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»Das Engelein aus Himmelreich«, nannten sie sie. Und »Kussi«. Kam sie von der Schule nach Hause, setzte sie sich ans Klavier. Sie spielte schottische Tänze, spielte White Sunday, spielte Jazziges, das aus den USA kam, dann Mendelssohn und Schumann und vielleicht noch Mozart und Beethoven. Es war eine Weltreise, die sie unternahm, wenn sie aus dem Gefängnis, das die Schule war, kam. »Kussi, das Engelein aus Himmelreich.« Das war sie. Sie wurde sich fremd in ihren Namen.

Nachdem sie sich durch die Welt gespielt hatte, war sie bereit für Bach. Da, wo vorher ein Kampf war, war jetzt ein Heimkommen. Alles ging in einem großen Zuhause auf. In Pulsschlägen. In Enden und Anfängen. Es hätte keine größere Überwindung geben können als die, die Miriam zwischen Schule und Bach geschehen ließ. Von Osmose, Photosynthese, Weltraum und Cape Canaveral, die gelernt werden mussten, von Kussi und Engelein aus Himmelreich hin zu weichen Herzschlägen und Schöpfungen, die ihr geschahen.

Manchmal, abends, spielte sie ein paar Takte und fragte ihn: »Weißt du, wer das ist?« Liszt, riet er, und Moreau Gottschalk. Es gab eine Nähe, wenn er einen Namen erriet. Bei Liszt die B-Moll Sonate – das zögerliche Anklopfen, das diese Musik war.

Manchmal improvisierte sie. Dann konnte er ihr stundenlang zuhören. Es gab dann kein Moll oder Dur mehr. Es gab Herzschläge. Es gab Töne, die eine eigene Sprache waren. Es berührte ihn, wenn sie so spielte. Der Taumel. Der Schwindel. Das Hinaufgehobenwerden. Das Atemholen. Der Junge und das Mädchen. Im Atmen, im Hören. Alles war ein Jetzt. Ein Jetzt der Harmonien, die sich suchten und fanden. In Körpern. Im Atmen. Im Schweben. Hier war der Rhythmus, hier war das Schweben. Hier war der Herzschlag ein grenzenloses Dürfen. Sie spürten es. Jeder für sich. Und gemeinsam. Sie gehörten dazu. Sie gehörten zueinander. Sie gehörten zum großen Atmen im großen Rhythmus. Es war ein Hören, ein Schweben, ein Vorwärtstreiben. In der Musik gab es keine Mutter und keinen Vater; es gab keinen Bruder und keine Schwester; es gab nur ein Fühlen, ein Schweben und ein Zusammensein. Etwas Tiefes verband den Jungen und das Mädchen. Es verband sie miteinander und mit den anderen Menschen der Welt. Das spürten sie. Etwas Tiefes, das von allen Menschen kam, war in ihrem Spielen – in ihrem Atmen, in ihrem Hören, in ihren Herzschlägen. Sie war Teil von allem. Allein und mit den anderen. Getragen. Gehoben. Im Suchen. Im Finden. Im Fallen. Das Spielen, der Atem, das Jetzt – augenlos, mundlos, ohrenlos, sinnlos. Sie war Bruder und Schwester. Mit allen anderen. Vereint. Im Großen. Es war Liebe, in der Freude lag. Er spürte sie. In sich. Die Liebe. Sie war Junge. Sie war Mädchen. Die Seele war eins. Die Seele war groß. In den Tönen. Im Segen. Johannes und Miriam. Sie waren allein und mit den anderen. Sie waren Kinder. Sie waren Atem, zahlloser Atem. Es war ein eigenes Leben. In den Tönen, die durch sie gingen. Und sie aufhoben. In sich. In ihr. In ihm.

Wenn sie spielte, fielen ihr die Haare über die Schulter. Dort lebten sie – in den Phantasien, in den Tokkaten, in den Liedern. Da spielten sie gemeinsam, wenn sie spielte. Sie im Spielen, er im Hören. Es waren die Bewegungen zweier Körper. Gebend und nehmend. Schenkend und empfangend. Tief atmend, tief schlagend, nahe und doch fern. Der heilige Hals der treibenden Töne.

Sie spielte Brahms. Es-Dur. Es begann dunkel zu werden. Es gab einen Ländlerrhythmus. Es gab Dezimensprünge. Es gab ein Schluchzen. Und dann leuchtete alles doch noch einmal neu und traurig auf. Die Haare. Es war der Tanz der Kindheit, die am Vergehen war.

Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das sagte, ich wäre lieber Nacht. Sie stand auf. Es war Sommer, als sie so dastand, das Fenster hinter ihr offen, der Vorhang wehte. Gehen Alche. Arlorn.

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