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Die Stadt als Abbild der göttlichen Ordnung
ОглавлениеDer nächste Schritt war also programmiert. Aus der Siedlung entwickelte sich die Stadt. Deren Geschichte hat Lewis Mumford treffend zwischen diesen beiden Eckpunkten verortet: „Am Anfang […] steht eine Stadt, die das Symbol einer Welt war. Es endet bei einer Welt, die in vieler Hinsicht eine Stadt geworden ist.“1 Zur Unterscheidung zwischen Siedlung und Stadt wurden ganze Kriterienkataloge ausgeheckt, die Einwohnerzahl, Stand der Arbeitsteilung und sozialen Differenzierung, Vielfalt der Bauwerke sowie die jeweilige Funktion als Zentralort für eine größere Gegend berücksichtigen.
Zunächst einmal scheint der Schritt von der Siedlung zur Stadt eine konsequente Folge der Verdichtung und der damit notwendig gewordenen Verwaltung des Lebens zu sein. Doch war die Stadt mehr als nur ein verdichteter Speicher- und Verarbeitungsplatz für agrarische Produkte, denn ihr kam – anders als einer bloßen Siedlung – immer eine eigene Würde zu. Ihre Gründung wurde (meist rückwirkend, weil es dafür ein höheres kulturelles Niveau brauchte als in den Gründungstagen) zu einem religiösen Stiftungsakt hochgerüstet. Jede Stadt der frühen Hochkulturen und noch der antiken Welt besaß eine eigene Gottheit, der der wichtigste Tempel geweiht war. Auf diese Gottheit wurden allerhand Geschichten projiziert, etwa dass sie den Fürsten und Königen die gewünschten Baupläne für Stadt und Tempel höchstpersönlich mitgeteilt hatte. Zudem übergab oder diktierte sie die Gesetze, nach denen die Stadt organisiert werden sollte. Das Gesetz der Stadt war ein göttliches Gesetz! „Ist es ein Gott oder irgendein Mensch, ihr Gastfreunde, der bei euch als Urheber eurer Gesetzgebung gilt?“, lässt Platon in seinem späten Werk Gesetze (Nomoi) den Gesprächsführer aus Athen die Gesprächspartner aus Sparta und Kreta fragen, und die beiden antworten brav: „Ein Gott Fremder, ein Gott […]?“.2 Die Gottheiten waren Ordnungsstifter, welche die Schadensmächte von den Städten fernhielten. Das Ordnungstiften im Auftrag der Götter war denn auch die vornehmste Aufgabe der Könige und Pharaonen und bot die Karrierechance, selbst in den Rang von Göttern erhoben zu werden.
Man hat das Dorf stärker mit der chthonischen Sphäre in Verbindung gebracht und die Stadt mit den astralen Gottheiten des Himmels. Tatsächlich waren im Dorf eher die einfachen Kulte anzutreffen, während in der Stadt die kulturellen Erzählungen anspruchsvoller wurden. Einerseits entstanden hier die religiösen Erzählungen der sie stiftenden Gottheiten – auch die drei großen monotheistischen Religionen sind Erfindungen der Stadt. Andererseits bildete die Kultur der Stadt einen fruchtbaren Boden für die kritische Vernunft und die Gedanken der Aufklärung, für Religionskritik und Atheismus, die sich früher oder später gegen den religiösen Stiftungsgedanken richteten. Insofern besaß die Gründung der Stadt von Anfang an hohes Konfliktpotenzial. Man könnte etwa die berühmte Geschichte in der Genesis so deuten, dass der Ackerbauer und Städtegründer Kain seinen Bruder, den Hirten Abel, tötete.
Weil die Stadt stets diese zwei Pole aufwies, wurden ihre intellektuellen Eliten auch stets dafür verurteilt, wenn sie von der ursprünglich religiösen Stiftungsidee abgedriftet waren. Diese Kritik an der (aufgeklärten) Stadt reicht von der Verfluchung Babylons in der Bibel bis zu 9/11 in New York. Dass die göttliche Stiftung in den Händen der Menschen manchmal autoritäre Züge annimmt, verleiht der Stadt eine weitere Ambivalenz, auf die Lewis Mumford anspielt: „Die Stadt hatte also eine despotische und eine göttliche Seite.“3
Das große Spektakel der Stadt begann mit den Sumerern – wenn es sie denn gab, denn um ihre Identität ranken sich einige Diskussionen. Ihre Spuren führen den archäologischen Fährtenleser bis nach Indien. Der Altorientalist Leonard Woolley nahm ihre Herkunft „aus den Bergen“4 an, was er nicht wirklich überzeugend damit begründete, dass auf ihren Stelen die Götter stets auf Bergen abgebildet sind.
Wenn es sie gab, wurden die Sumerer jedenfalls die Träger der ersten Hochkultur der Menschheitsgeschichte, als sie im 4. Jahrtausend in der mesopotamischen Ebene angekommen waren. Freilich ließen sich die glänzenden Städte des Orients nicht einfach aus dem Boden stampfen. Was man dafür vor allem brauchte, war ein fettes Konto. Die Mittel für Infrastruktur, Architektur, Kunst mussten erst erwirtschaftet werden. Die Cashcow der damaligen Zeit (und das blieb bis in die frühe europäische Neuzeit so) war die Landwirtschaft. Sie erzeugte Produkte über die eigenen Bedürfnisse hinaus, sodass mit den Waren gehandelt werden konnte. Damals wie heute war das Schmiermittel der Kultur der Handel, der im Alten Orient hauptsächlich mittels Schiffen auf den Flüssen stattfand, weil das Straßennetz schlecht ausgebaut war. Im Mittelalter waren es die Kathedralen, die in den aufkommenden Städten Europas aus dem Boden sprossen und mit ihren Türmen wahrlich an den Wolken kratzten, die Unsummen verschlangen. Und doch wurden sie aus einer ähnlichen Motivation gebaut wie die Tempel in den altorientalischen Städten: zur Verehrung der Götter und zum Ruhm der reichen Bauherren. Das markiert übrigens eine Konstante der Geschichte: Kulturelle Innovationen entstanden immer in der wirtschaftlich erfolgreichen Stadt. Geld allein garantiert zwar keine hochstehende Kultur, aber ohne Geld in der Kasse ist die Sache ganz aussichtslos. Auch die drei monotheistischen Religionen – und das sind komplexe und fortgeschrittene Erzählungen – sind Produkte einer wohlhabenden städtischen Kultur.
Die ersten Metropolen der Geschichte, die in der vor Hitze flirrenden Luft in den weiten Wüsten und Steppen auftauchten, waren Uruk, Ur, Eridu, Nippur, Kisch, Lagasch und Mari. Uruk hatte um das Jahr 3000 v. Chr. etwa 50 000 Einwohner, war also eine Megacity. Es gründete erstmals sogar Kolonien, so wie das später beinahe jede große Stadt der Antike unternahm. Guillermo Algaze unterstellte den Urukern, sie hätten einen regelrechten Exportschlager aus ihrem ersten Hauptstadt-Konzept gemacht und sprach von einem „Uruk World System“. Ob der Vorgang wirklich bewusst vor sich ging oder ob die Stadtkultur einfach so attraktiv war, dass sie zum großen Renner wurde, wissen wir nicht. Aber Uruk war in der Tat das Modell einer globalisierten Stadtstruktur, das man in der gesamten damals bekannten Welt tausendfach nachahmte und zu übertreffen versuchte.
Nach einer unruhigen Periode rivalisierender Stadtstaaten setzte sich ab dem 18. Jahrhundert v. Chr. das lange ein Mauerblümchendasein führende Babylon unter dem zupackenden König Hammurapi I. durch. Der Schwerpunkt der Kultur wanderte gen Norden und wir sprechen nunmehr von Babylonien. Es wurde, wie das zeitlich dazwischenliegende Akkad, im Unterschied zu Sumer von Semiten bewohnt. Diese erhielten ihren Namen erst im 18. Jahrhundert n. Chr. von einem deutschen Historiker. Er berief sich dabei auf den Sohn Noahs im Alten Testament namens Sem. Semitisch diente fortan als Bezeichnung einer afroasiatischen Sprachgruppe, zu der alle Nachkommen Abrahams (der wiederum der Enkel Sems war) gehörten: Araber, Amoriter, Babylonier, Akkader, Assyrer, Hebräer, Kanaaniter, Phönizier und etliche weitere Völker. Wenn von Antisemitismus gesprochen wird, meint man allerdings in der Regel Judenfeindschaft; man sieht, wie unscharf der Ausdruck eigentlich ist.
Die neue Prägung durch die Semiten spielte nur politisch eine Rolle, kulturell herrschte eher Konstanz. Die alten Gottheiten blieben mehr oder weniger im Amt, allenfalls wechselten sie die Funktionen und wurden durch neue ergänzt. Die sumerische Literatur pflegte man noch eine Weile und auch in der bildenden Kunst und Architektur lässt sich kaum ein Bruch feststellen.
Wer damals eine dieser Städte bereiste, sah bereits von Ferne einen gewaltigen künstlichen Berg (Zikkurat), der aus dem Tempelkomplex im Zentrum in die Höhe ragte. Der Ausdruck Tempel leitet sich vom griechischen temenos ab, was so viel wie „abgetrennt, ausgeschnitten“ bedeutet und den Sinn eines heiligen, vom profanen Leben abgesonderten Bereichs gut wiedergibt. Auf der Spitze des Tempelbergs, wo sich symbolisch Himmel und Erde trafen, stand ein kleiner Kultbau, in dem die Gottheit Wohnung bezog. Der Prototyp einer Zikkurat wurde in Ur erfunden. Die höchste dürfte mit 100 Metern in Babylon in den Himmel geragt haben. Es ist der berühmt-berüchtigte „Turmbau zu Babel“, von dem die Bibel so abschätzig spricht. Als Alexander der Große, nachdem er die Welt erobert hatte, Babylon zu seiner Residenzstadt machte, sah er in der Zikkurat nur mehr einen Steinbruch. Er ließ mit dem Material gleichsam in einem kulturellen Recycling ein Theater bauen. Schade, denn der Turm war ein spektakulärer architektonischer Fingerzeig nach oben, in dem sich eine kulturgeschichtliche Revolution verdichtete, nämlich die sukzessive Verlagerung der Götter in den Himmel. Davon soll im nächsten Abschnitt die Rede sein.
Der Tempel der Stadtgottheit bildete den Mittelpunkt der Stadt und stellte über die Zikkurat die Verbindung von Erde und Himmel sicher. Tempel wie Stadt waren gleichsam Abbilder des göttlichen Kosmos. Daher breitete sich Fassungslosigkeit aus immer dann, wenn so ein Abbild der göttlichen Ordnung, ja Wohnsitz der Gottheit, von Feinden ganz schnöde niedergebombt und niedergebrannt wurde. Denn Städte blühten nicht nur auf, sie gingen manchmal im Getümmel von Eroberungskriegen auch unter oder wurden verwüstet. Solcherart katastrophale Geschehnisse versuchte man in Klageliedern zu bewältigen, die ursprünglich Performances waren, die auf den Ruinen zerstörter Städte und Tempel öffentlich aufgeführt wurden. In aller Regel bediente man sich bei der Schilderung von Untergang und – vice versa – Wiederaufstieg der Vegetations-Metapher. Zerstörung ließ den Zyklus der Vegetation zusammenbrechen. So heißt es in den Prophezeiungen des Neferti aus der 12. Dynastie (um 1950 v. Chr.) in Ägypten: „Die Sonne ist verhüllt und strahlt nicht […]. Der Fluss von Ägypten ist ausgetrocknet, man überquert das Wasser zu Fuß, die Flut wird zum Ufer, das Ufer zur Flut. Der Südwind wird mit dem Nordwind streiten und der Himmel in einem einzigen Windsturm sein. […] Re wird sich von den Menschen trennen.“5 Umgekehrt sprießt die Vegetation, wenn die Gottheit in ihrem Tempel Sitz nimmt und mit ihr die göttliche Ordnung zurückkehrt: „Um dich herum läßt Ninazu die Pflanzen üppig wachsen“, hören wir in einem sumerischen Tempelhymnus.6
Eine zerstörte Stadt beschwört stets die Theodizee-Problematik herauf. Das ist die unangenehme Frage, warum der Stadtgott die Zerstörung nicht verhindern konnte – oder gar wollte. War der eigene Gott schwächer als der fremde, hatte man auf die falsche Gottheit gesetzt? Oder hatten die Bewohner die Vorschriften und Gesetze der Gottheit missachtet und wurden nun dafür bestraft? Als etwa die Westgoten unter Alarich im Jahr 410 n. Chr. Rom eroberten, war die gerade christlich gewordene Welt außer sich. Wie konnte es sein, dass die Stadt des Petrus, der Päpste und Märtyrer den unchristlichen barbarischen Wirtschaftsmigranten aus dem Norden nicht standhielt?
Doch kehren wir zunächst zurück nach Uruk. Die Stadt war durch eine mächtige mit 900 Wehrtürmen versehene Stadtmauer geschützt. Eine solche Mauer war mit großer Symbolik aufgeladen: Schutz, Abwehr böser Mächte, Trennung von Außen und Innen, Fremdem und Eigenem! Die Stadt war nicht nur eine Stiftung Gottes, sie sicherte die Identität des Eigenen. In der schlichtesten Form gelingt solche Identitätssicherung durch die Projektion jeder denkbaren Bedrohung auf das Fremde. Solche Funktionen erfüllen Mauern, Stacheldraht und Schlagbäume bis heute, wobei es vorwiegend um Symbolik geht, denn an der Sinnhaftigkeit solcher Abschottungen darf gezweifelt werden. Zudem kann man nur staunen, auf wie wenig Vertrauen in die eigene Gottheit derartige Projektionen schließen lassen. Groß ist offenbar die Angst, dass irgendwelche dahergelaufenen fremden Götter die eigenen verdrängen. Weil sich der eigene Gott selbst anscheinend nicht gegen den Ansturm des Fremden zur Wehr zu setzen vermag, muss die Politik für ihn einspringen und die Schotten dicht machen, Ordnung schaffen. Das war bereits im Alten Orient so.
Die Stadt lebte also aus der Ambivalenz ihrer pragmatischen Rolle als Speicherplatz und Verwaltungsort agrarischer Produkte auf der einen und ihres anspruchsvollen Selbstverständnisses als Ort der Kulturstiftung und der religiösen Ordnung auf der anderen Seite. Gerade bei den ersten Städten wurde klar, wie wenig dies ein Widerspruch ist.