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Lineares vs. nichtlineares Schreiben
ОглавлениеEin Beispiel:
Ihr Protagonist besucht einen Trödelmarkt. Nach dem Konzept des »in medias res« (lateinisch für »mittendrin«) empfiehlt es sich bereits auf dem Trödelmarkt anzufangen, wenn nicht Geschehnisse auf dem Hinweg zum Trödelmarkt Auswirkungen auf den Besuch des Trödelmarktes haben. Wie z. B., dass dieser um 17.00 Uhr schließt und unser Protagonist unbedingt ein Kleinod auf diesem erwerben möchte, jedoch erst den Schlüssel nicht findet, dadurch den Bus verpasst, sich entschließt zur nächsten Haltestelle zu gehen, während der nächste Bus an ihm vorbeifährt und bereits der Hinweg zu einer Tortur wird, was, als er den Trödelmarkt endlich erreicht und der Händler bereits dabei ist seinen Stand zu verräumen, dem letztendlichen Erlangen des Kleinods ein viel größeres Gewicht gibt oder eben ein viel tieferer Fall, wenn unser Protagonist schlussendlich am leeren Platz ankommt.
Die Möglichkeit, dass er gar nicht am Trödelmarkt ankommt, ist jedoch bereits ausgeschlossen. Selbstverständlich lassen sich innovative Lösungen finden, ihn am Erreichen dessen zu hindern, doch wenn ich bereits in meinem Kopf festgelegt habe, dass er ankommt, bleibt mir A die Möglichkeit es herauszuzögern, wobei Fingerspitzengefühl gefragt ist, um die Aufmerksamkeit des Lesers nicht zu verlieren, oder B direkt in medias res zu beginnen. Sobald ein Ziel feststeht, gilt es im Allgemeinen, dies so schnell wie möglich zu erreichen und ich vermute Sie haben selbst schon einmal eine Geschichte gelesen, bei der sie am liebsten ein paar Seiten vorgeblättert hätten, eben weil der Autor daran gescheitert ist, den Weg interessant zu gestalten. Damit dies Ihnen als Autor nicht widerfährt, empfiehlt sich der Ansatz des Rewrite und gleichermaßen das lineare Schreiben.
Dabei konstruieren wir ein Skelett, anstatt es anhand von Eckpfeilern zu rekonstruieren. Dies hat zur Folge, dass bereits nach der ersten Schreibphase, wenn auch noch etwas grobmotorisch, nicht nur ein Skelett entsteht, sondern dieses hier und da bereits mit Lagen versehen wurde. Nun fangen wir wieder von vorne an und korrigieren einzelne Gelenke bis unsere Geschichte zumindest schon einmal laufen lernt. Eben wie der Bildhauer, der aus dem Block Marmor erst die Grundform schlägt, um dann wieder von vorne anzufangen und so nach und nach z. B. menschliche Züge zu erlangen und je öfter er diesen Prozess wiederholt, desto näher kommt er dem Detail und desto geringer wird die Anzahl der Änderungen, die er vornehmen muss.
Nun besteht natürlich bei diesem Ansatz das Risiko, dass sich die Grundform im Nachhinein nicht mehr verändern lässt. Das heißt aus der Grundform des Menschen, lässt sich schwer ein Wolf hauen oder eben aus der Grundform des Liebesspieles schwer ein Krimi schreiben. Doch auch wenn Sie sich dazu entschließen, dass Sie doch lieber einen Krimi schreiben wollen, so haben Sie bereits das Liebesspiel geschrieben und können jederzeit nach Lust und Laune darauf zurückgreifen, um es zu überarbeiten. Wenn Sie jedoch für Ihr Liebesspiel beispielsweise erst Anfang, Mitte und Ende festgelegt haben, bleiben diese Bruchstücke einer Geschichte. Ideen. Lose Skizzen, die sich vielleicht in anderer Art & Weise verarbeiten lassen, Sie jedoch in den seltensten Fällen Ihrer vollständigen Geschichte näher bringen. So ist es Ihnen beispielsweise auch nicht möglich, jemandem von Ihrer Geschichte zu erzählen, da Sie nur über Bausteine verfügen, aus denen der Zuhörer wenig Sinn machen kann, bzw. selbst wenn diese Bausteine einen groben Umriss der Geschehnisse bieten, wie eine Logline beispielsweise, so fehlt dem Zuhörer doch häufig das Besondere. Z. B. Ein Pärchen lernt sich kennen. Dann trennen Sie sich. Am Ende finden sie wieder zusammen.
Zugegebenermaßen nicht die beste Logline, aber Sie sehen die Problematik. Anfang, Mitte und Ende ähneln sich in vielen Geschichten, aber es ist das dazwischen, der Weg, das »Wie«, das eine herausragende Geschichte von einer mittelmäßigen unterscheidet. Wenn Sie aber Ihre Geschichte bereits geschrieben haben, lässt diese sich problemlos zu einer Inhaltsangabe, einem Exposé oder Ähnlichem zusammenfassen, da Ihnen vielleicht die Details hier und da noch fehlen, Sie noch Kanten zu glätten haben, aber Sie die Fragen »Was passiert?« und »Warum?« bereits beantworten können.