oben bereits angedeutete Entwicklung des Pyramidenbaus. Irgendwann kam man auf die Idee, die Mastabas, also jene Erdhügel, die den Ägyptern als Bestattungsorte dienten, übereinanderzustapeln. Der Erdhügel strebte sozusagen der Sonne entgegen. Umgesetzt hat dies in der dritten Dynastie unter König Djoser der Architekt und Hohepriester Imhotep, der später für diese epochale Leistung zum Gott erhoben wurde. Das Ergebnis, die erste Pyramide, die sogenannte Stufenpyramide von Sakkara, bildet eine dankbare Metapher einer Himmelstreppe, „um den Aufstieg der Seele des Königs in seinem Tod zu erleichtern“.7
Die Pyramide von Sakkara war noch in einer Süd-Nord-Achse ausgerichtet, hierin wohl dem Verlauf Ägyptens und des Nils folgend, also chthonisch. Schon bald aber änderte man beim Pyramidenbau die Achse nach Ost-West und markierte damit den Lauf der Sonne. Da Solarisierung immer auch einer Vergeistigung entspricht, war der nächste Schritt nur konsequent: die strenge Geometrisierung der Pyramide. Der bautechnische Weg zu den wie gigantische Land-Art-Projekte in der Landschaft stehenden geometrischen Körpern der Pyramiden von Giza war indes holprig. Die erste „echte“, nämlich geometrische Pyramide war die Rote Pyramide in Dahschur. Ihr mit einem relativ flachen Neigungswinkel von 43 Grad vorsichtig konstruierter Baukörper wurde mit rötlich schimmerndem Tura-Kalkstein verkleidet. Seine Vollendung erreichte dieser Typus um 2550 in der großen Pyramide des Cheops, Sohn des Snofru, in Giza. Knapp zweieinhalb Millionen Kalksteinblöcke wurden auf 146 Meter Höhe aufeinandergestapelt und glatt verkleidet, sodass die gesamte Anlage den Eindruck eines gigantischen Monolithen machte. Wie das in einer Zeit gelang, in der man noch nicht einmal das Rad kannte, ist immer noch ein Rätsel. Fest steht lediglich das schlichte Faktum, dass die Welt hier eines der gewaltigsten und zugleich einfachsten Bauwerke geschenkt bekam, ein schier unglaubliches Symbol von Dauer und Bestand, das sogar die Zeit das Fürchten lehrte, wie der jemenitische Historiker des 12. Jahrhunderts, Umara al-Yamani, es treffend ausdrückte.
Stufenpyramide des Djoser in Sakkara
Neben ihrer Funktion als Grabmal hatte die Pyramide selbstverständlich auch eine soziale und politische Komponente. Sie war das Symbol für den selbstbewussten ägyptischen Zentralstaat und ein offensichtlicher Ausdruck wirtschaftlicher Prosperität und kultureller Blüte. Das Zeigen von Macht und Selbstbewusstsein war und ist eine zentrale Funktion von Architektur. Das gilt von den riesigen Palästen der assyrischen Herrscher über die Hagia Sophia oder die Fethiye-Moschee in Istanbul, die gewaltigen romanischen Dome, die Peterskirche, die Renaissancepaläste italienischer Fürstengeschlechter mit ihren aufragenden Geschlechtertürmen, die Schlossanlagen des Barocks bis zu dem kurios-scheußlichen Palast, den sich der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan (sich über ein Bauverbot des obersten Verwaltungsgerichtes hinwegsetzend) in unseren Tagen errichtete.
In Ägypten hatte die Rückkehr zu einfacheren Grabbauten ab der 5. Dynastie mehr mit den begrenzten Ressourcen an Geld und Arbeitskraft zu tun als mit irgendwelchen theologischen Weichenstellungen. Solche gab es allerdings auch. Die Pyramiden wurden kleiner, die Tempel mit dem Sonnensymbol des Obelisken größer. Es scheint, dass die chthonische Seite vor dem Kult des täglich neu geborenen Sonnengottes zurückwich.
Im Neuen Reich verlieh in der 18. Dynastie Amenophis III. um 1370 v. Chr. der Hauptstadt Theben (Luxor) neuen Glanz. Dazu gehörte eine adäquate Grablege für die Könige. Auf der Westseite des Nils tat sich am Fuß des pyramidenförmigen Qurna-Berges, gleich hinter einer geheimnisvoll aufragenden Felswand, an die Mentuhotep II. um 2050 seinen Grabtempel gebaut hatte, ein Taleinschnitt auf. Dort schlug man lange und verzweigte Gänge in das Gestein. Man orientierte sich hier ganz offensichtlich wieder an der Erde. Betritt man diese Gräber, sieht man allerdings, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Denn man staunt dort über grandiose Malereien, die den Gang der Sonne in der Nacht darstellen. Die langen unterirdischen Korridore sind demnach Teil der Mythenerzählungen um die Sonne.
Vor der erwähnten Felswand, die das Tal der Könige nach Süden abschließt, stehen zwei Totentempel, die die Sonnenkonnotation deutlicher zum Ausdruck bringen. Neben dem leider weitgehend zerstörten Tempel Mentuhoteps (Tafel I) ist ein besonders reizvolles Kunstwerk praktisch vollständig auf uns gekommen: der Totentempel der Königin Hatschepsut.
Terrassentempel der Hatschepsut neben jenem des Mentuhotep II. in Deir el-Bahari, Luxor
Als Stiefmutter des noch minderjährigen Tuthmosis III. (um 1450) ließ sich die ehrgeizige Hatschepsut zum (männlichen!) König auf dem Horus-Thron ausrufen. Frauen waren in Ägypten grundsätzlich gleichberechtigt, übten Berufe aus und hatten hohe Stellungen in der Verwaltung inne. Das Königsamt war ihnen jedoch verwehrt. Aber der kleine Trick, dass Hatschepsut als Mann auftrat, reichte offenbar aus. Um ihre Legitimität noch etwas zu erhöhen und ihre enge Verbindung zu den Göttern zu demonstrieren, verbreitete sie die Geschichte einer göttlichen Empfängnis und ließ etliche Obelisken errichten (ein schöner wurde im Karnak-Tempel wieder aufgestellt). Das farbige Relief, das ihre Biographie als „Gottessohn“ schildert, ist im Tempel heute noch zu betrachten. Der junge Thutmosis III. scheint von all dem weniger beeindruckt gewesen zu sein, denn als er nach ihrem – ungeklärten! – Tod 1458 endlich die Regierung übernahm und als Erster den Pharaonentitel (altägypt. per-o/großes Haus, Residenz) beanspruchte, ließ er jede Erinnerung an seine Stiefmutter tilgen.
Aber für uns zählt vor allem, dass die Königin nicht nur große Reformen und eine kulturelle Blüte auf den Weg gebracht, sondern auch einen wunderbaren Totentempel hinterlassen hat. Ihr enger Vertrauter (und wohl auch Geliebter), Architekt Senenmut, entwarf eine offene terrassenförmige Anlage. Die Dynamik der langen Rampe, die als Prozessionsweg nach Karnak ausgerichtet wurde, und die Auflösung der megalithischen Masse durch ein horizontales System, das sich durch die Terrassen mit blühenden Gärten ergab, machen die Anlage zu einer der „bedeutendsten und eigenwilligsten Schöpfungen der ägyptischen Tempelarchitektur“8, meint Dieter Arnold.
Der Tempel der Hatschepsut liegt mitten in einem der größten Gräberfelder der Geschichte, mit Schwerpunkt im Tal der Könige und jenem der Königinnen. Zwei Steinkolosse, denen die Griechen den Namen Memnon gaben, bewachen (ursprünglich neben den mächtigen Eingangspylonen des nicht mehr erhaltenen Totentempels von Amenophis III.) diesen heiligen Bezirk seit Jahrtausenden, konnten aber Grabraub und Zerstörung nicht verhindern.
Schon in der Antike pilgerten Touristen zu den Königsgräbern und Tempeln und ritzten ihre Namen und mehr oder weniger originelle Sprüche in die Malereien. Dann kamen die Christen, vor allem die Mönche, die in den Wüsten Ägyptens ihre Einsiedeleien gründeten. Sie hausten in den langen Stollen der Gräber, in jenem von Ramses IV. gab es sogar eine Kirche. Die christlichen Einsiedler zerstörten einige Malereien, die ihnen nicht gefielen, und meißelten etliche Gesichter der „heidnischen Götzen“ aus, die sie ständig provozierend aus einer ganz anderen Welt anblickten. Später kamen die Muslime und setzten aus den gleichen Motiven das Zerstörungswerk an den alten Schätzen fort. In der Folge gerieten die Monumente Oberägyptens in Vergessenheit und es dauerte bis ins 17. Jahrhundert, bis Theben-West wiederentdeckt wurde. Die Nachrichten über die unglaublichen Funde lösten in ganz Europa wiederkehrende Ägyptomanien aus. Im 19. Jahrhundert machten sich seriöse und weniger seriöse Archäologen und Hobby-Ägyptologen, vor allem aus Italien, Frankreich und England, an die Arbeit und plünderten Ägypten. Für uns hat das den angenehmen Effekt, dass schöne und gut bestückte ägyptische Museen praktisch überall um die Ecke zu besuchen sind. Zum absoluten Highlight dieser Form der Aufarbeitung wurde die Entdeckung des unversehrten Grabes von Tutanchamun im November 1922 in Deir el-Bahari durch Howard Carter, dessen Wohnhaus man ganz in der Nähe besuchen kann. Carter war von George Edward Stanhope Molyneux Herbert, dem 5. Earl of Carnarvon (oder kurz und bündig: Lord Carnarvon), engagiert worden, um in den Besitz einer Grabungslizenz zu kommen. Der britische Snob, Liebhaber schneller Yachten, von Pferden und Autos hasste die kaltnassen britischen Winter und verbrachte sie lieber im milden Ägypten, wo er die Zeitgenossen mit einem wahrlich exklusiven Hobby zu beeindrucken suchte: der Schatzsuche. Doch fünf Jahre lang wühlte man erfolglos im Schutt der Wüste. Erst als Geld und Geduld des Earls aufgebraucht waren und die Suche vor dem Abbruch stand, kam es zur Sensation.
Heute ziehen Millionen von schwitzenden Touristen eine Spur der Verwüstung durch diese einmaligen Gräber. Dabei ist der Ausflug für die allermeisten Besucher ziemlich sinnlos. Selbst die wenigen, die mit einer gewissen Aufmerksamkeit zumindest die Schönheit der Malereien genießen, steigen verwirrt wieder in die klimatisierten Busse. Denn um die Fülle an Motiven und Gestalten, die einem in den langen Gängen begegnet, auch nur einigermaßen zu verstehen, müsste man tatsächlich einige Seminare im Fach Ägyptologie besucht haben. Ein bisschen mehr über die Probleme werde ich weiter unten noch erzählen.