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1EUROPA HAT EINEN MIGRATIONSHINTERGRUND
ОглавлениеEuropas Geschichte ist eine delikate Angelegenheit. Sie beginnt mit Ehebruch und Raub und einem wüsten Durcheinander in der familiären Beziehungskiste. Je weiter wir Europäer uns in unsere Familiengeschichte vertiefen, umso deutlicher wird, dass unsere Verwandtschaft weit in den Orient reicht. Das mag für viele erst mal eine irritierende Tatsache sein. Deshalb betrachten wir sie zunächst durch den Weichzeichner des Mythos. Der Mythos kann vieldeutig sein und Widersprüchliches dulden. Hier können wir uns die Dinge noch ein wenig aussuchen, was zweifellos praktisch ist.
Ich beginne mit einem jungen Mann namens Agenor. Er war ein Sohn des Poseidon und der Libye. Poseidon war der griechische Gott des Meeres, ein Bruder des Zeus, der wiederum den lichten Himmel und die feste Erde den dunklen Abgründen des Meeres vorgezogen hatte. Unsere mythische Erzählung spielt also in Griechenland, was ja durchaus beruhigend ist, denn Griechenland gehört unstreitig zu unserem europäischen Bildungsschatz. Wir befinden uns aber auch in direkter Nachbarschaft zum Orient und die Familienbande machen das gleich offenbar. Von Libye weiß man nicht allzu viel. Sie wird im Mythos als Tochter des ägyptischen Königs Epaphos gehandelt und gilt als Namenspatin des Landes Libyen. Sie gebar dem Poseidon neben Agenor noch die Lamia, die dann Königin von Libyen war, und den Belos. Bei der Namensgebung des Belos hatte sich das Paar vom alten orientalischen Gott Baal inspirieren lassen, jenem Gott, der im Alten Testament als Gegenspieler Jahwes auftaucht. Belos brachte es weit, er war König von Ägypten und Gründer von Babylon. Damit stand er am Anfang der beiden großen voreuropäischen Hochkulturen – eine tolle Sache, die nur im Mythos gelingen kann!
Dass ich Agenor kurz aus den Augen verlor, liegt an seiner Bescheidenheit. Ihm reichte das kleine Phönizien, wo er den Königsthron bestieg. Das Land war unscheinbar, lag dafür aber sehr günstig an der östlichen Mittelmeerküste. Dort bildete es eine Landbrücke zwischen Ägypten und Mesopotamien und hatte zugleich Zugang zum weiten Meer, die perfekte Verbindung zu den besten Handelsgebieten der damaligen Welt. Kein Mensch dachte daran, sich abzuschotten, Stacheldrahtverhaue und Mauern zu bauen. Man wollte Geld verdienen und war Fremden gegenüber aufgeschlossen. Dass man von anderen Kulturen viel lernen konnte, wussten die Phönizier nur allzu gut. Sie waren mit zwei großen Kulturgebieten und ihren Schriftsystemen vertraut, den (ägyptischen) Hieroglyphen und der (mesopotamischen) Keilschrift, die ungefähr zur gleichen Zeit irgendwann zwischen 3500 und 3200 v. Chr. erfunden wurden.
Die Leute um König Agenor sahen in der damaligen Globalisierung eine große Chance und nutzten sie beherzt. Die Phönizier bauten Schiffe, wurden geschickte Seefahrer, begnadete Kaufleute und internationale Netzwerker und damit unversehens Kulturvermittler im gesamten Mittelmeerraum, gleichsam ein Kollateralnutzen beim Geldverdienen. Ursprünglich nannte man sie Kanaanäer (von arab. qana/Handel treiben). Erst die Griechen gaben diesem Landstrich zwischen dem Aman-Gebirge im Norden und dem nördlichsten Zipfel des Sinai-Gebietes im Süden den Namen Phönizien. Er leitet sich ab von der Purpurschnecke und den purpurfarbenen Stoffen (griech. phoinix/rot, auch Dattelpalme), die von seinen Bewohnern um das gesamte Mittelmeer vertrieben wurden. Die Phönizier hatten sich in kleinen Königtümern und Stadtstaaten (Akko, Byblos, Sidon, Tyros) organisiert und es störte sie nicht, dass sie die meiste Zeit von starken auswärtigen Machthabern abhängig waren. Man beschäftigte sich mit Handel und Geldverdienen und scherte sich wenig um Politik. Wegen ihrer Geschäftstüchtigkeit sollen die Phönizier auch nur lausige Kunsthandwerker gewesen sein. Glaubt man allerdings der Auskunft des Alten Testaments, dann spielten phönizische Künstler beim Bau des salomonischen Tempels eine führende Rolle.
Dafür waren sie in anderer Hinsicht kreativ. Weil die beiden alten Schriftsysteme mit ihrem komplexen Bildcharakter für den täglichen Gebrauch und für das Geschäftsleben, auch in ihren kursiven Varianten, ungeeignet waren, erfanden sie das Alphabet! Aber der Reihe nach, ganz so einfach war die Sache nämlich nicht. Es dürfte zwischen 2000 und 1500 gewesen sein, als aus einigen ägyptischen Schriftzeichen, vermutlich bei Byblos, Buchstaben gebildet wurden. Gegen 800 fügten die Griechen in die damals noch linksläufige Konsonantenschrift Vokale ein. Ob die Schrift Ergebnis eines Trends war oder ob echte Erfinder dahintersteckten und ob diese Erfinder tatsächlich Phönizier waren, wissen wir nicht wirklich. Sicher ist jedoch, dass sich die Formen der Buchstaben an den ursprünglichen Bildern orientierten. Aleph/Alpha verweist auf das altsemitische Wort für Ochse (alf) und leitet sich vom umgekehrten gehörnten Rinderschädel ab, Bait/Beta verweist auf jenes für Haus (bait) und zeigt den einfachen Grundriss eines kleinen Zweizimmerhauses (genau übersetzt kann man für Alpha-Bet daher auch „Ochse-Haus“ sagen). Im īm/ǦGamma kann man einen Kamelhöcker (gamel/Kamel) erkennen, im Mü steckt die Wellenlinie des Wassers, im Nü die Bewegung einer Schlange. Das Prinzip, Buchstaben nach dem Gegenstand zu benennen, der mit diesem Buchstaben beginnt (griech. Akrophonie), funktioniert nicht immer. Erstaunlich ist jedoch, dass die meisten Buchstaben unseres Alphabets immer noch gleich aussehen wie vor knapp 4000 Jahren und dass wir noch immer die Anfangsbuchstaben arabischer bzw. semitischer Wörter verwenden. Wir müssen uns deshalb damit anfreunden, dass unser Alphabet, das uns so vertraut vorkommt, einen Migrationshintergrund hat. Ja mehr noch, in manchen Buchstaben verbergen sich ganze Geschichten. Das A stand ursprünglich für den Stier, das Symbol für Fruchtbarkeit, Macht und Männlichkeit. Der Querstrich, der zuerst die Hörner symbolisierte, rutschte dann nach unten und wurde zum Zeichen für das Joch. Damit war Schluss mit Macht und Männlichkeit. Denn die Geschichte des A erzählt, dass aus dem Stier ein Ochse wurde, das Tier des Ackerbaus und der Sesshaftigkeit.
Das war jetzt ein bisschen Geschichte, doch zurück in die Welt des Mythos. Über das einträgliche Exportgeschäft, von der Purpurschnecke bis zum Alphabet, herrschte nach mythischer Überlieferung also Agenor. Er hatte neben einigen Söhnen mit wohlklingenden Namen (einer von ihnen hieß Phönix) auch eine Tochter – ebenjene Europa, die uns hier interessiert. Endlich, werden Sie sagen! Aber auch hier müssen wir noch einen Augenblick innehalten. Denn nach einer anderen, vermutlich älteren Version dieser Erzählung war Phönix nicht der Bruder, sondern der Vater der Europa. Ich erwähne das nur deshalb, weil im Mythos nicht die Purpurschnecke, sondern der König Phönix dem Land seines Vaters den Namen verlieh: Phönizien. Natürlich ist es plausibel, darauf die Antwort des Mythos auf die historische Namensgebung durch die Griechen zu vermuten.
Wie viele junge Mädchen saß auch Europa gerne am sandigen Strand des Mittelmeers, genauer also: des phönizischen Meeres in der Nähe von Sidon oder Tyrus. Sie knabberte an ein paar Datteln und blickte verträumt über das blaue Meer mit seinen kleinen weißen Schaumkronen. Wohl kaum konnte sie sich vorstellen, dass weit weg, auf der gegenüberliegenden Seite, ein Landstrich lag, der einmal ihren Namen tragen sollte. Ihr Träumen war leichtsinnig, weil sich die griechischen Götter auf der anderen Seite des Ozeans nicht mit ihrem sonnigen Plätzchen am Olymp begnügten. So wurde Europa Opfer des berüchtigten Schürzenjägers Zeus, der sich in einen weißen Stier verwandelte und die Königstochter schwimmend nach Kreta entführte. Es ist von Belang, dass es sich hierbei nicht um den olympischen Zeus des griechischen Götterhimmels handelte, sondern um den kretischen Zeus. Denn das ist ein Unterschied! In Kreta besaß der spätere Himmelsgott noch eine gehörige Portion Bodenhaftung (man nennt das auch chthonisch von griech. chthonios/unterhalb der Erde, Unterwelt, während gaia für Erde reserviert war). Der Stier war in der kretischen Kultur ein Wasserwesen. Wasser gehörte nicht in die Gefilde des Himmels, sondern in die Region der Erde. Es war in der Geschichte der Religionen ganz generell ein gutes Stück Arbeit, die Gottheiten von der Erde in den Himmel zu hieven, also aus chthonischen Gottheiten himmlische zu machen, doch dazu kommen wir später.
Dieser schamlose Raub der Europa durch Zeus blieb nicht ohne Folgen. Der Verbindung entspross unter anderem Minos, der König von Kreta wurde. Nach ihm wurde später die erste große – wohlgemerkt vorgriechische! – Hochkultur auf Kreta und in der benachbarten Ägäis benannt, die minoische Kultur. Damit erzählt der Mythos von den Verbindungen zwischen Phöniziern und Kretern, was durchaus auf historischen Grundlagen beruht.
Als Erster erzählte uns Homer diese Geschichten in seinem großen Epos Ilias. Das ist freilich bereits eine ziemlich späte Version und deswegen entsprechend konstruiert. Man darf darüber räsonieren, was er uns also damit sagen wollte. Bei Hesiod, dem etwa zur gleichen Zeit dichtenden Bauern aus Askra in Böotien, klingt die Sache nämlich völlig anders. Bei ihm ist Europa (wie auch Asia) eine von sage und schreibe 3000 Töchtern des Okeanos und der Tethys. In weiteren Mythen in verschiedenen griechischen Gebieten taucht Europa teilweise sogar als Göttin auf (auch die Erd- und Getreidegöttin Demeter trägt ab und zu den Beinamen Europa).
Sie sehen, die Sache ist kompliziert, wie immer, wenn man sich im Mythos verheddert. Mythen sind konstruierte Erzählungen, die viele Interessen unter einen Hut bringen wollen. Sie sind das Ergebnis eines politischen Geschachers und durch den Vereinfachungsfleischwolf des Boulevards gedreht. Jeder kann sich das gerade Passende heraussuchen. Und genau das tun wir jetzt auch, indem wir den Kern der vor allem durch die spätere Verbreitung im Römischen Reich populär gewordenen Botschaft aufgreifen: Europa ist keine Europäerin, sondern die Tochter eines orientalischen Handelsmagnaten. Sie hat (außer dieser Tatsache) keinerlei geographischen Bezug, und die Art und Weise, wie sie auf den Kontinent (den wir heute als Europa bezeichnen) kam, war noch nicht die feine englische (und auch nicht die ebenfalls sehr feine orientalische) Art. Noch etwas Unerfreuliches kommt hinzu. Woher dieser Name stammte, was er bedeutete, wissen wir nicht. Eine Zeit lang vermutete man eine Ableitung aus dem phönizischen ereb, was so viel wie Dunkel und Abend (Sie hören schon das Abendland anklingen) bedeutet. Aber das wird heute eher bezweifelt. Und das ist auch besser so, denn wir wollen unsere Geschichte nicht gleich in der Abenddämmerung beginnen. Jedenfalls scheint es, dass auch den Griechen die ganze Problematik bewusst war, denn sie bemühten sich redlich, die Spuren des Orients zu verwischen und in allen Abstammungsgeschichten dem Griechischen ein entsprechendes Gewicht zu geben.