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Das Dorf war ein Wunder an Widersprüchen. GOtt wusste alles. Daran gab es keinen Zweifel. Wenn Menschen etwas nicht wussten, dann wusste GOtt, warum die Menschen etwas nicht wussten. Aber das Nicht-Wissen des Dorfes war dem Nicht-Wissen der umliegenden Ortschaften überlegen. Denn diese umliegenden Ortschaften hatten eine andere Verbindung zu Gott, wenn sie überhaupt eine hatten. Nur im Dorf hatte man die richtige Verbindung zu GOtt. Deshalb lebten die Menschen hier – weil sie fest standen in ihrem Glauben. Sie dienten GOtt so, wie ER es die Menschen gelehrt hatte. Dass die Verbindung des Dorfes zu GOtt anderen Verbindungen zu GOtt, womöglich zu anderen Göttern, vielleicht zu Allah oder zu Buddha, noch weiter überlegen war, verstand sich von selbst. Deshalb wurde großzügig und oft für die Heidenmission geopfert. Es wurde nicht nur Geld geopfert. Manche im Dorf fühlten sich berufen, ihr Leben der Mission zu opfern. Sie zogen mit ihren Frauen, denn meist waren es Männer, die sich zu diesem Dienst berufen fühlten, und mit ihren Kindern nach Gambia und nach Alaska, nach Ghana und nach Guyana. Nur nach Israel zogen sie nicht. Denn die Juden waren das von GOtt auserwählte Volk. Sie waren SEin Volk. Egal, was man in der Gemeinde tat, man würde nie so auserkoren sein, wie es die Juden waren. Aber GOtt stellte einen jeden an seinen Ort und gab einem jeden seine Aufgabe. So hoch wie der Himmel über der Erde war, so hoch waren SEine Gedanken über ihren Gedanken.

Johannes und Rahel zogen abwechselnd an der Zigarette und fühlten sich der Überlegenheit des Dorfes, die nichts war als Einbildung und Beschränkung, überlegen. Sie sahen, was das Dorf nicht sah. Das Vorurteil im Dorf. Die Herablassung im Dorf. Die Eitelkeit im Dorf. Und indem sie Vorurteil, Herablassung und Eitelkeit im Dorf sahen, konnten sie sich dem Dorf überlegen fühlen. Sie wussten, sie hatten keine Vorurteile. Sie waren offen für die Welt und für alle Religionen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wäre das sonntägliche Opfer aus dem Betsaal direkt der Romafamilie im Nachbardorf übergeben worden. Ohne dass man sie zuerst hätte missionieren und taufen müssen.

Und trotzdem hielt sich das Dorf für wohltätig. Das Dorf lebte der Nächstenliebe. Die Einwohner glaubten an ihre Nächstenliebe. »Das ist«, sagte Rahel, »Wohltätigkeit und Hochmut in selbstgerechter Mischung.« Sie sagte: »Das ist christlicher Snobismus.«

Rahels Großvater war aufs Stift gegangen. Also kannte auch ihr Vater, der Zahnarzt, die Namen Barth und Buber und Bonhoeffer und Kierkegaard. Er konnte von Diesseitigkeit und Mündigkeit und Daseinsangst und Zwiegespräch und Gebet und Dialektik reden. Nicht von ungefähr hatte er, als ihm die Zahnarztstelle im Dorf angeboten wurde, zugesagt. Er hatte sich berufen gefühlt. »Das ist der Ort, den ER mir zuwies.«

Rahel sagte: »Bei ihm weiß ich nie, ob er von innen heraus glaubt oder ob er sich von außen zuschaut und gern glauben würde.«

Johannes sagte: »Ist nicht beides gleichzeitig möglich?«

Rahel sagte: »Trotzdem ist der Stiftsstolz nichts als peinlich. Als ob die Stiftler die Aristokratie der Welt wären. Wer dazugehört, bildet sich darauf wunder was ein.«

»Dabei hätte es dein Vater gar nicht nötig.«

Die Zigarette war zu Ende. Sie warfen sie vom Jägerstand und stiegen die Leiter hinunter. Unten spuckten sie auf die Erde, weil es sich gut anfühlte, auszuspucken. Denn das Ausspucken fühlte sich wie eine Sünde an. Es war eine Sünde wie das Kauen mit offenem Mund, das Furzen beim Essen, das Rülpsen in der Kirche und das Rauchen von Zigaretten. Sünde über Sünde. Alles, was Innen und Außen überraschend verband und zu einem Gefühl der Erleichterung führte, war eine Sünde. So war das. Und deshalb spuckten sie gleich noch einmal auf den Fichtennadelboden des Hohen Waldes. »Sodom und Gomorrha.« »Ernte 23.« »Spitz auf Knopf.« »Fick dich ins Knie.«

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