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II. Rechtliche Natur des diplomatischen Schutzes
ОглавлениеDie rechtliche Natur des diplomatischen Schutzes ist insbesondere in der neueren Völkerrechtslehre umstritten.
Nach der traditionellen und bis heute herrschenden Auffassung wird das Individuum (jedenfalls im Grundsatz) nicht als Träger subjektiver Rechte anerkannt, sondern ausschließlich als Objekt der Völkerrechtsordnung (→ Individuum, Rechtsstellung). Ein Völkerrechtsverstoß, den ein Staat in Bezug auf einen fremden Staatsangehörigen begeht, wird deshalb in der Regel nicht als Verstoß gegen im Völkerrecht begründete Rechte des Individuums angesehen, sondern als Verletzung der Rechte des Heimatstaates. Bei der Ausübung diplomatischen Schutzes handelt es sich folglich um ein originäres Recht des Staates. Dieser Ansicht folgten sowohl der StIGH im sog. Mavrommatis-Fall (Mavrommatis Palestine Concessions [Greece v. United Kingdom], PCIJ Ser. A, No. 2 (1924), 12) als auch der → IGH im Nottebohm-Fall (Nottebohm Case [Liechtenstein v. Guatemala], ICJ Reports 1955, 4).
An der tradierten Vorstellung wird seit geraumer Zeit Kritik geübt. Der Grund hierfür ist, dass das moderne Völkerrecht in zunehmendem Maße Individuen eigene Rechtspositionen einräumt, insbesondere in menschenrechtlichen Verträgen (→ Menschenrechte, allg.). Während das Völkerrecht in früherer Zeit dem Einzelnen keine Rechte zuerkannte und die Ausübung diplomatischen Schutzes dogmatisch somit nur durch die Mediatisierung des Individuums erklärt werden konnte, ist diese Notwendigkeit angesichts der gestärkten Rechtsstellung des Individuums nach einer im Vordringen begriffenen Ansicht mittlerweile entfallen. Daher sei zumindest in all denjenigen Fällen, in denen ein Staat gegen eine Rechtsnorm verstößt, die gerade dem Individuum Rechte verleihen soll, davon auszugehen, dass der Heimatstaat des Betroffenen bei der Ausübung diplomatischen Schutzes ein Recht seines Staatsangehörigen in Prozessstandschaft wahrnehme. Diese Auffassung kann sich u. a. auf die Aussage des IGH im LaGrand-Fall (LaGrand Case [Germany v. USA], ICJ Reports 2001, 446) stützen, wonach Art. 36 Abs. 1 b) WÜK ein eigenes Recht des Beschuldigten darstellt.
Praktisch relevant werden die unterschiedlichen Auffassungen insbesondere bei der Frage, wer auf das Recht des diplomatischen Schutzes verzichten kann. Geht man davon aus, dass der Heimatstaat bei der Gewährung diplomatischen Schutzes ein eigenes Recht wahrnimmt, kann auch nur der Heimatstaat auf dieses Recht wirksam verzichten. Sollten sich z. B. ein Gaststaat und ein ausländischer Investor darauf geeinigt haben, dass der private Vertragspartner auf diplomatischen Schutz durch seinen Heimatstaat verzichtet (sog. Calvo-Klausel, → Fremdenrecht, völkergewohnheitsrechtliches), könnte diese Vereinbarung dem Heimatstaat des Investors nicht entgegengehalten werden. Nimmt man hingegen an, der Heimatstaat mache nur ein Recht seines Staatsangehörigen in Prozessstandschaft geltend, dann wäre ein Verzicht durch den Staatsangehörigen grundsätzlich möglich.