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Die Wiege(n) der europäischen Kultur
ОглавлениеUm die Wiegen der europäischen Kultur zu zählen, braucht man keine allzu großen mathematischen Fertigkeiten. Denn eigentlich gibt es nur eine! Oder vielleicht doch zwei? Man kann sich in dieser Frage mit dem Bild behelfen, dass zwar zwei Wiegen angeschafft, aber nur in einer die neugeborene Kultur aufgepäppelt wurde. Es geht um Sumer und Iran! Die eine Wiege stand im Delta des Euphrat, im Schatt al-Arab, die andere im südlichen Iran, in der Ebene der Stadt Susa, die den Archäologen wegen ihrer wunderbaren Keramik schon seit frühester Zeit ein Begriff ist. Dort wohnten die Elamer, die eine Bilderschrift kannten und möglicherweise eine hohe Kultur besaßen. Dieses „möglicherweise“ rührt daher, dass wir weitgehend im Dunkeln tappen, was die früheste elamische Kunst und Architektur betrifft. Es scheint, dass diese Kultur relativ bald von der sumerischen aufgesogen wurde. Daher ist davon auszugehen, dass nur in einer der beiden Wiegen die europäische Kultur ihre erste orientalische Muttermilch erhielt. Allerdings tauchten die Elamer in der Geschichte des Alten Orients noch öfters auf und störten die Kreise des späteren Babylon mit lästiger Hartnäckigkeit immer wieder. Vorerst bleibt also offen, wer nun die Ersten waren: Elamer oder Sumerer. Die Wiege Europas, die zugleich die Wiege der menschlichen Kultur überhaupt ist, stand jedenfalls in jenen Gebieten, wo sich heute Irak und Iran ausdehnen.
Wie wir sahen, lieferten die Jahrtausende des Neolithikums eine große Menge von Bausteinen einer Kultur. Diese Bausteine ballten sich jetzt im Nahen und Mittleren Osten zu konsistenten kulturellen Erzählungen zusammen. Dies begann mit der Kultur der Sumerer, die im 4. Jahrtausend anhob und am Beginn des 3. Jahrtausends von den semitischen Akkadern abgelöst und weitergeführt wurde, bis nach diesem Zwischenspiel um 2100 v. Chr. der Aufstieg der Metropole Ur begann.
Wir befinden uns in einem großen, sowohl geographisch wie politisch schwer überschaubaren Gebiet, das die Wissenschaft als Alten Orient bezeichnet. Es reicht vom Mittelmeer bis nach Iran, wird im Norden vom Kaspischen und Schwarzen Meer sowie vom Kaukasus begrenzt, stößt im Südosten an den Indischen Ozean, dehnt sich im Süden bis in den Jemen und im Westen über das Rote Meer bis nach Ägypten aus. Es hat sich freilich eingebürgert, den Alten Orient auf Mesopotamien, Iran und Anatolien zu reduzieren weil sich die auf Ägypten spezialisierten Altorientalisten lieber Ägyptologen nennen und ihre Wissenschaft Ägyptologie. Daneben gibt es in der Altorientalistik noch andere Spezialgebiete wie die Sumerologie, Assyriologie, Hethitologie und einiges mehr. Ägypten, das um die Wende vom 4. ins 3. Jahrtausend (vermutlich infolge mesopotamischer Einflüsse) ruckartig aus der Steinzeit gerissen wurde, ist von Europa aus gut erreichbar und bietet eine gewaltige Fülle von Material, das sich im trockenen Wüstensand gut erhalten hat. Zudem haben die alten Ägypter im Unterschied zu den Mesopotamiern viel mit Stein gebaut. Vorteilhaft für das wissenschaftliche Verständnis ist auch, dass Ägypten geographisch wie kulturell ein einheitliches Gebiet darstellt, das sich an den Nil schmiegt. Denn das aus Ober- (Niltal) und Unterägypten (Mündungsdelta) bestehende Land war von schützenden Barrieren umgeben: dem Mittelmeer im Norden, der Wüste im Westen, dem Roten Meer im Osten und den damals unüberwindlichen Nilkatarakten im Süden.
Ganz anders als Ägypten war der Alte Orient im engeren Sinn, also Mesopotamien und Umgebung, eine weite offene Landschaft und damit eine Zone intensiver kultureller Kontakte. Schier unüberschaubar sind Kulturen und Völker, die sich in diesem Landstrich umarmten und bekriegten: Sumerer, Akkader, Babylonier, Elamer, Assyrer, Hethiter, Meder, Parther, Perser, Sasaniden und viele weitere ethnische Gruppen und Untergruppen. Anders auch als im durch heißes Wüstenklima geprägten Ägypten gab es im Alten Orient diverse Landschaftsformen: trockene Wüsten, Steppen, fruchtbare Flusslandschaften, Sümpfe, ausgeglichene Hochgebirgslagen. Mitten durch das Gebiet zieht sich der Fruchtbare Halbmond, in dem sich die Revolution der Sesshaftwerdung vollzog.
Der längere und sanftere Euphrat (2850 km) und der lebhafte kürzere Tigris (1950 km) umschlossen das Land, das schon die Assyrer wie später die Griechen als Land „zwischen den Flüssen“ (griech. meso-potamos) bezeichneten. Die Altorientalistin Astrid Nunn sah in unserer so unruhigen Kinderstube die Unruhe der vorderasiatischen Flüsse gespiegelt. Demgegenüber könnte die vergleichsweise von hoher Konstanz gekennzeichnete Kultur Ägyptens als Abbild des majestätisch fließenden Nils interpretiert werden. Es ist verführerisch, diesen Gedanken weiterzuspinnen: Wenn schon unsere Kinderstube so aussah, wen wundert es dann noch, dass dem europäischen Charakter beide Züge innewohnen: das Lebendige, ja Stürmende, und das Statische, wie wir es später in der Kultur von Byzanz und in den von den Philosophen erzählten Geschichten von einem großen versöhnenden System wiederfinden. In diesen philosophischen Systemen könnte man den letzten Rest der Paradieserzählungen sehen, die sich um das Idyll des Fruchtbaren Halbmonds rankten. Wäre es so, dann hätte die Geschichte vom Paradies die kulturellen Erzählungen Europas ständig begleitet. Wir finden sie als Spielarten der philosophischen Systeme, in Stadtutopien oder in der Vorstellung einer glücklichen klassenlosen Gesellschaft, wie Karl Marx sie hegte.
Blick auf den Euphrat bei Halabiya (dem antiken Zenobia), Syrien
Die Realität des Lebens war jedoch schon im Alten Orient eine andere. Vor allem im südlichen Teil, wo die Regenmengen nicht zur Bewässerung ausreichten und die Böden versalzten, mussten die Menschen zu technischen Hilfsmitteln greifen und künstliche Bewässerungen schaffen. Das paradiesische Schlaraffenland und die Mühe der schweißtreibenden Arbeit lagen nahe beieinander, gerade so wie die Erzählungen vom Paradies und der Vertreibung daraus es uns berichten.
Ganz anders verhielt es sich mit der Lebensader Ägyptens. Einmal im Jahr, zwischen Juni und September, lassen heftige Monsunregen in Zentralafrika den 6671 Kilometer langen Nil bis zu sieben Meter anschwellen. Dabei überschwemmte der Fluss weite Teile des Landes und lagerte fruchtbare Tonerde ab, die als Dünger wirkte und später die frische Saat hervorragend gedeihen ließ. Die Ägypter waren ihrem Fluss dafür dankbar, dass er ihnen regelmäßig Leben spendete. Sie verehrten diese Flut als Hapi, eine schwangere Gottheit mit großen Brüsten und meist mit einem Papyrusbüschel dargestellt. Der Papyrus wucherte vor allem im nassen Boden des Deltas. Seit 1971 wird diese jährliche Flut durch den Staudamm in Assuan gestoppt. Aus den wertvollen Sedimenten fabriziert man heute Tonziegel, während man die Felder mit Kunstdünger eindeckt.