Читать книгу Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore - Страница 10
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ОглавлениеDen Montagmorgen hatte sie Dienst bei Professor Winter. Es war eine angenehme Arbeit mit ihm. Sie sah ihn als einen ausgeglichenen freundlichen Menschen, dessen ruhige Ausstrahlung sich auch auf die Patienten übertrug.
An diesem Vormittag lernte sie auch etwas hinzu: Winters Art, mit den Patienten zu reden, beseitigte deren Ängste, beruhigte die oft erregten Nerven der Patienten, und sie lernte, wie wesentlich für die Therapie die seelische Ausgeglichenheit eines Patienten ist.
Aber doch wollte ihr die Zeit nicht vergehen, so angenehm es war, mit Professor Winter zu arbeiten. Sie dachte an den Abend, an die Oper.
Zu Mittag hatte sie ausnahmsweise nichts dagegen, dass sich Dr. Graf zu ihr und Gerti Lamprecht an den Tisch setzte.
Als sich Gerti und Doris einmal unterhielten und sich dabei duzten, schaute er verwundert auf, sagte aber nichts.
Gerti ahnte wohl, was in ihm vorging und erklärte:
„Wir sind am Wochenende mit dem Rad unterwegs gewesen. Und seitdem haben wir Freundschaft geschlossen.“
„Ich habe keine Einwände erhoben“, meinte er lakonisch.
„Wir haben auch nicht mit Ihren Einwänden gerechnet“, meinte Doris spitz.
Er lächelte nur, aber Gerti sah Doris überrascht an. Es lag ihr etwas auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus. Dann, als Dr. Graf einmal hinausging, bevor er das Dessert gegessen hatte, fragte Gerti:
„Sag mal, was hast du mit dem? Willst du dich mit ihm anlegen?“
„Ich glaube, er hat es schon verstanden“, sagte Doris mit hintergründigem Lächeln. „Er ist nicht so zimperlich, wie du denkst.“
„Aber es hat ihm wehgetan. Ich kenne ihn auch schon ein paar Tage. Er ist zwar nicht mein Typ, aber ein guter Kollege und ein netter Kerl. Wir beide haben uns doch vorgenommen, ihm zu helfen.“
„Komm, nicht schon wieder die Platte. Übrigens, wenn es dich beruhigt, ich gehe heute Abend zusammen mit ihm in die Oper.“
„Donnerwetter! Das hast du mir noch gar nicht erzählt“, rief Gerti.
Doris erklärte ihr die Sache mit den Freikarten. Sprach auch von seinem Anruf gestern Abend.
„Ach, so ist das!“, meinte Gerti. „Na ja, dann mach ihm doch die Freude.“
„Mach ich ja auch“, erwiderte Doris, beugte sich etwas vor und sagte, ohne zur Seite zu sehen, sehr leise: „Er kommt jetzt. Und hör damit auf! Es ist kein Krieg zwischen uns, wie du denkst.“
Er setzte sich wieder, blickte schmunzelnd von einer zur anderen und meinte dann: „Habt ihr beide mich richtig schlecht gemacht?“
„Natürlich. Was denn sonst?“, erwiderte Gerti. „Oder hast du etwa angenommen, es gäbe etwas Gutes von dir zu berichten?“
Er zuckte wieder die Schultern, wie er es oft tat, aß dann seinen Pudding, lehnte sich anschließend zufrieden zurück und meinte: „Heute hat mir das Essen mal ganz gut geschmeckt. Na ja, sehen wir weiter.“ Er wandte sich an Doris: „Wie ist es übrigens, soll ich Sie abholen?“
„Nein, nein, danke. Wir können uns ja im Foyer treffen.“
„Warum denn so förmlich“, warf Gerti ein. „Er kann dich doch abholen, Doris. Er hat einen Wagen, und du sparst den Bus oder das Taxi.“
„Gut. Wenn er unbedingt will“, sagte Doris und blickte ihn dann an. „Wollen Sie?“
„Es war ein Angebot, und ich meine so etwas ernst.“
Er wurde dann hinausgerufen, weil irgendetwas auf der Station geschehen war. Doris bot sich an mitzukommen, aber er winkte ab. So waren Gerti und Doris noch ein paar Minuten allein zusammen.
„Also, ihr beiden seid richtige sture Büffel“, meinte Gerti. „Dabei passt ihr zusammen wie ...“
„Ich flehe dich an, Gerti, hör auf damit! Das ist ein Punkt, bei dem ich nicht mehr zuhören werde. Du machst dich sehr schlecht als Kupplerin.“
„Nun hör bloß auf! Ich will keine Kupplerin sein. Aber ich kann beobachten. Ihr zwei sitzt im selben Boot. Habt irgendwie mehr oder weniger dieselbe Vergangenheit. Deine Geschichte hast du mir ja erzählt. Und seine kenne ich. Die ist auch nicht viel anders. Er hat zwar wenig darüber gesprochen, aber Frau Winter kennt die ganze Story. Und außerdem sorgt seine Geschiedene dafür, dass diejenigen, die es noch nicht wussten, auch mittlerweile im Bilde sind. Ein furchtbares Frauenzimmer.“
„Ich finde es gar nicht. Sie ist nett. Aber sie ist irgendwie fanatisch“, meinte Doris. „Ich habe den Eindruck, sie will ihn zurückhaben. Um Biegen und Brechen. Koste es, was es wolle.“
„Da wird sie auf Granit beißen. Er hat die Nase voll, das glaubst du gar nicht. Er hasst sie.“
Doris sagte nichts. Es geht mich nichts an, dachte sie. Es ist seine Sache. Ich gehe mit ihm heute Abend in die Oper und sehe darin so etwas wie eine Pflichtübung. Mehr wird daraus nicht werden. Dafür will ich sorgen.
Sie spürte, dass sie von Gerti beobachtet wurde, aber Gerti schwieg. Schließlich gingen sie jede an ihre Arbeit.
Den Nachmittag über hatte sie als stellvertretende Stationsschwester Dienst. Professor Winter brauchte sie ja nur an den Vormittagen während der ambulanten Sprechstunde. Und die fand auch nicht jeden Tag statt. Morgen noch einmal und dann am Donnerstag und Freitag. Danach stand sie wieder Dr. Graf zur Verfügung.
Mit Schwester Silke hatte Doris auch noch ein Hühnchen zu rupfen. Und als sie auf der Station ihrer Kollegin gegegenüberstand, sagte sie leise, dass andere es nicht hörten:
„Silke, das mit den Freikarten war zwar wahnsinnig nett, aber warum hast du die andere ausgerechnet Doktor Graf gegeben?“
„Warum nicht“, meinte sie. „Er ist genauso einsam wie du. Es ist doch schön, wenn jemand, der in seiner Freizeit immer allein herumhockt, mal irgendwo hingehen kann. Bei dir ist es doch nicht anders.“
„Ich fühle mich aber gar nicht einsam.“
„Du kommst mir sehr einsam vor“, beharrte Silke. „Wen hast du denn? Nach dem Dienst gehst du nach Hause und bist allein.“
„Ich fühle mich aber wohl, wenn ich allein bin“, erklärte Doris.
Silke winkte ungläubig ab. „Mach mir nichts vor! Kein Mensch ist gern allein.“
„Ich schon“, versicherte Doris. „Ich bin sehr gern allein. Ich gehöre zu den Menschen, die auf dem Standpunkt stehen, dass bei drei Leuten, die zusammen sind, schon einer zu viel ist.“
„Das machst du dir nur vor. Und ist es denn so schlimm, wenn Doktor Graf neben dir sitzt?“
„Nein, nein. Es ist schon gut. Ich danke dir jedenfalls.“
„Na, sehr überzeugend klang das nicht. Wenn du nicht willst, dann verschenke doch die Freikarte. Ich dachte, ich mache dir eine Freude.“
„Du hast mir eine Freude gemacht. Aber vielleicht wäre es besser, du hättest mir vorher gesagt, dass die andere Karte ...“
„Nun hör aber auf!“, meinte Silke. „Er ist doch kein Menschenfresser. Er ist ein netter Mann. Und ich habe dir gesagt, was ich davon denke. Ihm geht es wie dir. Statt dass du das einmal siehst, fauchst du immer, wenn er nur in deine Nähe kommt. Er will ja gar nichts von dir. Er möchte nur, dass du etwas freundlicher bist.“
„Ach, hat er das zu dir gesagt?“
Sie nickte. „Hat er einmal gesagt. Ob du irgendetwas hättest. Ob ich das wüsste.“
„Ich habe nichts. Ich will nur meine Arbeit tun, sonst nichts. Und das andere, mein Privatleben, ist meine Sache. Es geht keinen etwas an.“
„Hui! Du bist ja heute wieder grantig ...“
„Ach, sei mir nicht böse, Silke. Aber ich bin nun einmal so.“
„Na, ich glaube jedenfalls, dass niemand ein größerer Feind für dich ist als du selbst“, meinte Silke. „Die Hauptsache ist, es macht dir mit den Karten ein bisschen Freude. Auch wenn er neben dir sitzt. Er kann sehr galant sein.“
Woher will sie das wissen?, fragte sich Doris. Aber sie stellte diese Frage nicht wirklich, sondern verrichtete den Rest ihrer Dienstzeit die Arbeit, wie sie getan werden musste. Und sie versuchte sie gut zu tun.
Bei den Patienten, das hatte sie schon bald heraus, war sie recht beliebt. Von Silke war ihr das bestätigt worden. Sie redete nicht viel, verhielt sich sachlich, und die Leute konnten sich auf sie verlassen. Für Schwerkranke war das mehr als viel Rederei, die wirklich Schwerkranken nur auf den Nerv ging. Ein Plappermaul ohnegleichen war Schwester Christa. Und mit ihrer gänsehaften schrillen Art störte sie nicht nur viele der Patienten, auch Doris konnte Christas albernes Gerede bald nicht mehr hören. Bei jeder Gelegenheit kicherte und meckerte sie, hatte nichts als Klatsch und Tratsch im Kopf, wenn sie nicht die Augen nach Dr. Graf verdrehte.
Schließlich war der Dienst endlich vorbei. Doris zog sich um, setzte sich auf ihr Rad und fuhr nach Hause. Unterwegs fiel ihr ein, dass sie eigentlich mit Dr. Graf gar keine konkrete Zeit fürs Abholen ausgemacht hatte.
Ach was, dachte sie, der wird schon rechtzeitig da sein.
Sie aß etwas, duschte dann, zog sich an und war gerade fertig, als es läutete.
Sie schaute auf die Uhr. „Wenn er es ist, dann kommt er viel zu früh“, murmelte sie.
Er war es. Er kam mit einem Blumenstrauß. Bunte Feldblumen, und sie stammten garantiert aus keinem Blumenladen.
„Ich habe sie selbst gepflückt“, verkündete er. „Um hier an etwas zu kommen, muss man weit fahren. Aber ich habe ein Feld gefunden. Der Mohn wird nicht lange halten, aber die Kornblumen halten sich sicher lange frisch. Und die anderen Wiesenblumen auch. Sehen Sie mal die Margeriten. Sind die nicht hübsch?“
Sie liebte Feldblumensträuße viel mehr als die schönsten Rosen. Sie lächelte beglückt, gab ihm die Hand und bedankte sich.
„Ich bin gleich fertig. Aber wir sind doch viel zu früh. Möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken?“
„Absolut nichts dagegen. – Hübsch haben Sie’s hier.“ Er war ins Wohnzimmer getreten, sah sich um.
Sie war froh, etwas Ordnung gemacht zu haben. „Setzen Sie sich doch!“ Sie ging in die kleine Küche, und wie sie schon das Kaffeewasser aufsetzte, hörte sie seine Schritte. Sie fürchtete schon, er werde in die Küche kommen, aber er war ans Fenster des Wohnzimmers getreten und schaute hinaus.
„Ziemlich hoch dieses Haus hier“, hörte sie ihn sagen.
„Ja“, rief sie von der Küche. „Aber noch höher möchte ich nicht wohnen. Die Aussicht ist nicht die größte, dazu auf eine Bahn. Aber es gibt doch ein paar grüne Flecken.“
„Sie wohnen jedenfalls schöner als ich“, bemerkte er. „Ich wohne auch ganz oben, aber nicht sehr schön. Irgendwann suche ich mir eine andere Bleibe. Ich frage mich bloß wofür. Mehr als schlafen kann man nirgendwo. Und Zeit, groß in die Gegend zu schauen, habe ich ja sowieso nicht.“
Als sie den Kaffee fertig hatte und hineintrug, saß er wieder im Sessel und hatte sich eine der Zeitschriften aus dem Zeitungsständer genommen. Er legte sie weg, lächelte zu ihr empor und fragte: „Es macht Ihnen auch keine Mühe?“
Sie schüttelte den Kopf. „Aber nicht doch. Und außerdem haben wir wirklich noch viel Zeit. Es ist ja erst halb sieben.“
„Na und? Ich dachte einfach, dass man mal raus muss aus dem Stress. Nicht auch noch in die Oper jagen wie verrückt. Wir können ganz gemächlich fahren.“
„Ich freue mich jedenfalls auf den Fliegenden Holländer. Ich habe die Oper noch nie gesehen. Ich kenne nur ein paar Musikstücke daraus. Na ja, die kennt jeder. Aber die Oper selbst ...“
„Ich hab sie schon mal gesehen. Aber nicht hier in München, Ich verspreche mir etwas von der Aufführung. Sie ist sehr gut besetzt. Und dann das Orchester. Aber wir werden es erleben. Nur keine Vorschusslorbeeren.“
Sie reichte ihm den Zucker, aber er schüttelte den Kopf. „Rabenschwarz“, sagte er.
Sie tranken schweigend ihren Kaffee, und die Stimmung war etwas aufgeladen. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte, zumal sie sich vorgenommen hatte, an diesem Abend nicht so unfreundlich zu ihm zu sein. Auf der anderen Seite wollte sie ihm keine Hoffnungen auf etwas machen, das sie nie erfüllen würde.
Er wiederum war in einer ähnlichen Lage. Er hatte das Gefühl, dass sie etwas von ihm befürchtete, was er ihr, wie er sich vorgenommen hatte, nie antun würde. Er wollte wirklich nur mit ihr zusammenarbeiten, obgleich es von seinen Gefühlen her etwas gab, das ihn zu ihr drängte. Aber die Furcht vor allem, was danach kam, war größer. Immer wieder hatte er die hässlichen Szenen mit Linda vor Augen. Immerhin war sie jetzt endgültig abgereist.
Um nicht total ins Schweigen zu versinken, sagte er:
„Wir hatten heute zum ersten Mal einen Riesenspaß. Es war lustig heute Vormittag mit Schwester Heidi. Lustiger als mit Ihnen.“ Er lachte. Und als er glaubte, das Erschrecken in ihrem Gesicht zu sehen fuhr er fort: „Es ist ironisch gemeint. Schwester Heidi ist jemand, den ich am liebsten auf den Mond schießen würde. Sie geht mir auf den Geist. Diese alberne Gans, die nichts im Kopf hat als Männer. Und heute war ich ihr Opfer. Dass sie mir nicht an den Hals gesprungen ist, war alles. Es ist richtig peinlich gewesen. Ich hoffe, dass ich diese Woche gut über die Runden bekomme. Ich freue mich darauf, dass ich Sie anschließend wiederhabe.“
„Sie Ärmster“, tat sie mitleidig. „Sie haben mein tiefstes Mitgefühl. Was müssen Sie leiden. Sie sollten sich eigentlich freuen, dass es jemanden gibt, der sie so sehr verehrt, wie das Schwester Heidi tut.“
„Verehrt ist gut“, stöhnte er. Er setzte seine Kaffeetasse ab und sah sie nachdenklich an. „Unter Verehrung verstehe ich etwas anderes. Und ich möchte nicht verehrt werden. Ich will auch jetzt mal etwas Grundsätzliches sagen, Schwester Doris. Ich möchte ...“
Sie unterbrach in mit einer schroffen Handbewegung. „Verehrter Herr Doktor Graf“, sagte sie sehr förmlich, „im Dienst bin ich gerne für Sie Schwester Doris. Aber außerhalb, wenn wir schon einmal zusammen weggehen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich bei meinem Namen nennen. Und ich heiße Fenzing.“
„Entschuldigen Sie, Sie haben recht. Man gewöhnt sich an so etwas, Frau Fenzing. Ich bin jedenfalls froh, wenn Sie wieder Ihren Dienst bei mir machen. Wir haben uns zwar öfters in der Wolle, aber ich verstehe durchaus, dass es nicht bös gemeint ist. Aber ich wollte etwas Grundsätzliches sagen. Ich wollte Ihnen sagen, dass ich auf Grund der Erfahrungen, die ich in meiner Ehe gemacht habe, nicht vorhabe, mich noch einmal an eine Frau zu binden. Sei es eine kurzfristige oder eine längere Bindung. Dies zu Ihrer Information, damit Sie mich nicht falsch verstehen. Ich möchte nur während der Arbeit Harmonie, ein gutes Klima. Und wenn Sie mir abnehmen, dass ich es damit sehr ernst meine, sind vielleicht einige von ihren Ängsten beseitigt.“
„Was glauben Sie, was ich für Ängste habe?“, fragte sie. „Denken Sie, ich fürchte mich vor Ihnen?“
„Nein. Nicht vor mir. Aber Sie fürchten sich vor einer Bindung mit einem Mann so sehr, wie ich mich vor einer Bindung mit einer Frau fürchte. Und jetzt beenden wir dieses Thema. Ich habe gesagt, was ich glaubte sagen zu müssen, und von Ihnen weiß ich ja auch, wie Sie darüber denken. Seien wir also nicht mehr so feindselig zueinander. In Wirklichkeit wollen wir es beide nicht. Ich bin jedenfalls davon überzeugt.“
„Sie haben recht“, erklärte sie reumütig. „Was Sie sagen, erleichtert mich. Ich habe mir auch vorgenommen, nie mehr eine Bindung einzugehen. Also gut, schließen wir Frieden.“
Es war, als wolle er etwas sagen, aber er sprach es dann doch nicht aus.
Sie lachte und fragte: „Möchten Sie jetzt einen Cognac? Da muss ich Sie enttäuschen. Außer einer Flasche Enzian habe ich nichts im Hause.“
„Trinken wir also auf den Friedensschluss einen Enzian, einen klitzekleinen. Einverstanden?“
Als sie lachte, blitzten ihre Zähne. „Einverstanden“, stimmte sie zu.
Dieser Friedensschluss änderte nichts an seinem Verhalten ihr gegenüber. Im Gegenteil. Er war sehr freundlich, äußerst höflich, hilfsbereit, aber er vermied jede Vertraulichkeit. Und sie war ihm dafür sehr dankbar. Sie hatte schon befürchtet, es könnte sich nun einiges ändern. Aber das war nicht der Fall. Seine Begleitung war angenehm.
Als sie ins Theater kamen, gab es einige Leute, die ihnen nachsahen. Sie beide stellten ein äußerst hübsches Paar da. Er, der blonde breitschultrige Mann im dunklen Anzug, sie blond und schlank, was durch ihr dunkelblaues Kleid und die hübsche Schärpe noch verstärkt wurde. Sie sah sehr gut aus. Und zum ersten Male hatte er festgestellt, dass sie sehr hübsche Beine besaß. Sonst lief sie ja immer nur in Hosen herum.
Es lag ihm auf der Zunge, etwas darüber zu sagen, aber er unterließ es, weil er sich denken konnte, dass sie es in den falschen Hals bekommen würde.
Danach gaben sie sich dem Genuss der Musik, aber auch der Darbietung auf der Bühne hin. Es war eine hervorragende Inszenierung. Und Doris musste zugeben, dass es eben ein Unterschied war, die Musik vom Band oder einer Platte zu hören oder hier direkt dieser Aufführung beizuwohnen.
In der großen Pause tranken sie im Foyer ein Glas Sekt, und Wieland Graf erwies sich als hervorragender Plauderer. Er erzählte einige Kabinettstückchen aus seiner Praxis als Internist, und sie hörte ihm zu. Er konnte wunderschön erzählen. Das stellte sie bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal fest.
Als dann die Aufführung vorüber war, fuhr er sie nach Hause. Er stieg aus, öffnete ihr den Schlag, verabschiedete sich mit Händedruck, und dabei blieb es. Kein Versuch ihr irgendwie näher zu kommen, nur ein paar nette Worte, aber ihr war das völlig genug. Mehr hätte sie nicht gewollt. Sie war froh, dass alles so vorbeigegangen war.
Als er wegfuhr, winkte sie ihm noch nach, dann ging sie ins Haus.
Ihr Bild von ihm hatte sich gewandelt. Dennoch verspürte sie in sich eine starke Unruhe, wenn sie nur an ihn dachte. Der Versuch, dies zu verdrängen, gelang ihr nur schlecht. Auch als sie schon im Bett war, musste sie immer wieder an ihn denken, ehe sie endlich einschlief.
Am nächsten Morgen hatte sie andere Sorgen, als ihre Gedanken um diese Dinge kreisen zu lassen. Trotzdem verklärte ein Lächeln ihr Gesicht, als sie bei ihrem knappen Frühstück dann doch an ihn dächte und an den gestrigen Abend.
Aber sie empfand es als günstig, in dieser Woche nicht mit ihm zu arbeiten. Und doch hoffte sie, ihn wenigstens zum Mittagessen in der Kantine zu sehen.
Den Vormittag über hatte sie alle Hände voll zu tun. Professor Winter brauchte sie nur zwei Stunden. Die übrige Zeit tat sie Dienst als stellvertretende Stationsschwester in der Inneren Abteilung. Dr. Graf hatte irgendeinen Notfall und hielt sich stundenlang in der Ambulanz auf. Als er dann kurz vor Mittag endlich auftauchte, machte er hastig die Visite und verschwand wieder in der Ambulanz. Doris sah ihn nur aus weiter Ferne. Und über die Probleme der Station hatte er nur mit Silke gesprochen. Denn während der Visite hatte Schwester Silke den Internisten begleitet. Doris musste sich in dieser Zeit um einen Patienten kümmern, der auf die Wachstation verlegt worden war Zu Mittag sah sie ihn dann nicht. Und sie spürte ein starkes Bedauern in sich.
Als sie über ihre Gefühle nachdachte und ihr bewusst wurde, dass sie sich regelrecht nach seiner Gegenwart sehnte, wurde sie zornig auf sich selbst.
Nein, dachte sie, jetzt fange ich von mir aus an. Wir wollen es beide nicht. Ich darf gar nicht an ihn denken. Es gibt ganz andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren sollte.
Erst am Nachmittag traf sie mit ihm zusammen. Sie begrüßten sich, und er lächelte, als er fragte:
„Hat es Ihnen eigentlich gestern gefallen?“
Sie nickte. „Es war sehr schön. In jeder Beziehung.“
„Finde ich auch“, stimmte er zu. Dann blickte er sich nervös um, warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Wir haben da ein Problem in der Intensivstation. Ich muss gleich noch einmal hin.“
„Was ist es denn? Ein Herzinfarkt?“ Er nickte. „Ziemlich schlimme Geschichte. Hoffentlich bringen wir ihn durch.“
Dann war er schon wieder weg.
Am nächsten Tag wurde sie von Professor Winter eingespannt. Die Sprechstunde begann mit zwei Stunden Verspätung, weil er eine Notfalloperation hinter sich hatte und früher nicht beginnen konnte. Dabei waren es alles bestellte Patienten.
Die Sprechstunde zog sich dann bis kurz vor drei am Nachmittag hin. Immer wieder kam etwas dazwischen, sodass Professor Winter die ambulante Sprechstunde unterbrechen und irgendwohin musste.
Doris atmete auf, als endlich die letzte Patientin durch war.
Die Chance, in der Kantine noch etwas zu essen zu bekommen, war gleich null. Aber sie hatte einen Bärenhunger. Am Morgen war sie nämlich etwas zu spät aus dem Bett gekommen und hatte so gut wie nichts gefrühstückt. Im Verlauf der Sprechstunde war es unmöglich gewesen, einen Happen zu essen. Ihr war fast schlecht vor Hunger.
„Sie sehen blass um die Nasenspitze aus, Schwester Doris“, bemerkte Professor Winter lächelnd. „Haben Sie so einen Hunger wie ich?“
Sie nickte freimütig. „Und wie, Herr Professor.“
„Und in der Kantine bekommen wir garantiert keinen Happen mehr. Um die Zeit sind die schon am Putzen und haben die Stühle hochgestellt. Wissen Sie was? Kommen Sie doch mit zu mir herauf. Meine Frau wird Ihnen ein paar Happen zusammenbrauen.“
Doris schüttelte den Kopf. „Aber nein, danke. Ich werde auf der Station ein paar Bissen essen.“
„Ach, nicht doch. Kommen Sie mit herauf. Sie haben mir so schön geholfen. Sie machen Ihre Sache großartig. Ich beneide meinen Kollegen Graf um Sie. Aber ich will Sie ihm nicht wegnehmen. Das wäre unfair. Arbeiten Sie gern mit ihm?“
Sie nickte.
„Kommen Sie. Wir gehen nach oben. Ich rufe nur kurz meine Frau an, damit sie nicht zu sehr überrascht wird.“
Er telefonierte, und schon aus seiner Reaktion erkannte Doris, dass es Frau Winter offenbar sehr recht war, wenn er noch jemanden zum Essen mitbrachte.
Als er aufgelegt hatte, meinte er lächelnd: „Meine Frau behauptet, jetzt mache es ihr wenigstens Spaß, etwas für mich zuzubereiten, weil ich nicht allein bin. Weil es sich lohnt, verstehen Sie?“
Sie gingen nach oben. Natürlich hatte Doris Frau Winter schon kennengelernt. Eine sehr nette, natürlich wirkende Frau, Ende dreißig, nicht ganz so blond wie Doris, aber mit strahlend blauen Augen.
Auch die Kinder kannte Doris natürlich. Den nahezu achtjährigen Stefan und die vierjährige Andrea.
Aber die Kinder waren nur flüchtig da und gingen dann wieder in den Park spielen. Dort warteten bereits ein paar Freunde auf sie.
Zum ersten Mal betrat Doris die Wohnung Professor Winters. Sie war mit wertvollen alten Möbeln eingerichtet, aber keinesfalls überladen, und wirkte sehr gemütlich. Hübsche Bilder, auch Fotos, und sehr viele Blumen gaben der Wohnung das Gepräge. Doris hatte ein Gespür für eine heimelige Atmosphäre, und hier fand sie die.
Sie saßen auf dem Balkon. Es war ja herrliches Wetter draußen. Frau Winter hatte schnell Rühreier mit Schinken gemacht, dazu gab es Toast und frischen Salat. Ein zünftiges Glas Bier rundete das Essen ab.
Doris aß mit Heißhunger. Aber sie beobachtete, dass es Professor Winter nicht anders ging.
Frau Winter, die schon zu Mittag gegessen hatte, saß dabei, unterhielt sich mit beiden und blickte sehr zufrieden auf ihren Mann, aber auch auf Doris. Sie sah, wie gut es beiden schmeckte.
„Das ist ja heute lange gegangen“, sagte sie zu ihrem Mann. „Ich habe gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr.“
„Der Teufel war los“, sagte er kauend und schien nicht gewillt, eine nähere Erklärung abzugeben. Das tat er dann erst, als er gegessen hatte und sich zufrieden zurücklehnte.
Frau Winter brachte noch jedem eine Tasse Kaffee, trank selbst mit, und dabei unterhielten sie sich fast eine Stunde.
„Ich muss längst wieder hinunter“, erklärte Doris.
„Aber nicht doch“, wehrte Winter ab. „Jetzt sind Sie doch mein Gast. Und schließlich bin ich der Chef. Wenn das sonst nichts bringt, aber hier wenigstens bringt es etwas“, fügte er lachend hinzu. „Also, ich gebe Ihnen den dienstlichen Befehl, bleiben Sie ruhig noch was sitzen. Die werden da unten auch mal ohne sie auskommen.“
Sie hätte wieder auf die Innere Station gemusst. Andererseits war die Unterhaltung mit Frau Winter und ihrem Mann nicht unangenehm. Im Gegenteil. Sie verstand sich mit Frau Winter auf Anhieb gut. Bisher hatten sie sich nur gegrüßt. Und plötzlich kam die Unterhaltung auf Wieland Graf. Doris hätte nicht sagen können, wie sie darauf gekommen waren. Aber es ergab sich so. Und es war Frau Winter, die sagte:
„Sie arbeiten gern mit ihm zusammen, nicht wahr? Ich glaube, dass er ein sehr netter Mann ist.“
„Er ist ein sehr netter Mann“, bestätigte Doris.
„Ich habe meinem Mann oft gesagt, wir müssten uns mehr um ihn kümmern. Er macht auf mich den Eindruck eines Menschen, den man seelisch unterstützen muss.“
„Er lehnt das aber ab“, sagte Winter zu seiner Frau. „Und er ist ein erwachsener Mensch. Ich kann meine Liebe nicht anderen aufdrängen, wenn sie die gar nicht wollen. Liebe Helga, du gehörst zu den Leuten, die nach Pfadfinderart jeden Tag ihre gute Tat vollbringen wollen. Das ist die Sorte, die sich auf einen alten Mann stürzt, um den über die Straße zu bringen, und in Wirklichkeit wollte er gar nicht hinüber. Lass Doktor Graf in Frieden! Er ist erwachsen. Und er weiß, was er tun muss. Uns geht das doch nichts an.“
„Aber du bist es doch, Florian, der immer predigt, dass man andere nicht allein im Regen stehen lassen soll. Dass man ihnen helfen soll wenn sie Schwierigkeiten haben, wenn sie in Not sind, wenn sie ein seelisches Tief haben.“
„Ja“, meinte er nickend, „wenn sie das wollen. Aber nicht gegen ihren Willen. Und so lange er keinen Selbstmordversuch unternimmt, und danach sieht er weiß Gott nicht aus, ist es sein Problem.“
Helga blickte Doris beifallheischend an. „Nun sagen Sie doch mal was. Sind Sie auch der Meinung meines Mannes?“ Doris lächelte unsicher. „Ich würde Ihnen so gerne beipflichten, Frau Winter, aber ihr Mann hat recht. Nach meinem Standpunkt hat er recht.“
Helga Winter seufzte. „Dann bin ich wieder geschlagen. Aber ich meine dennoch, dass man sich um ihn kümmern sollte, und wenn er zehnmal diese Hilfe ablehnt. Er tut es aus Bescheidenheit.“ Winter kannte seine Frau und wusste, wie fanatisch sie werden konnte, wenn es um so etwas ging. Er räusperte sich und erklärte in völlig verändertem Tonfall:
„Ich glaube, Schwester Doris, wir beide müssen wieder an unsere Pflicht.“ Er wandte sich seiner Frau zu. „Schönen Dank, Helga. Ich habe mit großem Appetit gegessen.“ Er lachte. „Um nicht zu sagen mit mörderischem Kohldampf.“
Zum Abschied sagte Helga Winter zu Doris: „Wenn Sie nach Dienstschluss oder in der Mittagspause einen Moment Zeit haben, kommen Sie doch auf einen Sprung zu mir herauf. Es war so nett, sich mit Ihnen zu unterhalten.“
Doris bedankte sich. Und auch ihr hatte die Unterhaltung mit Helga Winter gefallen. Aber sie hatte nicht ernstlich vor, dieses Angebot anzunehmen, zumal sie vermutete, dass es mehr aus Höflichkeit ausgesprochen worden war.
Als sie dann wieder auf ihrer Station war, sah sie im Laufe des Nachmittags vom Fenster aus per Zufall etwas ganz Merkwürdiges, und sie konnte ihre Überraschung darüber kaum verbergen.
Sie wusste, dass sich Schwester Heidi früher freigenommen hatte, kannte aber den Grund nicht. Und es interessierte sie auch nicht wirklich. Aber als sie da zum Fenster hinausschaute, sah sie unten Dr. Graf mit seinem Wagen und Schwester Heidi, die vom Portal aus auf diesen Wagen zuging. Dr. Graf wartete. Und sie konnte sogar durch die Rückscheibe sehen, wie er sich zur Seite beugte, um die rechte Tür zu Öffnen.
Schwester Heidi, in weißer Bluse und weißem Faltenrock, ging auf diese Tür zielstrebig zu und stieg ein.
Doris ertappte sich selbst dabei, dass sie weiter nach unten sah und verfolgte, wie der Wagen den Weg entlang zum Tor fuhr, um dann nach rechts einzubiegen.
Nach rechts, dachte sie noch. Wo fährt er da hin? Aber es geht mich nichts an.
Und trotzdem war da ein eigenartiges Gefühl in ihr. Etwas, als wurme sie, dass Heidi zu Dr. Graf in den Wagen gestiegen war.
Unsinn, schalt sie sich selbst. Es geht mich doch wirklich nichts an. Vielleicht nimmt er sie bloß irgendwohin mit.
Sie machte ihren Dienst weiter, und als sie Schluss hatte, fuhr sie mit dem Rad nach Hause. Es war wiederum ein schöner Tag. Sie ließ sich Zeit. Besorgungen hatte sie nicht zu machen. Sie fuhr langsam, und sah überall die Paare auf den Bänken sitzen oder Spazierengehen. Sie empfand keinen Neid bei diesem Anblick. Aber in ihr wühlte es. Was ist nur mit mir los?, dachte sie.
Fängt es jetzt schon an? Falle ich um? Werfe ich meine Vorsätze und Prinzipien beiseite? Nein, das wollte ich nicht, und das will ich nicht. Ich brauche keinen Mann. Es gibt Millionen von Frauen, die völlig allein leben auf der Welt und damit zurechtkommen.
Aber als sie dann zu Hause war, ließ sie der Gedanke daran, dass Dr. Graf zusammen mit Heidi weggefahren war, nicht mehr los. Sie versuchte vergeblich, nicht mehr daran zu denken.
Sie beschloss, einfach noch ein Stück mit dem Rad zu fahren, um nicht zu Hause herumzusitzen. Sie hatte zwar ihren Putztag, aber sie verschob ihn auf morgen. Sie zog nur ihre Strickjacke über, weil es am Abend doch etwas kühler wurde, ging wieder hinunter und holte das Rad aus dem Keller. Dann fuhr sie los. Ziellos radelte sie durch die Straßen und kam dann wieder nach einer längeren Rundfahrt zurück. Ihre Laune hatte sich nicht gebessert. Als gäbe es auf der Welt nur Paare, hatte sie unterwegs massenhaft junge Menschen gesehen, die Arm in Arm gegangen waren. Sie hatte das Gefühl, diesen Anblick einfach nicht mehr ertragen zu können.
Zurück in ihren vier Wänden, saß sie lange im Sessel, stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, wie es weitergehen sollte. Sie sehnte sich nach Zärtlichkeit, nach Liebe, und dagegen halfen auch keine verstandesmäßigen Vorsätze.
Schließlich versuchte sie sich mit dem Lesen eines Buches abzulenken. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder irrten ihre Gedanken ab, ließ sie das Buch sinken und starrte vor sich hin. Sie dachte an die Zeit mit Dieter. Nein, das konnte es nicht sein. Vielleicht, überlegte sie, habe ich nur den falschen Mann gehabt. Einen Mann, der nicht zu mir passt. Vielleicht hätte es Tausende andere gegeben, wo ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, solche Überlegungen anzustellen, wie ich es jetzt tue.
Sie ging an diesem Abend früh zu Bett. Viel früher als üblich. Es war noch nicht einmal richtig dunkel. Und fast hätte sie das heulende Elend überkommen, doch der Schlaf erlöste sie von ihren Problemen.
Am nächsten Morgen war sie noch missgelaunter, und nach der üblichen Gymnastik, die sie früh immer machte, und dem Duschen, fühlte sie sich auch nicht besser. Dann fuhr sie mit dem Rad zur Klinik. Und fast wäre ihr noch ein Hund ins Rad gelaufen. Sie konnte mit Mühe noch anhalten.
Ausgerechnet der Besitzer des Hundes beschimpfte sie, doch sie verzichtete auf eine scharfe Antwort und fuhr einfach weiter.
Dieser Tag, dachte sie später, hat es in sich.
Er hatte es wirklich in sich. Schon innerhalb der ersten Stunde ihres Dienstes ging ihr verschiedenes schief. Dann fiel ihr auch noch ein Reagenzglas mit einer Urinprobe herunter, sodass der Urin neu besorgt werden musste. Und das noch von einer Schwerkranken.
Später geriet sie noch mit Schwester Silke aneinander. Aber diese Wogen ließen sich wenigstens schnell wieder glätten.
Dann tauchte Dr. Graf auf. Er war wieder im OP gewesen. Der gleiche Grund, weshalb Doris heute nicht in der Sprechstunde bei Professor Winter arbeiten musste.
Graf sah blass und müde aus, hatte Ringe unter den Augen, und Silke machte anschließend Doris gegenüber ein paar Anspielungen.
Doris begriff nicht, was Silke meinte und als sie fragte, was es heißen solle, sagte Silke:
„Na, der war doch gestern mit Heidi weg. Und das ist eine Rasierklinge, sage ich dir. Eine wandelnde Rasierklinge. Scharf wie Pfeffer. Die hat ihn offenbar ganz schön geschlaucht.“
„Wie kannst du so etwas sagen?“, meinte Doris vorwurfsvoll. „Glaubst du im Ernst, dass er sich mit Heidi abgegeben hat?“
„Davon bin ich fest überzeugt“, behauptete Silke leise. „Sieh sie dir doch an. Die ist der wandelnde Triumph. Die platzt bald vor Stolz. Und ziemlich müde war sie heute Morgen auch. Die scheinen ganz schön herumgetobt zu haben.“
„Ich will das nicht hören“, wehrte Doris ab.
Doch wie zur Bestätigung tauchte Schwester Heidi auf. Sie strahlte, obgleich sie auch übernächtigt wirkte, trippelte, wie es ihre Art war, mit kleinen Schrittchen den Gang entlang und prahlte wenig später im Schwesternzimmer von einem Lokal, wo sie gestern Abend gewesen war. Sie sagte zwar nicht mit wem, doch sie schilderte das in so glühenden Farben, dass jeder, der zuhörte, sicher war, wer ihr Begleiter gewesen sein musste.
Kurz darauf wurde Doris von Wieland Graf ins Arztzimmer gerufen.
Als sie hinging, hatte sie sich schon eine Meinung über ihn und den Vorgang gestern gebildet.
Er ist genau wie die anderen. Und was er über Frauen gesagt hat und seine kaputte Ehe, sind nur Sprüche gewesen. Ausgerechnet mit Heidi, so einer Gans! Aber es geht mich wirklich nichts an. Es gibt für mich nicht den geringsten Grund, mich ihm gegenüber anders zu verhalten.
Als sie das Zimmer betrat, sah sie ihn am Schreibtisch sitzend, vorgebeugt, aber er schrieb nicht. Er schaute dann kurz auf, sah in ihre Richtung und machte eine schlaffe Handbewegung auf den Stuhl, der weiter vorn stand. „Setzen Sie sich!“
Sie war überrascht, dass er ihr Platz anbot. Sollte das eine längere Unterredung werden? „Wir haben da ein Problem in der Intensivstation“, begann er. „Eigentlich hätte ich danach sehen sollen, aber ich werde gleich nach Hause fahren. Frau Doktor Lamprecht kümmert sich um den Fall. Unterstützen Sie sie ein wenig dabei. Den alten Herren mit der Gallenkolik müssten Sie auch im Auge behalten. Wenn irgendetwas ist, mit dem die Assistenzärzte nicht klarkommen, wenden Sie sich an Professor Winter.“ Er tupfte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und atmete schwer. Sie hatte das Gefühl, dass er krank war. Es schien ihr mehr als eine Übermüdung und Erschöpfung zu sein.
„Sind Sie krank?“, fragte sie.
„Vermutlich. Ich habe mir irgendetwas eingefangen. Ich weiß noch nicht, was es ist. Na ja, meistens wird das schon wieder gut, wenn man einmal richtig ausgeschlafen hat. Ich denke doch, dass ich morgen wieder hier bin. Sie wissen also Bescheid. Wenn sonst noch etwas ist, womit Sie nicht zurechtkommen, dann sprechen Sie mit Professor Winter darüber. Aber nur, wenn es sein muss. Sonst versucht ihr es selbst zu regeln. Sagen Sie auch Schwester Silke Bescheid.“ Er stemmte sich von seinem Stuhl hoch wie ein alter Mann. Und so sah er in diesem Augenblick auch aus.
Einem Patienten hätte sie jetzt die Hand an die Stirn gelegt, um zu sehen, ob er stark fieberte. Aber bei ihm tat sie es nicht. Sie musste auch an das Bild denken, dass sie noch immer vor Augen hatte, als Heidi zu ihm in den Wagen stieg.
„Kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte sie, und es klang so förmlich, dass er heraushörte, wie wenig sie sich wirklich für seinen Zustand interessierte.
Er schaute sie kurz an, als müsse er sich vergewissern dass sein Verdacht stimmte. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet ihm nicht, was sie tatsächlich dachte. Von ihren wahren Gedanken ahnte er offenbar nichts.
„Nein, nein. Ich komme schon allein zurecht.“
Als er weg war, tat sie, was er von ihr verlangt hatte. Sie blieb sogar eine Stunde länger, um sich um den Infarkt-Patienten in der Intensivstation besonders zu kümmern. Erst als Gerti Lamprecht sie energisch aufforderte, endlich Schluss zu machen, ging sie.
Beim Einkaufen traf sie zufällig Dr. Becker, einen netten jungen Assistenzarzt der Chirurgie, der, wie sich herausstellte, gar nicht weit entfernt von ihr wohnte und ebenfalls ein Einsiedlerdasein führte.
Er schob seinen Wagen im Supermarkt vor sich her, und so sahen sie sich an der Käseabteilung.
Und da sie sich vom Sehen kannten, grüßten sie einander, und er verwickelte sie in ein Gespräch über eine besondere Käsesorte.
„Haben Sie den schon mal gegegessen? Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er schmeckt fantastisch. Kann ich nur empfehlen.“
So begann es, und sie unterhielten sich weiter.
Er war etwas größer als sie, sehr schlank und schmal, hatte dunkles Haar und ein nettes Jungengesicht. Seine grünen Augen gaben diesem Gesicht einen besonderen Reiz. Sie fand ihn sehr nett. Eigentlich hatte er ihr schon immer gefallen. Aber eben nur so, wie einem jemand gefällt, der sympathisch ist. Ganz gleich, ob Frau oder Mann.
Doch in ihr war immer noch diese geheime Sehnsucht, die sie vergeblich zu verdrängen suchte. Diese Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem man sprechen und mit dem man zusammen sein konnte.
Vielleicht erging es ihm ähnlich. Sie hatten längst eingekauft, und er lud seine Habseligkeiten in sein Auto.
Doris hatte nur einen Kasten mit Sprudel und ein paar Dinge, die sie ins Netz gepackt hatte. Sie wollte den Kasten auf den Gepäckständer ihres Rades heben, da sagte er:
„Ach, lassen Sie doch. Ich bringe Ihnen den Kasten mit dem Wasser nach Hause. Ist es weit von hier?“
Sie sagte ihm, wo sie wohnte, lud kurzerhand den Kasten in seinen Kofferraum und sagte: „Fahren Sie schon voraus! Ich komme hin.“
Mit dem Rad war sie schneller und wartete dann vor der Tür, und er kam.
Er lud den Kasten aus und sagte: „Ich bringe ihn nach oben.“
„Das ist nicht nötig. Ich habe ihn immer im Keller. Da ist es kühler. Ich nehme nur eine oder zwei Flaschen mit hinauf. Sie brauchen sich wirklich nicht zu bemühen.“
Aber er bemühte sich doch, schaffte ihr den Kasten hinunter, und zum Dank wollte sie ihm wenigstens anbieten, dass er für einen Sprung mit nach oben kommen und mit ihr eine Tasse Kaffee trinken sollte.
Er nahm das Angebot sofort an, lachte auf eine gewinnende Art und begleitete sie nach oben.
Als sie dann einander gegenübersaßen und Kaffee tranken, sagte er:
„Ich bin ein richtiger Einsiedler und kenne hier so gut wie niemanden. Wissen Sie, ich komme aus Hannover. Das ist eine ganze Ecke weg. Neue Freunde habe ich hier noch nicht gefunden.“
Doris lächelte. „Ich auch nicht. Bedrückt sie die Tatsache, allein zu sein?“
Er nickte ehrlich. „Es bedrückt mich sehr. Früher hatte ich immer einen Kreis, in den ich hineingehört habe. Aber jetzt ist da so gut wie nichts los.“ Er sah Doris wehmütig an. „Ich bin jetzt ein Jahr hier. Lange genug eigentlich. Und trotzdem habe ich kaum Kontakt mit jemand. Ich hatte in Hannover eine Freundin. Keine sehr enge Beziehung. Und sie ist auch prompt darüber kaputtgegangen.“
„Will sie nichts mehr von Ihnen wissen, weil Sie in München sind?“
Er nickte. „Genauso ist es. Sie war dagegen, dass ich nach München gehe. Ich sollte in Hannover bleiben. Aber die Chance, hier zu arbeiten, ist für mich sehr vorteilhaft. Wenn ich meine Facharztausbildung bei Herrn Münzinger mache, der ein hervorragender Chirurg ist, bringt mir das mehr, als in der Klinik, in der ich gewesen bin. Ich verspreche mir von meinem Beruf sehr viel. Sie hat es nie eingesehen. Na ja, so war es eine Trennung im Streit. Aber ich will Ihnen nichts vorheulen. Ich möchte Sie eher fragen, ob wir nicht gemeinsam etwas unternehmen könnten. Ich habe gesehen, dass Sie ein Fahrrad besitzen. Ich wollte mir auch eins kaufen. Oder ...“
Ihrer Meinung nach war er nicht älter als sie selbst. Vielleicht sogar jünger. Sie fand ihn nett. Aber im Grunde war er so etwas wie ein großer Junge für sie. Wenn sie sich auch nach Gesellschaft sehnte, das, was er vermutlich von ihr erwartete, würde sie ihm nicht geben können und auch nicht wollen. Das hatte nicht einmal etwas mit ihren Prinzipien zu tun. Trotzdem war sie bereit, mit ihm Radtouren zu machen. Jemand, mit dem man sich unterhalten konnte, dachte sie. Und sie ermunterte ihn, sich ein Rad zu kaufen.
„Aber nicht etwa nur meinetwegen“, erklärte sie anschließend. „Ich mache gerne Radtouren mit Ihnen. Nur nehmen Sie das bitte nicht als eine Aufforderung zu Dingen, die damit nichts zu tun haben.“
Sie wusste nicht, ob er sie verstanden hatte. Aber er war Feuer und Flamme und fragte sie, ob sie morgen Nachmittag mit ihm zusammen nach Dienstschluss in ein Geschäft gehen würde, damit er sich ein Rad kaufte. Er behauptete, sich von ihrer Beratung viel zu versprechen.
Sie nahm ihm das nicht ganz ab, sagte aber zu. Und dann besann er sich wohl, dass es jetzt besser war zu gehen. Sie widersprach nicht.
Als er weg war, holte sie ihren Putztag nach.
Die große Überraschung kam am nächsten Morgen. Dr. Wieland Graf war nicht zum Dienst erschienen und hatte sich fernmündlich entschuldigt. Es war Schwester Silke, die es Doris sagte. Aber Doris musste zu Professor Winter in die Sprechstunde. Sie war nur auf einen Sprung im Stationszimmer gewesen und hatte das von Silke erfahren.
„Er hat gestern schon wie das Leiden Christi ausgesehen“, sagte Silke.
„Das habe ich bemerkt. Aber du hattest ja eine andere Begründung dafür.“
„Weiß der Teufel“, meinte Schwester Silke. „Man wird aus den Kerlen ja nie schlau. Meiner überrascht mich auch immer wieder aufs neue.“
Die Sprechstunde bei Professor Winter zog sich wieder bis weit über die Mittagspause hinaus. Erst kurz vor drei war Schluss, und die letzte Patientin hatte ihre Untersuchung hinter sich.
Doris war entschlossen, ein Angebot von Professor Winter, mit nach oben zum Essen zu kommen, abzulehnen. Aber er machte ihr dieses Angebot gar nicht, sondern sagte, als er sich den Kittel auszog:
„Sie haben genug geschuftet. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen von jetzt an frei. Es gibt sicher bei dem schönen Wetter draußen einiges zu tun, was schöner ist. Und auf der Inneren Station kommen sie auch ohne Sie aus, Schwester Doris.“
Es war ihr sehr recht, dieses Angebot zu bekommen. Sie bedankte sich und ging zur Station, um noch ein paar Sachen zu holen, die sie im Schrank hatte. Da traf sie Schwester Silke.
„Mein Gott, der schlaucht dich ganz schön, was? Hast du die ganze Zeit Sprechstunde gemacht?“
Doris nickte. „Schlimm. Als wenn sich alle Frauen weit und breit verabredet hätten, zu Professor Winter zu kommen“, sagte sie.
„Du, hör mal“, meinte Schwester Silke. „Ich weiß, dass es eine ziemliche Zumutung ist, was ich von dir verlange, aber ich bitte dich, doch einmal bei Doktor Graf vorbeizufahren. Weißt du, ich kenne ja seine Aufwartung. Und die hat vorhin angerufen. Sie kommt ja immer nur ein paar Stunden und macht ihm das Nötigste. Sie sagt, dass es ihm wirklich nicht gut geht. Aber die Frau hat so viele andere Arbeitsstellen, wo sie hingeht, dass sie sich nicht um ihn kümmern kann.“
Doris hatte sich zwar etwas anderes vorgenommen, nickte aber und erklärte bereitwillig: „Gut. Hast du die genaue Adresse?“
„Hat er sie dir nicht gesagt? Ihr wart doch zusammen im Theater.“
„Ja, schon, aber ich bin doch nicht bei ihm gewesen. Was hast du denn gedacht?“
„Nun gut. Hier muss sie irgendwo sein. Ach da.“ Schwester Silke schrieb die Adresse auf einen Zettel und gab ihn Doris. „Wenn irgendetwas ist, ruf mich an! Ich meine, wenn er irgendetwas braucht. Vielleicht sollte man auch einen Kollegen von ihm hinschicken.“
Doris steckte den Zettel ein und versprach, jetzt sofort hinzufahren.
Es war mit dem Rad weiter, als sie gedacht hatte. Und mit dem schönen Wetter schien es auch zu Ende zu gehen. Dicke Wolken verdunkelten zeitweise die Sonne.
Hoffentlich komme ich nicht noch in einen Schauer, dachte sie, als sie endlich das Haus erreicht hatte, in dem Wieland Graf oben unterm Dach hauste.
Sie schloss das Rad an einem Laternenpfahl an und betrat das Haus.
Die mannigfaltigsten Gerüche schlugen ihr entgegen. Ein Altbau, nicht sehr gepflegt. Und sie fragte sich, wieso ein Mann mit dem Einkommen von Dr. Graf in solch einem Haus wohnte.
Die Treppen knarrten unter ihren Füßen, als sie nach oben ging.
Dann hatte sie das oberste Geschoss erreicht, wo es nur zwei Türen gab. Die eine führte zum Speicher. Die andere zu Dr. Grafs Wohnung. Statt eines Schildes war dort nur eine Visitenkarte mit einer Reißzwecke befestigt, auf der sein Name stand.
Sie schellte. Aber drinnen rührte sich lange nichts.
Sie schellte erneut und rief dann durch die Tür:
„Herr Doktor Graf, ich bin es. Hören Sie, ich bin es, Doris Fenzing.“
Wieder verging eine lange Zeit. Dann schlurfte etwas heran. Die Tür wurde geöffnet.
Sie erschrak, als sie das Gesicht von Dr. Wieland Graf sah. Er hatte sich nur einen Bademantel übergezogen, das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Die Augen waren stark gerötet. Sein Gesicht wirkte eingefallen und war unrasiert.
„Ich bin gekommen, um nach Ihnen zu sehen, Herr Doktor.“
„Machen Sie die Augen zu, wenn Sie hereinkommen. Es sieht fürchterlich aus“, erklärte er mit heiserer, schwerer Stimme. Dann öffnete er die Tür so weit, dass Doris eintreten konnte.
Nach dem Schließen der Tür tat sie dann doch, was sie gestern noch vermieden hatte. Sie fasste ihm kurzerhand an die Stirn, und die glühte.
„Du lieber Gott, Sie haben hohes Fieber.“
„Habe ich“, gab er sofort zu und schlurfte vor ihr her durch eine offene Tür in ein Zimmer.
Zwei alte Schränke standen dort, die aussahen, als hätte er sie vom Sperrmüll geholt. Das Bett in der Ecke war aufgeschlagen. Er schlurfte hin, zog die Decke wieder herunter und setzte sich auf die Bettkante.
„Legen Sie sich hinein, Herr Doktor Graf. Sie sind krank“, rief ihm Doris zu.
Er nickte und schien sich wirklich nicht gut zu fühlen. Er sank regelrecht ins Bett, zog sich die Decke über und blickte auf Doris.
Sie versuchte, nicht allzu viel von dem zu sehen, was im Zimmer war. Die Luft hier drin war schlecht. Sie ging zum Fenster, und im Vorbeigehen am Bett sagte sie: „Decken Sie sich gut zu! Ich lasse frische Luft herein. – Haben Sie überhaupt schon etwas gegessen?“, fragte sie als sie die Fenster aufgeschwenkt hatte.
„Ja. Frau Hofer hat mir etwas gemacht“, erwiderte er mit schwacher Stimme.
„Und, wie lautet Ihre eigene Diagnose?“
„Ein grippaler Infekt, was sonst.“
„Und da sind Sie sicher? Lassen Sie mich mal in Ihren Mund sehen.“
„Das habe ich selbst schon getan“, wehrte er ab.
„Lassen Sie mich trotzdem schauen. Ist hier irgendwo eine Taschenlampe?“
Er deutete nur zu einem Bord hinüber. Darauf standen ein paar Dutzend Bücher. Die Taschenlampe lag obenauf. Sie nahm sie und fragte nach einem Löffel.
„Küche“, erklärte er schlapp.
Die Küche war frisch aufgeräumt. Vielleicht hatte Frau Hofer sich da erbarmt. Aber in einem Plastikkübel in der Ecke türmte sich Wäsche, schmutzige Wäsche. Doris beschloss in diesem Augenblick, sich um die Wäsche zu kümmern. Das hätte diese Frau Hofer auch machen können, dachte sie.
In der Schublade fand sie einen Löffel. Viel Geschirr gab es offenbar nicht. Aber immerhin war ein kleiner Löffel da. Sie ging zurück, bat ihn den Mund zu öffnen und leuchtete hinein.
Die Mandeln waren stark belegt. Auch die Zunge. Der Rachen gerötet.
„Vielleicht doch ein grippaler Infekt. Wie hoch ist denn die Temperatur?“
Er winkte mit einer schwachen Handbewegung ab. „Reden wir nicht davon. Lassen Sie nur. Ich gurgle mit Salzwasser.“
„Es gäbe Besseres“, wandte sie ein.
„Bloß keine Chemie.“
„Die ist für Ihre Patienten, nicht wahr?“ Sie lachte wütend auf. „Ich glaube, es wird Zeit, dass sich mal jemand um Sie kümmert.“ Sie legte wieder die Hand auf seine Stirn. Und er schloss dabei die Augen.
Die Stirn glühte. Es kam ihr noch heißer vor als vorhin.
„Gibt es ein Fieberthermometer? Wo ist denn Ihre Notfalltasche? Da haben Sie doch sicher eins drin.“
„Sehen Sie mal im Schrank nach. Der linke Schrank, oben rechts“, sagte er schwerfällig.
Und sie fand auf Anhieb das gesuchte Thermometer, wischte es ab und schob es ihm zwischen die Lippen. „Nun machen Sie das bitte mal richtig!“
Er nahm das Thermometer wieder heraus. „Das ist Unsinn“, grollte er.
„Sie sind nun Arzt, aber Sie stellen sich an wie der unvernünftigtste Patient. Im Übrigen ist Ihr Fieber so hoch, dass wir da etwas tun müssen. Entweder Wadenwickel oder Aspirin.“
„Machen Sie Wadenwickel, wenn es schon sein muss, verdammt nochmal.“
„Wenn Sie jetzt das Fieberthermometer nicht in den Mund stecken, dann steckte ich es Ihnen in den Allerwertesten. Aber ich will, dass Sie Fieber messen“, meinte sie beharrlich.
Er bequemte sich, es nun doch in den Mund zu nehmen. Und so musste er schweigen. Indessen suchte sie nach Handtüchern und etwas, womit sie die Wadenwickel umhüllen konnte, damit nicht das ganze Bett davon nass wurde.
Als sie alles beisammen hatte, ging sie zur Küche, durchtränkte die Baumwollhandtücher mit Wasser und kam damit zurück.
Sie schlug die Decke auf und machte ihm Wadenwickel. Legte die Beine anschließend in Frotteetücher und in eine Decke ein.
Im Augenblick war er für sie ein Patient. Und doch kam es ihr merkwürdig vor, ihn wie einen Kranken zu behandeln.
Als er versuchte, das Fieberthermometer aus dem Mund zu nehmen, war sie schneller. Sie schnappte danach und sah, welche Temperatur er hatte: 40,1!
„Ganz schön für den Anfang.“
„Es ist Nachmittag“, maulte er. „Da ist es immer hoch.“
„Sie nehmen jetzt Aspirin. Das haben Sie doch im Haus, nicht wahr?“
„Nichts“, entgegnete er.
„Wo ist Ihr Notfallkoffer? Haben Sie den im Wagen?“
Es ging ihm wirklich nicht sehr glänzend. Aber er tat so gut wie alles, um Doris daran zu hindern ihm zu helfen. Als er nichts sagte, entdeckte sie auf einem Stuhl seine Hosen und suchte nach dem Schlüssel.
Sie hatte den Wagen ja vor der Tür gesehen. Also würde sie hinuntergehen und sich den Notfallkoffer holen. Damit wusste sie umzugehen.
Er wollte noch einmal protestieren, aber zuerst gab sie ihm zu trinken. Dafür war er dankbar, denn er schien großen Durst zu haben.
„Und Sie bleiben jetzt im Bett. Dass Sie mir ja nicht aufstehen. Ich gehe hinunter und hole Ihre Notfalltasche. Soll ich das Fenster schließen?“
Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
Sie lief nach unten, fand die Notfalltasche auf Anhieb und kehrte wieder nach oben zurück. Unterwegs überlegte sie, ob es sich wirklich nur um einen grippalen Infekt handelte. Das Fieber erschien ihr einfach zu hoch dafür. Und sie wusste, dass sehr viele Infektionen mit Halsentzündungen begannen. Es musste also nicht unbedingt ein grippaler Infekt sein.
In der Notfalltasche fand sie Aspirin, nahm zwei Tabletten, löste sie in Wasser auf und ließ es ihn trinken. Sie nahm ein großes Glas und sagte: „Immer nur ein paar Schlucke, eine halbe Stunde lang.“
Sie kannte es von ihm, und er lächelte, weil sie seine Methode anwandte, die davon abging, ein Aspirin mit einem kleinen Schluck Wasser mit einem Mal hinunterzuspülen, was die Wirkung verminderte.
Sie hoffte, das Fieber damit etwas zu senken, forschte aber noch immer nach der wirklichen Krankheit.
Er hatte jetzt die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite gewandt. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihn genau zu betrachten, leuchtete sogar, als sie glaubte er schliefe, mit der Taschenlampe sein Gesicht ab, danach seinen Hals, suchte nach einem Exanthem, aber sie fand nichts.
Er schien jetzt wirklich zu schlafen. Sie nahm das Stethoskop aus seiner Notfalltasche und begann ihn an der Brust abzuhören. Sie konzentrierte sich auf all das, was sie darüber gelernt hatte.
Das Herz schien kräftig, trotz allem.
Der Puls war so rasch, wie es der hohen Temperatur entsprach.
Das Fieber muss runter, dachte sie. Und mit den Wadenwickeln und der Aspirin wird mir das auch gelingen. Aber was steckt noch in ihm? Wirklich nur diese Infektion im Hals? Das kann es nicht sein.
Über dem Abhören wurde er wieder wach.
„Was ... was ist los?“, fragte er verwirrt.
„Ich haben nur ihre Herztöne abgehört und ihre Atmung kontrolliert. Sie haben auch eine schöne Bronchitis.“ Und in diesem Augenblick, als sie das sagte, fiel ihr etwas ein. Sie hatte das Stethoskop noch umhängen. Sie steckte die Enden wieder in die Ohren und sagte: „Atmen Sie doch mal tief durch! Halten Sie die Luft an! Jetzt ausatmen.“
Er tat alles, was sie verlangte. Und da war sie jetzt sicher. Keine Bronchitis. O nein. Er hatte eine ausgewachsene Bronchopneumonie, eine Lungenentzündung also.
Wie zur Bestätigung musste er plötzlich husten. Dieses tiefe Atmen hatte das wohl bewirkt. Und als er hustete, beugte er sich zur Seite, nahm hastig ein Taschentuch. Er wollte verbergen, wie der Auswurf aussah. Aber sie sah es doch. Ziegelrot. Der Beweis.
Ihm brach der Schweiß aus. Er schob das Überbett von sich.
„Ich werde Professor Winter informieren, dass er herkommt“, erklärte sie. „Sie haben eine Bronchopneumonie. Das ist kein Spaß. Ich brauche Tetracyclin, um sie zielsicher zu behandeln.
Sie wollte zum Telefon gehen, aber plötzlich fühlte sie einen eisernen Griff seiner linken Hand an ihrem rechten Unterarm.
„Nein. In der Notfalltasche ... ganz rechts im Seitenfach ... Ledermycin, Ledermycin 300. Das genügt.“
Sie wusste, dass Ledermycin 300 ein Tetracyclin war, wirksam gegen die diese Lungenentzündung auslösenden Strepto- und Staphylokokken. Auch die Pneumokokken, die eigentlichen Auslöser, wurden vom Tetracyclin erreicht und vernichtet.
Es kam darauf an, sofort mit der Behandlung zu beginnen.
Sie nahm das Ledermycin, holte ein Glas mit etwas Wasser und gab ihm zu trinken, dass er die Tablette schlucken konnte. Als die rote Tablette hinunter war, nahm sie ihm das Glas aus der Hand. Jetzt folgte dem Schwitzen von eben ein Schüttelfrost. Auch ein typisches Zeichen für eine Lungenentzündung.
Sie konnte jetzt nur hoffen, dass nicht noch andere Erreger mitspielten. Zum Beispiel die gefährlichen Viren für eine Grippepneumonie, die gefährlichste der Lungenentzündungen, die es gab. Oder resistente Erreger, wie den Friedländer-Bazillus, den man sehr schwer mit Antibiotikum erreichen konnte.
Als er wieder die Augen schloss und geschwächt einzuschlafen schien, nahm sie das Taschentuch, das neben dem Kopfkissen lag, um den Auswurf zu sichern. Der musste untersucht werden.
Sie wickelte ihn in eine Papierserviette, die sie drüben auf dem Tisch liegen sah, und steckte das in ihre Tasche.
Was er jetzt brauchte, war Flüssigkeit. Aber vorher beschloss sie noch seinen Blutdruck zu messen, der häufig bei Pneumonien stark abfiel. Sie musste dann nach einem Kreislaufmittel suchen. Vielleicht hatte er so etwas in seiner Notfalltasche. Ganz sicherlich. Und sie brauchte auch Digitalis, um sein Herz zu stärken. Einen wirksamen Hustensaft musste sie auch besorgen. Aber das war noch nicht so eilig. Offensichtlich hustete er nicht sehr stark. Stattdessen sollte sie lieber für eine Medizin sorgen, die das Sekret in den Bronchien verflüssigte.
Draußen begann es zu regnen. Die Tropfen fielen aufs Fensterbrett, sodass Doris das Fenster schließen musste.
Als sie sicher war, dass er nun wirklich schlief und weder von Schüttelfrost noch von Schweißausbrüchen gequält wurde, ging sie auf den Flur. Dort hatte sie ein Telefon gesehen. Sie schloss die Tür zu dem Zimmer, in dem er lag, und wählte die Nummer der Klinik. Sie ließ sich mit Professor Winter verbinden und hatte Glück. Er war tatsächlich da und meldete sich selbst.
Sie erzählte ihm, wie sie Dr. Graf angetroffen hatte und was sie gegen seine Krankheit tun wollte.
„Ich werde sofort kommen“, erklärte Winter.
„Aber er wollte es nicht. Ich sollte Sie nicht anrufen, ich tue es heimlich.“
„In Ordnung, ich komme trotzdem. Ich werde dreimal kurz klingeln. Da wissen Sie, dass ich es bin. Ich habe die Adresse. Ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen.“
Er hielt Wort. Sein Regenmantel war trotz des kurzen Weges zum Auto und vom Wagen bis zur Haustür völlig nass.
Er hängte ihn draußen achtlos hin und ging direkt zum Bett des Patienten.
Dr. Graf war wieder halbwegs wach und schnatterte vor Kälte mit den Zähnen.
Doris hatte ihm für diesen Fall eine Wärmflasche gemacht, die sie ihm rasch gab, bis dieser Schüttelfrostanfall nachlassen würde.
„Wie sieht der Blutdruck aus?“, fragte Winter und lächelte Wieland Graf zu.
„Wieso ... wieso ist er hier?“, fragte Graf, der sich offensichtlich seiner armseligen Wohnungseinrichtung zu schämen schien. „Warum haben Sie ihn hergeholt, Schwester Doris?“
Weder Doris noch Winter gingen darauf ein. Doris erinnerte sich an die Frage nach dem Blutdruck und sagte: 110 zu 55.“
„Typisch für diese Form der Pneumonie“, stellte Winter fest und zog ein eigenes Stethoskop aus der Tasche und hörte Graf ebenfalls ab.
Doris fürchtete, er weder zu einem anderen Resultat kommen, aber es wäre ja letztlich egal gewesen, die Hauptsache für sie war, das Dr. Graf wieder gesund wurde. Und das konnte man erhoffen, wenn man eine einwandfreie Diagnose gestellt hatte. Zu ihrem Erstaunen sagte Winter:
„Hundertprozentig richtig: Bronchopneumonie. Auch das Medikament ist gut. Haben Sie genug davon da?“
„Es war eine volle Packung.“
„Gut. Dann zweimal eine. Das reicht aus. Ich habe Digitalis mitgebracht. Und wie sieht das mit einem Kreislaufmittel aus?“
„Hat er hier in der Notfalltasche gehabt. Ich habe ihm schon etwas davon eingeflößt.“
„Sehr gut. Es wäre natürlich besser, ihn in der Klinik zu haben, aus hunderttausend Gründen. Aber mit dem Transport ist das in seinem Zustand so eine Geschichte. Ich würde Sie für morgen freistellen, wenn Sie sich um ihn kümmern, bis es ihm besser geht. Auch übermorgen, wenn es sein muss. Ich komme schon notfalls auch ohne Sie zurecht. Aber wir können ihn natürlich auch in die Klinik schaffen.“
Doris schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde mich um ihn kümmern. Kommen Sie morgen noch einmal vorbei?“ Er lächelte ihr zu. „Glauben Sie, dass ich es so viel besser gemacht habe als Sie? Bis jetzt waren Ihre Maßnahmen alle richtig. Wir müssen nur ein sekretverflüssigendes Mittel haben. Und das befindet sich in meiner Manteltasche.“ Er ging hinaus, um es zu holen, gab den Saft Doris und sagte: „Sechs Löffel am Tag. Verteilen Sie das über die Zeit. Geben Sie ihm ruhig noch drei heute. Aber natürlich nacheinander. Sie wissen ja Bescheid. Und er soll viel trinken, wenn er es verträgt. Tee oder was immer er mag. Nicht zu viel Fruchtsaft. Ich will mir noch seinen Hals ansehen, aber der ist bestimmt wund. Und deshalb langsam mit den Fruchtsäften.“
Sie maß noch einmal Fieber, und es war trotz Aspirin und Wadenwickel noch ein wenig angestiegen. Winter schien das nicht zu beängstigen. Er gab Dr. Graf selbst eine Digitalis-Injektion und verabschiedete sich anschließend.
Doris war wieder mit Dr. Wieland Graf allein. Einem erneuten Schüttelfrost war ein Schweißausbruch gefolgt. Ein Hustenanfall kam anschließend. Und wieder dieser ziegelrote Auswurf. Sie kannte das ja, und doch war es für sie anders als bei einem normalen Patienten.
Der Anfall hatte ihn so geschwächt, dass er schlief. Er war offenbar total ermattet.
Sie nutzte die Zeit, um in der Wohnung etwas aufzuräumen, soweit das jene Frau Hofer nicht schon getan hatte. Sehr gründlich schien diese Frau Hofer nicht zu sein. Dafür umso geschwätziger. Denn durch sie erfuhr ja Schwester Silke alles. Nur in diesem Falle, der Krankheit von Dr. Graf, hatte die Geschwätzigkeit einmal etwas Gutes gehabt.
Doris straffte das Bett, ohne dass ihr Patient darüber wach wurde. Sie wischte ihm den Schweiß von der Stirn, erneuerte regelmäßig die Wadenwickel, und selbst davon wurde er nicht wach.
Dass er so tief und fest schlief, machte sie besorgt. Sie maß erneut seinen Blutdruck, fühlte seinen Puls, hörte ihn mit dem Stethoskop ab, aber nichts war den Umständen gemäß unnormal.
Draußen begann es zu dunkeln. Sie machte Licht an und saß am Bett des Kranken.
Als sie starken Hunger verspürte und sich etwas zu essen machen wollte, fand sie nur angeschimmeltes Brot im Brotkasten. Der Kühlschrank war so gut wie leer.
Diese Frau Hofer, dachte sie, hat sich in Wahrheit um nichts gekümmert.
Wer weiß, wie gut er sie dafür bezahlen musste.
Die Wohnung war ziemlich verdreckt. Frau Hofer schien tatsächlich ihr Geld nie wert gewesen zu sein.
Es war schon zu spät, um noch etwas einzukaufen, und Doris überlegte, wie sie an etwas Essbares kommen konnte. Sie brauchte ja auch etwas für ihn, wenn er wirklich etwas wollte.
Sie hatte sich überlegt, ihm ein Apfelkompott zu machen oder etwas Ähnliches. Vielleicht auch einen Obstsalat. Womöglich hätte er eine Suppe gewollt. Aber nichts von dem war im Haus zu finden.
Da fiel ihr Silke ein. Sie ging draußen zum Telefon und rief ihre Kollegin an. Sagte ihr, was hier los war und bat sie, ihr doch irgendetwas zu schicken.
„Ich komme selbst“, sagte Schwester Silke und war eine halbe Stunde später mit einem ganzen Korb voller Lebensmittel da. Auch ein paar Flaschen mit Sprudel und Säften hatte sie mitgebracht.
„Ich will mich nicht lange aufhalten, Doris“, sagte sie gleich in der Tür. „Mein Mann wartet unten mit dem Wagen.“
„Nun komm wenigstens mal mit herein“, erwiderte Doris. „Schönen Dank, dass du mir das alles gebracht hast.“
„Ach was, das macht mir nichts aus. Wenn es dir nur hilft.“
„Hast du aufgeschrieben, was es kostet? Ich will es dir bezahlen.“
„Ich werde verhungern, wenn du das nicht sofort tust“, spöttelte Silke. Dann standen sie zu zweit an Dr. Grafs Bett. Er schlief noch immer.
„Mein Gott“, sagte Silke nur. „Wo hat er das nur erwischt?“
„Das frage ich mich auch.“
Silke warf Doris einen bezeichnenden und vielsagenden Blick zu, aber sie sagte nicht, was sie dachte. Doris ahnte es auch so.
Als Silke ging und sie sich draußen auf dem Flur verabschieden wollte, sagte sie noch zu Doris:
„Die Wohnung sieht ja schlimm aus. Er hat doch Frau Hofer. Na, so richtig geputzt hat die offenbar nie. Sie ist ja auch sehr alt, vielleicht sieht sie den Dreck gar nicht mehr. Hier müsste mal jemand aufräumen. Überhaupt, so eine Wohnung zu haben; so ein altes Loch. Ich möchte nur wissen, wo er vorgestern mit Heidi gewesen ist. Vielleicht waren die schwimmen, und er hat sich erkältet.“
Doris hatte darauf keine Antwort, und es bedeutete ihr auch nichts. Auch wenn ihr die Sache mit Heidi nicht gerade sympathisch war, hatte das für sie im Augenblick keinerlei Bedeutung mehr. Es ging ihm nicht gut. Und hier zeigte sich, dass eben auch ein Arzt von einer schweren Krankheit erwischt werden konnte. Die Frage war nur, ob und wie schnell das Antibiotikum wirkte.
Als Silke gegangen war, aß Doris ein paar Happen. Darüber wachte Wieland Graf auf. Schwach, aber in etwas besserer Verfassung als vorhin, lächelte er Doris an.
Sie hatte noch den Mund voll, kaute rasch und schluckte den Bissen hinunter. „Möchten Sie etwas essen?“, fragte sie.
„Durst“, sagte er nur. Und sie beeilte sich, ihm einen Schluck zu trinken zu holen. Sie hatte draußen abgekühlten Tee. Und den schluckte er gierig hinunter. Ein ganzes Glas davon und dann noch ein zweites. Danach war er so erschöpft, dass er wieder die Augen schloss und apathisch im Kissen lag.
Bei dieser Gelegenheit gab sie ihm auch das sekretverflüssigende Mittel, das Professor Winter mitgebracht hatte.
„So gefallen Sie mir schon besser“, sagte Doris. „Jetzt nehmen Sie wenigstens die Medizin und sind nicht mehr so störrisch.“
Als sie dann Fieber maß, stellte sich heraus, dass es etwas abgesunken war. Er hatte nur noch 39,5.
„Wie hoch?“, wollte er wissen.
Sie sagte es ihm und fügte hinzu: „Vielleicht sind Sie morgen wieder über den Damm. Aber Sie müssen liegen bleiben. Und wenn es Ihnen morgen besser geht, machen wir Atemübungen. Sie wissen ja selbst, wie wichtig das ist.“ Er wusste alles. Wie viele Hunderte von Patienten hatte er schon behandelt, wenn sie unter Pneumonie litten. Doch er selbst gebärdete sich wie jemand, der nicht einmal wusste, was Lungenentzündung ist. Ganz kurios wurde es für Doris, als er plötzlich sagte:
„Ich muss aufstehen. Ich muss ... mal auf die Toilette gehen.“
„Aber nein. Das fehlte noch. Sie bleiben stramm liegen. Was ist es denn? Verdauung oder ...“
Er schüttelte den Kopf. „Klein. Nur klein“, erwiderte er. „Aber ich kann doch ...“
Er wollte sich aufrichten, und sie drückte ihn an den Schultern zurück. „Ich hole eine Flasche.“
Eine der Flaschen, die Silke gebracht hatte, enthielt Graninisaft. Sie nahm sie kurzerhand, füllte den Inhalt draußen in einen Krug, spülte die Flasche aus und kam wieder damit zurück.
„Hier haben Sie eine wunderbare Ente. Wälzen Sie sich etwas auf die Seite. Soll ich Ihnen dabei helfen?“
Er bekam einen roten Kopf. „Nein, danke. Ich ... ich kann das allein, bitte, bitte ...“
Sie wandte sich ab, trat ans Fenster und hoffte, dass er Kraft genug hatte, um das wirklich allein zu können.
Als er sich räusperte, wandte sie sich um. Sie nahm ihm die Flasche ab, und es schien ihm sehr peinlich zu sein. Sie ging zur Toilette und stellte bei der Gelegenheit fest, dass auch die nicht gerade ein Ausbund an Reinlichkeit war. War das Abortbecken selbst sauber, so entdeckte sie doch in den Winkeln des Raumes Schmutz. Und an der Decke sogar riesige Spinnweben. Vielleicht, überlegte sie, hat diese Frau Hofer tatsächlich schlechte Augen. Aber er hätte das doch ebenfalls sehen müssen. Vielleicht interessierte es ihn gar nicht.
Sie ging zu ihm zurück, und er vermied es, sie anzusehen.
„Warum stellen Sie sich so an“, sagte sie und legte ihre Hand auf seine Stirn. Sie tat es, um festzustellen, wie heiß die war. Aber ihm bedeutete das wohl mehr. Als sie die Hand wieder wegnahm, machte er ein erschrockenes Gesicht.
In diesem Augenblick ahnte sie, was in ihm vorging. Schon vorhin war ihr sein Erröten aufgefallen. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass es ihr selbst auch nicht so gleichgültig war, wie er vielleicht vermutete. Jedenfalls hatte sie durchaus andere Gefühle und Empfindungen, ihn zu behandeln als irgendeinen Fremden in der Klinik. Dabei versuchte sie sich selbst ständig einzureden, dass er im Grunde ebenso ein Patient war wie irgendein anderer. Und doch gab es dazu kaum Parallelen.
Sie legte ihre Hand wieder auf seine Stirn, und sein Gesicht, eben noch voller Erschrecken, entspannte sich. Er lächelte sogar.
Plötzlich ergriff er ihre Hand, nahm sie von der Stirn weg und führte sie an seinen Mund. Seine heißen Lippen pressten sich auf ihren Handrücken. Dann schaute er gespannt in ihre Richtung.
Sie entzog ihm die Hand und sah ihn streng an. Aber sie sprach kein Wort. Sie sah ihn nur an. Doch es war keinerlei Missbilligung in ihrem Blick. Im Grunde Besorgnis. Ahnte er etwas von ihren Gefühlen? Spürte er, wie sie von ihm dachte?
Aber plötzlich richtete sie selbst wieder diese Wand zwischen sich und alle anderen Menschen auf. Auch zwischen sich und ihn.
Sie erhob sich und sagte leise, aber doch eindringlich:
„Das sollten Sie nicht tun.“ Dann wandte sie sich ab und holte ihm noch einmal Tee. Dann zog sie eine Spritze mit Depot-Novadral auf, um es ihm intramuskulär zu geben. Sie hätte normalerweise die Spritze in seinen Po gejagt. Aber aus Gründen, die sie selbst nicht hätte erklären können, spritzte sie es ihm in den Oberarm.
Er knurrte, weil sie ihn nicht vorher gefragt hatte.
„Es ist Depot-Novadral“, sagte sie nur. „Und sie wissen selbst, dass Sie dieses Kreislaufmittel brauchen. Das Fieber geht etwas zurück, und jetzt ist Ihr Kreislauf gefährdet.“
Nach Mitternacht gab sie ihm noch einmal Tetracyclin, diese rote Ledermycin-Tablette. Er schluckte sie brav. Danach schlief er wieder.
Ohne dass er es bemerkte, maß sie ihm dann im After noch einmal Fieber. Er lag auf der Seite, und sein Atem war besser als noch am Abend.
Sein Fieber hatte sich mittlerweile auf 38,8 gesenkt. Doris war erleichtert.
Sie hoffte, das er jetzt länger schlafen würde, und weil sie selbst müde wurde, streckte sie sich im Sessel aus, angezogen wie sie war, und versuchte ein Nickerchen zu machen.
Doris hätte nicht sagen können, wie lange sie geschlafen hatte, als sie vom Schellen des Telefons aufschreckte. Sie brauchte ein paar Sekunden, um überhaupt zu begreifen, wo sie sich befand. Sie war steif vom ungünstigen Liegen im Sessel, ächzte, als sie sich aufrichtete und warf sofort einen besorgten Blick auf ihren Patienten.
Aber der schlief noch immer.
Rasch stand sie auf und lief in den Korridor, damit die Klingelei des Telefons aufhörte. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor vier.
Welcher Wahnsinnige ruft so spät an?, dachte sie und hob ab.
Als sie sich nur mit „Hallo“, meldete, klang ihre Stimme vom Schlafen spröde und war noch dunkler als ohnehin.
„Willi bist du es? Hier ist Linda. Schatzi, ich habe solche Sehnsucht nach dir ...“
„Linda?“, fragte Doris, und ihre Stimme klang noch immer spröde und dunkel.
„Ja. Mein Gott, bist du verschlafen. So geht es doch nicht weiter. Schatzi, sei doch vernünftig und sei kein Frosch. Lass uns wieder zusammenziehen. Es ist alles ein Irrtum gewesen, ein Versehen. Es tut mir leid. Ich hab es dir schon so oft gesagt. Wenn du willst, komme ich sofort zu dir.“
„Wer, zum Teufel ist da?“, fragte Doris. Und jetzt, wo sie mehr als ein Wort gesprochen hatte, war es deutlich zu hören, dass sie eine Frau war.
„Ist da nicht Doktor Graf?“, hörte sie die Frauenstimme fragen.
„Nein. Was wollen Sie von Doktor Graf?“
„Wer sind Sie? Hallo, wer sind Sie denn?“
„Das geht Sie doch nichts an“, sagte Doris. „Und wer sind Sie?“
„Na hören Sie mal, ich bin die Frau von Doktor Graf.“
Jetzt fiel es Doris wie Schuppen von den Augen. Natürlich, sie hieß ja Linda Hüttner!
„Ach Sie, Frau Hüttner. Na wunderbar, leider können Sie Herrn Doktor Graf nicht sprechen. Versuchen Sie es doch mal übermorgen.“
„Hallo, wer sind Sie denn überhaupt? ...“
Doris legte auf und ging zu Wieland Graf zurück.
Als sie näher kam, sah sie, dass er wach war. Er blickte sie forschend an und fragte leise:
„Wer ... wer war das?“
„Frau Linda Hüttner, ihre geschiedene Frau. Morgens um vier. Ich habe ihr gesagt, dass Sie vor übermorgen nicht zu sprechen sind. Und jetzt sollten Sie weiterschlafen. Oder haben Sie Durst?“
„Ich brauche schon wieder die Flasche. Es tut mir sehr leid, aber ich kann doch aufstehen. Ich fühle mich besser. Ich ...“
„Reden Sie nicht so viel, sonst müssen Sie wieder husten. Legen Sie sich auf die Seite. Ich gebe Ihnen die Flasche.“
Es war ihm sehr peinlich. Und sie war schon drauf und dran, ihm dazu etwas zu sagen, ihn zu beruhigen, ihm zu erklären, dass er weiß Gott nicht der erste Patient war, dem sie eine Flasche zum Urinieren gab. Aber sie unterließ es. Nein, dachte sie, das würde ich ihm nicht sagen. Denn so gleichgültig, wie ich tue, ist es mir ja auch nicht. Überhaupt ist mir nichts gleichgültig hier. Was ist nur mit mir los? Ich mache mir Sorgen um ihn, viel mehr Sorgen, als ich das jemals bei einem Patienten täte. Ich ertappe mich dabei, dass ich ihn beobachte, wie er daliegt und schläft. Und dass es mir selbst wehtut, wenn ich ihm eine Spritze geben muss.
Nach dem Wasserlassen gab sie ihm wieder Tee und dann seinen Hustensaft. Danach schlief er erneut ein.
Draußen begann es schon zu tagen. Die Amseln zwitscherten in den Bäumen. Und ein paar Bäume gab es auch hier im Hof.
Sie öffnete das Fenster, ließ die frische morgendliche Luft herein und stand eine Weile da und blickte in den heller werdenden Himmel.
Die Stadt erwachte. Irgendwo klapperten Kannen. Woanders klappte ein Fenster. Und aus der Tiefe des Hauses drang leise Musik.
Irgendwo quietschte eine Straßenbahn um die Ecke, und von hier aus konnte Doris in den Hof einer Bäckerei schauen. Aus dem Kamin des Backhauses kräuselte Rauch.
Es hatte die Nacht geregnet, doch nun war der Regen vorbei. Der merkwürdige Duft von feuchter Erde und feuchtem Gemäuer drang Doris in die Nase.
Sie wandte sich wieder ihrem Patienten zu. Er schlief.
Doris dachte an sich und wollte sich Kaffee machen. Silke hatte ja welchen mitgebracht. Aber sie fand keinen Filter. Nichts dergleichen war im Schrank zu entdecken. Also brühte sie den Kaffee nach Großmutterart und ließ ihn sich setzen, schmierte sich in dieser Zeit eine Scheibe Weißbrot mit Butter und aß dann.
Sie überlegte, was sie ihrem Patienten bereiten sollte und entschloss sich, von den Weißbrotscheiben so etwas wie Toast zu machen. Und weil in dem Korb von Silke auch eine Flasche Milch war, wollte sie ein Glas davon erwärmen und ihm von dem Honig, den Silke ebenfalls mitgebracht hatte, ein paar Löffel hineintun. Das würde ihm sicherlich helfen.
Wenig später wurde er wach. Es war jetzt schon halb sieben, und sie überraschte ihn mit dem Frühstück.
Er verspürte offensichtlich wirklich Appetit, trank ein paar Schlucke von der heißen Milch mit Honig, knabberte an dem getoasteten Weißbrot mit Butter, aber das Essen ermüdete ihn rasch, und er nahm von allem nicht viel.
Die Wadenpackungen machte ihm Doris ab und sagte ihm, dass sie sein Bett machen müsse. Vorübergehend sollte er sich auf die eine Seite legen.
Gehorsam tat er alles, was sie verlangte, und als sie sein Bett gemacht hatte, ohne dass er deshalb aufstehen musste, breitete sich ein zufriedenes Lächeln in seinem Gesicht aus. Er nahm von selbst das Fieberthermometer und fragte: „Ist es sauber?“
„Natürlich. Ich mache es jedes Mal hinterher sauber. Sie können es auch in den Mund nehmen“, erklärte Doris.
Er tat es auch. Und das Fieber war nun konstant auf 38,8.
Doris war klar, dass es so schnell nicht sinken würde. Aber so erschien es ihr besser als noch gestern Nachmittag.
Er schien jetzt richtig wach zu sein und fühlte sich auch relativ wohl. Aber das Sprechen strengte ihn an, und oft musste er danach husten. Sie ermahnte ihn, lieber still zu sein und setzte sich zu ihm ans Bett.
„Erzählen Sie mir ... erzählen Sie mir von sich.“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, erklärte sie. Aber sein bittender Blick ermunterte sie dann doch, ihm aus ihrer Kindheit zu erzählen. Und ohne das sie es selbst wollte oder darüber nachdachte, erzählte sie weiter und kam dann auf Dinge zu sprechen, von denen sie sich gar nicht bewusst wurde, dass sie die eigentlich gerade ihm niemals erzählen wollte. Aber sie tat es. Und er hörte zu. Als sie sich einmal unterbrach, hatte er wohl Angst, sie könnte aufhören. Seine Hand fasste wieder um ihr Handgelenk. Und er nahm sie auch nicht weg, als sie ihren Arm etwas anhob, sondern zog mit mehr Kraft, als sie ihm in seinem Zustand zugetraut hatte, ihren Arm wieder zurück.
Sie sträubte sich nicht dagegen, dass er sie so festhielt und erzählte weiter.
Es war ein eigenartiges Gefühl, seine Hand an ihrem Arm zu spüren. Ihr war, als liefe ein elektrischer Strom hindurch und als könnte sie seinen Puls spüren.
Sie sprach weiter. Und es kränkte sie auch nicht, als er wieder einschlief. Vorsichtig löste sie seine Hand von ihrem Arm und erhob sich. Sie fühlte sich selbst hundemüde, ließ sich wieder in den Sessel sinken und schlief ein.
Nach einer knappen Stunde war sie schon wieder wach. Ihr Patient schlief tief und fest, atmete viel gleichmäßiger als noch in der Nacht, und sie wollte ihn zur Einnahme seiner Medikamente nicht wecken.
Als er dann doch einmal erwachte, gab sie ihm eine erneute Kreislaufspritze und ließ ihn das Ledermycin schlucken. Danach schlief er wieder ein.
Er schläft sich gesund, dachte sie und betrachtete ihn, während sie vor seinem Bett stand.
In ihrem Gefühl war sie hin- und hergerissen zwischen ihren Vorsätzen und ihren inneren Wünschen.
Nun, da er es nicht merkte, versuchte sie, sich nicht zu verstellen. Sie mochte ihn ja. Und mehr als das. Er war ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Und vielleicht hatte sie sich gerade deshalb ihm gegenüber so kratzbrüstig gezeigt aus Angst, es könnte wieder etwas werden und in einer Enttäuschung enden. Aber nun, da er so krank war, wurde ihre Zuneigung zu ihm nur noch stärker. Sie vermied es, in ihren Gedanken den Begriff Liebe zu gebrauchen. Und doch wusste sie, dass es so war.
Noch einmal bäumte sich alles in ihr dagegen auf. Und wenn ich ihn tausendmal liebe, dachte sie, es wird so enden, wie alles endet. Und dann ist da noch die Geschichte mit Heidi. Ich werde ihn nie danach fragen. Und doch werde ich den Gedanken an den Augenblick, als sie zu ihm in den Wagen stieg, nicht los. Ich habe kein Recht, ihn zu kritisieren. Er ist nicht mein Mann, der mir da etwas erklären müsste.
Sie hatte ihn angeblickt, aber ihn gar nicht mehr bewusst gesehen, während sie ihren Gedanken nachhing. So merkte sie nicht, dass er wach geworden war, sie anschaute, aber kein Wort sprach. Vielleicht spürte er in diesem Augenblick, was in ihr vorging.
Dann wurde ihr bewusst, dass er nicht mehr schlief. Sie erschrak, schien sehr überrascht und lächelte.
„Na, wie fühlen Sie sich? Möchten Sie etwas trinken? Oder etwas essen?“
Er lächelte schwach. „Nein“, murmelte er. „Nur ... ich brauche schon wieder die Flasche.“
Es schien ihm aber nicht mehr so schwerzufallen, das zu sagen. Und beide lachten sie, als sie ihm die Flasche brachte, sich abwandte, und sich die ganze Prozedur wiederholte, die sie schon kannte. Er räusperte sich, und sie brachte dann die Flasche weg.
Sie nutzte die Gelegenheit seines Wachseins, um ihn wieder abzuhören, seinen Blutdruck zu prüfen, seinen Puls, seine Temperatur zu messen. Alles sah besser aus. Erheblich besser. Doch nun am Nachmittag erwies sich das sogar als gutes Zeichen. Normalerweise hätte es wieder ansteigen müssen. Offenbar hatte er dank des Antibiotikums den kritischen Punkt bereits überwunden.
Aber er war noch sehr schwach. So schwach, dass er wenig später wieder einschlief.
Sie wusste aus Erfahrung, dass dieser Schlaf die Kräfte wenigstens in etwa erhielt. Patienten, die nicht schlafen konnten, waren da schlimmer dran.
Aber dann gegen Abend wurde er erneut wach, und sein Schlafbedürfnis schien endgültig gestillt zu sein. Er konnte sich sogar aufsetzen. Und sie hätte nichts dagegen, veranlasste ihn, ein paar Atemübungen zu machen, und da das Fenster des warmen Wetters wegen geöffnet war, sog er auch frische Luft in seine Lungen. Sie ließ ihn schnell einatmen und langsam ausatmen. Eigentlich hätte er das alles selbst wissen müssen. Und sie war sicher, dass er es wusste. Nur am eigenen Leib, da schien er das nicht in die Praxis umsetzen zu wollen und ließ sich das sagen, wie ein x-beliebiger Patient.
Er trank und aß wieder eine Kleinigkeit. Diesmal eine Suppe, die sie ihm bereitet hatte. Es war keine große Sache. Eine Fertigsuppe eben, die ihr Silke mitgebracht hatte.
Als er gegessen hatte, fragte sie ihn:
„Wie kommen Sie überhaupt an diese Lungenentzündung? Haben Sie sich erkältet?“
Er überlegte erst, bevor er sprach, und schien mit sich zu ringen, ob er den Grund dafür erzählen sollte oder nicht. Doch dann sagte er:
„Ich glaube, es war am Dienstag. Da habe ich während der Sprechstunde, wie Sie wissen, Schwester Heidi als Hilfe gehabt und erwähnte im Gespräch mit einem Patienten, dass ich ein Grundstück suche. Ein Haus irgendwo abseits des Großstadtgetümmels. Ich will dieses Haus kaufen. Und dieser Patient ist von Beruf Immobilienmakler.“
„Ich weiß, wen Sie meinen, Herrn Schranz.“
Er nickte. „Ach ja, stimmt. Den hatten wir ja in der letzten Zeit ein paarmal bei uns. Ja, also wie gesagt, ich sagte ihm, ich suche ein Grundstück. Wir sprachen darüber. Schwester Heidi hatte es gehört. In der Mittagspause überraschte sie mich mit dem Vorschlag, mir ein Grundstück zu zeigen. Das Vorwerk eines alten Gehöftes nördlich von München. Sie beschrieb mir das so genau, dass ich tatsächlich äußerst interessiert war. Ich bat sie um die Adresse, aber sie erklärte sich bereit, mich dorthin zu begleiten. Nach Dienstschluss bin ich mit ihr hingefahren. Und dieses Vorwerk liegt an einem See. Es war tatsächlich sehr romantisch da. Wunderschön. Ich hätte es kaufen, aber auch pachten können. Sie kannte zufällig den Sohn des Besitzers. Wir wurden sehr schnell einig. Danach bat mich Schwester Heidi, mit ihr eine Ruderpartie auf dem See zu machen. Es gab da ein Ruderboot. Es war nicht sonderlich gut in Takt, aber wir nahmen es und fuhren los.“
„Aber es war doch schön warm und herrliches Wetter“, meinte Doris.
„Das stimmt. Es wimmelte sogar von Mücken auf dem Wasser. Aber da geschah etwas, was ich nicht eingeplant hatte. Irgendwie muss mich Schwester Heidi missverstanden haben. Ich hatte mich bei ihr bedankt und ihr ein paar nette Worte gesagt für ihre Vermittlung. Da stand sie plötzlich im Boot auf und wollte vom Heck, wo sie saß, in die Mitte. Aber sie verlor das Gleichgewicht. Das Boot schwankte, und weil ich damit überhaupt nicht gerechnet hatte, machte ich keine Gegenbewegung. Das Boot schwankte so sehr, dass sie ins Wasser flog.“
„Und Sie sind hinterhergeschwommen, nicht wahr?“
„Nicht sofort. Sie schrie aus Leibeskräften und machte keine Anstalten, sich am Bootsrand festzuhalten. Das wäre sehr leicht möglich gewesen. Ich nahm an, dass sie sich verletzt hatte. Zuletzt schrie sie auch gar nicht mehr. Sie tauchte einfach weg. Da bin ich natürlich hinterhergesprungen. Ich konnte sie nicht fassen. Sie war ja weggetaucht.“
„Und da haben Sie sich erkältet.“
„Erkältet hatte ich mich schon vorher. Ich habe mir irgendwo einen grippalen Infekt eingefangen gehabt. Und das Bad hat mir noch den Rest gegeben.“ Er lächelte gequält. „Jedenfalls habe ich sie aus dem Wasser geholt. Ihr war nichts passiert. Sie krampfte sich so an mich, dass ich fürchtete, selbst unterzugehen. Und inzwischen war auch das Boot ein Stück abgetrieben. Na ja, ich habe sie jedenfalls in Sicherheit gebracht.“
„Hatten Sie wenigstens Gelegenheit, Ihre nassen Sachen auszuziehen und zu trocknen?“
„Nein, nein. Ich habe eine Decke gehabt, in die habe ich sie eingepackt und sie dann so rasch wie möglich nach Hause gefahren.“
„Und Sie saßen in den nassen Sachen und haben gefroren.“
„Zunächst einmal gar nicht“, widersprach er. „Mir wurde erst später kalt. Und am nächsten Tag hatte ich einen Mordsschnupfen und dachte schon, dass es dabei bliebe. Aber Sie sehen, es ist mehr daraus geworden. Was ist mit ihr überhaupt? Haben Sie sie einmal gesehen?“
„Ihr geht es glänzend, soviel ich weiß“, erwiderte Doris. „Ich hatte jedenfalls am Tag darauf, am Mittwochvormittag nämlich, nicht den mindesten Eindruck, dass es ihr irgendwelchen Schaden bereitet haben könnte. Im Gegenteil.“
Er blickte sie verwundert an. „Wie meinen Sie das?“
„Sie ist herumstolziert wie eine Pute. Und im Grunde ist sie das für mich sowieso.“
Er lächelte. „Ich weiß, dass sie eine dumme Gans ist. Sie geht mir auch auf den Wecker. Aber mit diesem Grundstück hat sie mir einen Gefallen getan.“ Er erschrak plötzlich. „Du lieber Gott, ich hatte mich für heute verabredet. Was ist für ein Tag?“
„Freitag.“
„Ja, heute Morgen wollte ich mit ihm zum Notar. Verdammt, jetzt ist das Geschäft geplatzt. Können Sie mir nicht das Telefon bringen, dass ich ihn anrufe? Die Schnur ist lang. Sie langt bis zum Bett.“
„Soll ich ihn nicht lieber anrufen? Ich meine diesen Notar.“
„Nicht den Notar. Den Besitzerssohn. Irgendwo in meiner Jacke ist die Adresse, eine Visitenkarte von ihm.“ Doris fand die Karte voller Wasserflecken und rief auch gleich an. Sie hatte Glück und bekam den Mann an den Apparat, schilderte ihm, was Dr. Graf zugestoßen war und fand bei dem anderen Gesprächsteilnehmer vollstes Verständnis. Der sagte lediglich:
„Wir haben die Sache mit Handschlag abgemacht. Da kommt es auf einen Tag oder eine Woche nicht an. Wenn der Herr Doktor wieder gesund ist, soll er sich bei mir melden. Ich hatte übrigens schon von Heidi erfahren, dass er krank sein muss.“
Nach ein paar unpersönlichen Redewendungen legte Doris dann auf, berichtete Wieland Graf davon, und der schien sichtlich erleichtert.
„Es ist wirklich ein schönes Grundstück. Ich will es kaufen. Das Geld dazu hätte ich. Und dann komme ich raus aus dieser Räuberhöhle hier. Ich habe mich nur gefragt, ob es Sinn hat. Da wäre nur noch Linda. Dieses Kapitel, hatte ich gehofft, sei abgeschlossen. Aber das dürfte ein Irrtum gewesen sein. Sie hat doch irgendwann letzte Nacht angerufen, nicht wahr?“
„Hat sie. Sie wird sich auch morgen wieder melden.“
Er ergriff plötzlich die Hand von Doris, sah sie an und fragte leise: „Sehen Sie mir doch mal in die Augen.“
„Das tu ich doch“, meinte Doris.
„Nein, noch näher. Richtig. Ich möchte auch in Ihre Augen sehen.“
Sei beugte sich, ohne zu ahnen, was er vorhatte, etwas tiefer über ihn. „Sehen Sie meine Augen jetzt?“
„Noch nicht richtig. Noch näher, noch näher.“ Und dann hatte er seinen Arm um ihren Nacken geschlungen und zog ihren Kopf an sein Gesicht.
Seine Lippen pressten sich auf die ihren. Sie wollte sich aufrichten und stemmte sich aufs Bett. Aber er ließ sie nicht los.
Alles in ihr sträubte sich gegen das, was er vorhatte. Und doch war ihr warm ums Herz. Als er ihren Widerstand spürte, löste er seinen Arm von ihrem Nacken.
Sie richtete sich auf und machte ein wütendes Gesicht. „So nicht, Herr Doktor Graf. Ich bestimme selbst, wann ich das möchte und wann nicht. Und jetzt und so möchte ich es keinesfalls.“
Er blickte zur Seite und murmelte: „Tut mir leid. Entschuldigen Sie.“
„Jetzt fangen Sie wieder an wie damals nach dem Kino. Ich kann das nicht ausstehen.“
Er schwieg und tat, als schliefe er. Er kam ihr vor wie ein kleiner Junge, der etwas angestellt hatte und sich nun schämte. Sie war sicher, dass er nicht schlief.
Sie hantierte erst noch eine Weile in der Küche, spülte das Geschirr, das im Laufe des Tages beschmutzt worden war und kam nachher zu ihm zurück. Schon von der Küchentür aus hatte sie gesehen, dass er wach war. Aber als sie eintrat, schloss er rasch die Augen.
Sie trat ans Bett, stand eine ganze Weile da, und er wagte wohl nicht die Augen zu öffnen. Plötzlich beugte sie sich über ihn und küsste ihn zart auf den Mund. Gleichzeitig strichen die Spitzen ihrer Finger über seine Schläfen.
Bevor er seine Arme um sie schlingen konnte, richtete sie sich auf und sagte leise: „Jetzt wollte ich es.“
Er streckte die Hände aus, sah sie flehend an, und diesmal verweigerte sie sich ihm nicht. Sie beugte sich wieder über ihn, und ließ es geschehen, dass er sie an sich zog.
Er küsste sie wie ein Ertrinkender. Plötzlich schellte es an der Tür.
Erst taten sie beide nichts. Aber dann richtete sich Doris auf und sagte mit einem warmen Blick auf Wieland: „Ich bin gleich zurück.“
Als sie öffnete, stand Professor Winter vor der Tür.
„Na, was macht unser Patient?“, fragte er und streckte Doris fröhlich die Hand entgegen.
„Es geht ihm wieder ganz gut. Jedenfalls viel besser als gestern.“
Professor Winter warf ihr einen prüfenden Blick zu, unter dem Doris errötete. Es ist lächerlich, dachte sie, dass ich rot werde. Aber ich kann nichts dagegen tun. Und sie war froh, dass er an ihr vorbei ins Zimmer ging.
„Na, mein lieber Herr Graf, wie sieht es aus mit uns?“, hörte Doris ihn sagen. Und Wieland antwortete.
„Ich könnte vor Begeisterung aus dem Bett springen, die ganze Welt umkrempeln und Bäume ausreißen.“
„Na, nur nicht so stürmisch, junger Mann. Das lassen wir mal besser bleiben“, meinte Winter lachend. „Aber Ihre Stimme klingt schon erheblich frischer als gestern. Na, sehen wir uns den ganzen Kram mal an ...“