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Es war das erste Mal, dass die Klassenlehrerin den Vater dazu überreden konnte, Miriam mitfahren zu lassen. »Wir passen auf sie auf.«

Mädchen schliefen auf dem Stock der Klassenlehrerin. Jungen schliefen einen Stock tiefer. Abends, nach dem Abendessen, in den Stunden, bevor es hieß, »Ab elf ist absolute Bettruhe«, wurde gesungen.

Sang Miriam mit? Er erinnerte sich nicht. Er erinnerte sich nur an die Refrains, die sie grölten und die er mitgrölte, als wäre er so bereit für die Welt und bereit fürs Leben – viel bereiter, als man es in diesem Dorf je werden konnte.

Dieses Singen kribbelte. Dieses Singen hatte etwas in sich. Dieses Singen ließ den ganzen Raum erzittern. Letztes Jahr hatten sie noch vom Frühtau zu Berge und von Jan und Klaas und Hein und Pits Bärten gesungen. Das war aber nichts als langweilig gegen die Lieder, die sie jetzt sangen.

Die Schwester biss sich auf die Lippen. Sie lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. Es gab auch andere Mädchen. Regina und Waltraud und Beate und Angela und Eva und Ulrike und Marieluise. Sie hießen Giggi und Waldi und Ati und Angie und Evi und Uli und Lulu. Dass Miriam Kussi hieß, war seine schuld. Es blieben die Namen hängen, die die größte Peinlichkeit verursachten.

Kuss und Kussi.

Die Klassenlehrerin lachte. Und die Klassenlehrerin sang mit. Lange, rote Haare hatte sie. »Fettarsch«, war einer der Namen für sie, der im ersten Stock, nachdem die Mädchen und sie in den zweiten hinaufgestiegen waren, gesagt wurde. »Feuerwehr.« »Fettarsch.« »Ferkelfiedla.«

In den Liedern, die sie sangen, bevor die Mädchen und die Lehrerin hinaufstiegen, »Licht aus jetzt!«, schliefen Mädchen. Sie schliefen so gut, dass sie, nachdem sie geschlafen hatten, schwanger waren.

Die Jungen sangen: »Einst ging ich am Ufer der Donau entlang.« Alle Jungen waren ein Ich. »Ein schlafendes Mädchen im Grase ich fand.«

Es kam der Refrain, den Mädchen und Jungen gemeinsam sangen: »O-oh, oh, oh-la-la-la.«

Dann kamen die Mädchen an die Reihe: »Du schamloser Jüngling, was hast du gemacht? Du hast mich im Schlafe zur Mutter gemacht.« Die Mädchen waren auch alle zusammen ein Ich. Dass dieses Ich wach sein könnte, wenn es ums Mutterwerden ging, war unvorstellbar. Johannes blickte nicht hinüber zu Miriam. Sie saß auf der anderen Seite.

»Du schamloser Jüngling, was hast du gemacht?«

»O-oh, oh, oh-la-la-la.«

Die Mädchen waren gar kein Ich. Sie waren ein Mich. Im Schlafe wurde das Mich zur Mutter gemacht. Am Wasser wurde das Mich zur Mutter gemacht.

Er spürte ein Kitzeln, als er die Lieder sang. Es kitzelte, weil er jetzt zur Welt gehörte. Da sang er noch lauter. Solange er sang, passierte nichts. Solange er sang, konnte ihm die Sünde nichts anhaben. Solange er sang, kam er der großen Welt, der Welt, die außerhalb des Dorfes existierte, näher.

Vor dem Haus wurde geraucht. Den Zigarettenrauch saugte Johannes in sich ein wie ein Stück Männlichkeit, von dem er ein Leben lang zehren wollte.

»Kennst du den schon? ›Frau, ich kann dir nicht zusehen, wie schwer du arbeitest. Mach bitte die Küchentür zu.‹«

»Der ist gut. Aber der auch: ›Was ist los, wenn die Frau in der Stube sitzt?‹ ›Dann ist die Leine zu lang.‹«

»Und hör dir den an: ›Was ist los, wenn die Frau die Fernbedienung in der Hand hat?‹ ›Dann ist sie fehl am Platz.‹«

Das Lachen und den Rauch saugte Johannes ein in sich.

O Susanna, du hast am Arsch ’nen Leberfleck. Der Leberfleck muss weg.

Sie sangen vom Lieschen, Lieschen, Lieschen, das ein bisschen, bisschen, bisschen kommen sollte – in den Keller, da ging es schneller, in die Scheuer, da war’s nicht teuer, in den Garten, da gab’s kein Warten, auf die Leiter, da ging es leichter, in das Gartenhaus, da zog man sich aus.

Alles reimte sich. Alles konnte gegrölt werden. So wie früher, früher, früher. Auch da war die Melodie einfach. Ohne Hemd und ohne Höschen, ohne Gummiüberzieher.

Es war das große ES. Alles war, wie es sein sollte. Und Kuss und Kussi gehörten dazu, weil sie dazugehören wollten. Die Welt war nicht nur ein Dorf. Die Welt war viel größer. Das erlebten sie jetzt.

Und einmal war da nach dem Singen, bevor man dann, »Licht aus jetzt!«, hinaufging, das Mondnachtspiel, bei dem die anderen bestimmen durften, was das durchs Los bestimmte Liebespärchen auf der Parkbank im Mondschein tun sollte. »Ihr den Arm um die Schulter legen.« »Den Kopf von unten an seinen Nacken legen.« »Ihn von unten herauf mit Glubschaugen angucken.« »Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und küsst sie auf die Stirn.«

Miriam traf es zum Glück nie. Aber Johannes saß neben der lispelnden Angela, der Tochter des Briefträgers. Angela schaute ihn an. »Angela, sag mal süße Sahne«, dachte er. Aber das sagte er nicht. Er küsste sie auf die Stirn. Er spürte sie. Er spürte, wie ihr Herz klopfte. Er spürte, wie sie sich gern heranziehen ließ. Am nächsten Tag machten sie sogar einen Spaziergang zusammen. Ohne die anderen. In der Abendluft in den Bergen. Sie hielten sogar die Hände. Silbern waren die Härchen an ihrer Stirn. Das gefiel ihm. Und groß waren ihre Augen. Sie schauten sich lang an. Und sie spürten einander. Wie weich sie beide waren. Gern. Miteinander.

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