Читать книгу Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore - Страница 16
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ОглавлениеWie ein glitzerndes Band lag die Straße zu ihren Füßen. Die Sonne prickelte angenehm auf ihrer Haut, sie liebte das und fühlte sich zufrieden und glücklich. Langsam schlenderte sie dahin, träge, müßig, so gar nicht eilig. Ihre Augen waren halb geschlossen und die Lippen ein wenig aufgeschürzt. Hastig gingen die Passanten an ihr vorbei, mit verkniffenen Gesichtern, immer wieder irgendetwas nachjagend. Nein, sie konnte den Sonnenschein genießen, ihn auskosten und auf ihrer Haut spüren. Jede Pore atmete, und das Blut pulsierte warm durch die Adern.
Unter den Wimpern sah sie sehr wohl, wie die Männer ihr bewundernde Blicke zuwarfen. Aber sie tat so, als bemerke sie es nicht.
Die Einkaufstasche baumelte in der rechten Hand. Jetzt blieb die junge Frau vor einem Schaufenster stehen. Sie musterte sich eingehend. Ganz klar und deutlich konnte sie sich sehen: langbeinig, schlanke Glieder, schmaler Kopf, eine üppige, blonde Haarfülle und blaue Augen. Anja lächelte leicht. Unwillkürlich spreizte sie ein wenig die Tasche von sich, sah sich noch einmal genau an. Perlweiße Zähne kamen zum Vorschein, wenn sie die etwas vollen Lippen öffnete. Ja, sie war schön, sie wusste es und fühlte es bis ins Herz. Und dieses Gefühl war herrlich.
Dann sah sie die Auslagen. Sie war zufällig vor einem sehr teuren Konfektionsgeschäft stehen geblieben. Ihre Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz. Wer sich das leisten konnte! Neid kam in ihr hoch. Sie hasste es, rechnen zu müssen, nicht mit vollen Händen das Geld ausgeben zu können. Und sie hasste es, nicht reich zu sein. In den Filmen und Zeitschriften sah sie immer wieder solche Luxusgeschöpfe, die sich alles leisten konnten. Auch in ihrer Nachbarschaft lebte ein Mädchen, dessen Vater reich war, das sich alles kaufen konnte, wonach sein Herz begehrte. Und dabei war es nicht so schön wie sie.
Fast gierig hingen ihre Augen an dem knallgelben Pullover. Einfach entzückend. Leise seufzte sie auf und wandte sich halb um.
»Fräulein, so traurig?«
Sie schrak auf und stieß mit einem älteren Herrn zusammen. Er musste die ganze Zeit unmittelbar hinter ihr gestanden haben. Ob er wohl gesehen hatte, als sie sich wie ein Pfau vor dem Spiegel drehte? Röte schlug in ihr Gesicht.
Er sah sie bewundernd an. Sie bemerkte die grauen Schläfen, die blassblauen Augen.
Hastig wollte sie an ihm vorübergehen, sie kannte ihn nicht. Aber er stellte sich ihr in den Weg.
»Warum auf einmal so eilig? Haben Sie keine Zeit für eine kurze Plauderei?«
Sie starrte ihn an. Er hob ein wenig sein Kinn und wies zum Schaufenster.
»Gefällt Ihnen der Pullover? Ich glaube, er müsste Ihnen wunderbar zu Gesicht stehen. Ausgezeichnete Ware, wirklich, Sie sollten ihn kaufen. Sie haben guten Geschmack!«
Sie war richtiggehend wütend über so viel Frechheit. Wäre es ein junger Mann gewesen, sie hätte ganz anders mit ihm verfahren. Aber dieser hier konnte ja bald ihr Vater sein.
»Was geht es Sie an, ob ich mir den Pullover kaufe oder nicht? Im Übrigen kaufe ich ihn nicht, und jetzt muss ich außerdem nach Hause. Bitte, lassen Sie mich gehen!«
Er lachte leise auf. Eine angenehme, warme Stimme.
»Aber, aber, warum gleich so ruppig? Ich habe Ihnen doch nichts getan. Kommen Sie, was halten Sie davon, wenn ich Ihnen den Pullover kaufe?«
Ihre Lippen öffneten sich, und sie war so verblüfft, dass sie im ersten Augenblick kein Wort sagen konnte. Wie kam der Mann dazu, ihr einen so teuren Pullover zu kaufen? Sie kannte ihn doch gar nicht. Da blickte sie ihm fest ins Gesicht.
»Sie irren sich gewaltig, mein Herr. Ich bin nicht so eine, wie Sie denken. Ich bin ein anständiges Mädchen. Schenken Sie Ihre Sachen einer anderen. Ich danke!« Und hochmütig den Kopf aufgerichtet, schritt sie davon. Sie sah nicht mehr, wie der Mann ihr nachblickte, dann gleichgültig die Schultern zuckte und weiterging.
Noch lange hatte sich die Erregung nicht gelegt. So machen sie es also, dachte sie ingrimmig bei sich. So einfach, und diese Kerls glauben doch tatsächlich, nur weil sie Geld haben, fiele ein Mädchen auf sie herein. So eine Frechheit!
Doch ein ganz kleiner Stachel saß im Herzen und bohrte. Warum eigentlich nicht?, sagte die innere Stimme. Du hättest ihn dir kaufen lassen können und wärst dann auf Nimmerwiedersehen davongegangen. Du hättest einen schicken Pullover für nichts bekommen.
Ob ich Werner davon erzähle?, grübelte sie weiter. Nein, Werner würde vielleicht böse werden und womöglich denken, sie habe den Herrn herausgefordert. Nun musste sie sich aber wirklich beeilen. Habe ich auch alles eingekauft? Sie dachte nach, ach, den Reißverschluss musste sie ja noch besorgen. Für den roten Rock. Den konnte sie gleich hier um die Ecke bekommen. Sie kramte in der Einkaufstasche nach der Geldbörse. Sie kam nicht zum Vorschein. Hastiger wurde gesucht, es dauerte nur ein paar Minuten, da wusste Anja, dass die Geldbörse nicht mehr vorhanden war. Entweder hatte sie sie verloren, oder irgendeiner hatte sie aus der Tasche gestohlen.
Ihre Knie wurden weich.
Mit Macht krallte sich die Angst um ihr Herz. Ihre Glieder wurden so schwach, dass sie sich an eine Hauswand lehnen musste. Heiß stieg es ihr zu Kopfe, und ein Brausen erfüllte ihr Innerstes. Ganz mechanisch suchten ihre Hände weiter, aber sie kamen leer zum Vorschein. Blicklos sah sie vor sich hin. Eben noch so glücklich, traf dieser Schicksalsschlag sie unbarmherzig. Fieberhaft überlegte sie den ganzen Hergang. Irgendwo musste doch die Geldbörse sein. Sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! An diese Hoffnung sich klammernd, rannte Anja den ganzen Weg zurück. Sie keuchte und fühlte Schmerzen in ihrer Brust. Dort war schon das erste Geschäft. Aber man schüttelte nur bedauernd den Kopf. Man hatte nichts gefunden und liegengeblieben sei auch nichts. Diese Antwort bekam sie überall.
Taumelnd verließ sie das letzte Geschäft, bleich und verstört. Was soll ich nur machen, was soll ich nur machen? Bei jedem Schritt sagte sie dasselbe.
Das junge Mädchen fühlte sich rein kopflos. Doch es half alles nichts, sie musste jetzt endlich nach Hause.
Ganz mechanisch gingen ihre Füße diesen Weg. Sie hatte einfach aufgehört zu denken. Wie ein kalter Klumpen lag die Angst in ihrem Magen.
Was sollte sie Werner sagen?
Dort war ihre Straße. Sie überquerte sie, betrat das Haus, stieg in den Fahrstuhl und ließ sich bis zum 6. Stock fahren. Hier war ihre kleine Wohnung. Fast zögernd schloss sie die Wohnungstür auf. Aber alles war noch still und dunkel. Werner war also noch nicht zu Hause. Eine kleine Gnadenfrist.
Unruhig ging sie auf und ab.
Vierhundertfünfzig Mark waren in der Geldbörse gewesen. Werner hatte sie ihr am Morgen gegeben. Fünfzig Mark für den Haushalt, bald war ja der Erste. Und die vierhundert Mark sollte sie bei der Post einzahlen. Für die Möbel. Sie schluchzte leise auf. Nein, sie konnte ihrem Mann nichts von diesem Verlust erzählen. Sie konnte es einfach nicht. Er schuftete sich so ab, versuchte ihr alles recht zu machen, und sie verlor das sauer verdiente Geld.
Vor einem Jahr hatten sie geheiratet, als sie einundzwanzig wurde. Werner war schon dreißig und viel reifer, und das liebte sie ja so an ihm. Er war Vertreter für Büroartikel und musste sich erst seinen Bezirk aufbauen. Hier oben im Hochhaus hatten sie ihr kleines Nest aufgeschlagen, geschmackvoll und nett. Aber beide hatten kein Geld gehabt. Sie mussten alles auf Raten kaufen, die Möbel, Teppiche und das Auto. Werner brauchte es nötig. Sie mussten sehr sparsam leben und konnten sich nicht viel leisten. Er sprach immer davon, wenn alles bezahlt sei, würde alles anders werden. Jetzt ging das noch nicht.
Werner war in diesen Dingen so gewissenhaft. Und nun hatte sie das Geld verloren. Unmöglich, ihm das mitzuteilen!
Sie saß auf dem Küchenstuhl und grübelte nach. Plötzlich klingelte das Telefon. Anja schrak mächtig zusammen. Langsam ging sie in den Flur und nahm den Hörer ab.
»Ja, hier bei Renner!«
»Anja, bist du es?«
»Ja!«
»Hier ist Werner, hast du schon auf mich gewartet?«
Ihre Stimme kam ihr selbst fremd und kalt vor. Sie erkannte sich selbst nicht wieder.
»Ich bin gerade erst nach Hause gekommen, musste fürs Abendbrot noch etwas einkaufen. Wo bist du?«
»Liebling, ich rufe an, weil ich heute nicht nach Hause kommen kann. Ich habe hier noch eine Besprechung, und morgen muss ich noch weiter in den Süden. Ich komme erst übermorgen nach Hause. Bist du mir sehr böse, dass ich dich so lange allein lasse?«
Das kam schon öfter mal vor, und sie hatte sich auch schon daran gewöhnt.
»Nein, ganz bestimmt nicht, wirklich nicht, Werner!«
Der Mann schwieg eine Sekunde.
»Du, deine Stimme klingt so seltsam. Ist was?«
»Nichts, Werner, was soll denn sein. Ich halte dir die Daumen, dass du gute Geschäfte machst!«
»Danke, Liebling, das kann ich gut gebrauchen. Heute ist aber auch alles schiefgegangen, darum bleibe ich auch hier und spare die Benzinkosten. Du bist mir doch wirklich nicht böse?«
»Nein, wirklich nicht!«
»Ich weiß nicht, du bist so anders. Aber vielleicht macht das auch nur die Entfernung. Durch das Telefon ist die Stimme so fremd. Was wirst du machen, wenn ich nicht da bin?«
»Ach«, sagte sie, »irgendetwas. Ich gehe dann eben früh zu Bett.«
»Liebling, ich muss jetzt auflegen. Bis übermorgen also?«
»Tschüss, Werner!« Langsam ließ sie den Hörer auf die Gabel gleiten. Sie hatte noch eine kleine Frist. Zwei Tage, zwei erbärmliche Tage. Aber wie sollte sie in dieser Zeit an vierhundertfünfzig Mark kommen?
Sie überlegte. Werner kam nicht, so konnte sie für zwei Tage das Essen einsparen. Sie würde nur ganz wenig essen, so ersparte sie vielleicht die fünfzig Mark. Aber die vierhundert waren damit noch nicht herbeigezaubert.
»Was mache ich nur, um Gottes willen, was mache ich nur?«
Sie sah Werners kühles Gesicht vor sich. Ob er Verständnis für sie haben würde? Ob er begreifen konnte, dass einem so etwas passieren kann? Vierhundert Mark, wieviel hätte sie sich dafür kaufen können!
Da ging die Türklingel. Anja überlegte, wer das wohl sei. Sie hatten so wenig Bekannte in der Stadt. Die Eltern waren schon tot. Praktisch waren sie ganz allein, sie und Werner. Es schellte abermals. Sie stand auf und öffnete. Vor ihr stand die Nachbarin, nicht viel älter als sie.
Sybille Prinz, ein kapriziöses Ding, immer nach der neuesten Mode gekleidet. Sie hatte kupferbraune Haare und einen üppigen Busen. So etwas lieben ja die Männer. Heute trug sie einen giftgrünen Pullover und einen engen, braunen Lederrock. Anja kam sich richtig schulmädchenhaft ihr gegenüber vor. Sie trug nur eine weiße Bluse und einen schlichten blauen Rock.
»Ach, Frau Renner, hübsch, dass ich Sie antreffe. Darf ich für einen Sprung hereinkommen, oder ist Ihr Mann schon zu Hause?«
»Nein, er kommt heute gar nicht nach Hause.«
Sybille lachte leise auf.
»Na, da sind Sie ja auch mal wieder eine grüne Witwe.«
Anja war nicht zum Spaßen aufgelegt. Sie ging voran in die Küche, und die Nachbarin kam ihr nach. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und holte ihre Zigaretten hervor.
»Sie rauchen ja nicht, oder haben Sie es sich inzwischen angewöhnt?«
»Nein!«
»Ach, Frau Renner, mein Kaffee ist mir mal wieder ausgegangen. Und die Geschäfte sind zu, würden Sie mir wohl ein wenig leihen? So brauche ich heute Abend nicht auf meine Tasse zu verzichten. Gleich morgen früh hole ich neuen und bring ihn wieder.«
»Aber selbstverständlich«, murmelte Anja gleichgültig. Sie liehen sich öfters gegenseitig etwas aus. Sie stand auf, ging zum Schrank und holte den Kaffee. Sybille saß am Tisch und stieß Rauchringe in die Luft. Der Pullover war weit ausgeschnitten, und man konnte ihre Brüste sehen. Anja drehte sich um und reichte ihr die Tasse.
»Hier!«
»Danke!«
Sybille blickte Anja an.
»Sagen Sie mal, Sie machen ein Gesicht wie acht Tage Regen. Störe ich, oder was ist los?«
Die junge Frau wischte sich einmal schnell über die Augen und ließ sich auf einen Hocker fallen.
»Mir ist nichts, wirklich nicht«, murmelte sie leise.
»Doch, ich merk es doch. Sie sind so anders. Haben Sie Kummer, Ärger oder sind Sie nur einsam, weil Ihr Mann heute nicht nach Hause kommt?«
Anja sah Sybille an, und plötzlich verspürte sie den Wunsch, sich ihr anzuvertrauen, einem Menschen ihren Kummer zu klagen. Vielleicht würde es ihr dann leichter ums Herz, und der Druck ließ nach.
»Ich hab’ mein Geld verloren«, stieß sie hastig hervor.
Sybille verstand nicht gleich.
»Wieso, wie meinen Sie das?«
»Vorhin, beim Einkauf. Es ist verloren, weg!«
»War es viel?«
»Vierhundertfünfzig Mark!«
»Au Backe, das ist hart. Und was jetzt?«
Anja machte hilflose Augen.
»Wenn ich das nur wüsste. Ich könnte verrückt werden. Und ich sollte doch die Möbelrate einzahlen. Ich möchte bloß wissen, woher ich das Geld nehmen soll.«
»Das ist wirklich eine dumme Sache, ja, das ist ärgerlich. So viel Geld, da wäre ich auch wütend. Und Sie selbst haben keins.«
»Wovon denn?«
»Na, ich meine nur. Ich dachte, vielleicht arbeiten Sie auch noch. Ist doch heute so, jeder arbeitet!«
»Nein, als wir heirateten, habe ich aufgehört. Mein Mann hat es so gewollt. Er sagte, er könne für mich sorgen. Er wolle, wenn er abends nach Hause kommt, keine abgespannte und müde Frau haben. Ich solle nur für den Haushalt sorgen, mehr nicht!«
»Die Leier kenne ich«, sagte die junge Frau bitter. »Das war auch bei mir der Grund. Und da sitzen wir nun und drehen den ganzen Tag Däumchen und langweilen uns schrecklich. Und das Geld ist knapp und reicht hier und da nicht.«
»Später, wenn erst alles bezahlt ist, dann geht es uns besser«, verteidigte Anja ihren Mann.
»Ach, hören Sie doch auf! Später, dann kommen die Kinder und dann muss ein neuer Wagen her, der alte ist nicht mehr gut genug. Es sind immer neue Wünsche da, und man will sie erfüllt sehen. Man wird alt und hässlich darüber, und man merkt nicht einmal, dass man sich die ganzen Jahre für die Familie aufgerieben hat.«
»Sicher«, murmelte Anja. »Ich würde auch gern ein wenig arbeiten. Ich hab’ es immer gern getan. Aber ich füge mich meinem Mann.«
»Und was wird er sagen, wenn er hört, dass das Geld, sein Geld, wie Sie immer betonen, futsch ist, weg ist?«
Sie zuckte zusammen, Tränen standen plötzlich in ihren großen Augen.
»Ich kann es ihm nicht sagen. Ich bekomme jetzt schon eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke, Werner beichten zu müssen.«
»Ich denke, Sie lieben Ihren Mann?«
»Ja, aber das ist doch etwas ganz anderes.«
»Aber Sie müssen es ihm sagen, vielmehr, er wird es sehr schnell erfahren.«
»Ich überlege die ganze Zeit, wie ich zu diesem verdammten Geld komme. Es muss doch einen Weg geben, welches zu verdienen.«
Sybille runzelte die Stirn und besah sich ihre Nachbarin eindringlich. Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Anja sah ihr zu.
»Sie können das ganz bestimmt nicht verstehen. Ihnen geht es gut, Sie sind immer nach der neuesten Mode gekleidet und haben alles. Ihr Mann muss eine Stange Geld verdienen.«
Sybille Prinz lachte leise auf.
»Peter und viel Geld verdienen, na, dass ich nicht lache! Sie wissen doch, er ist Seemann und kommt nur alle paar Wochen nach Hause. Sicher, er verdient gut, aber wenn ich etwas haben will, dann verdiene ich es mir selber. Übrigens, wie wollen Sie überhaupt das Geld so schnell verdienen?«
»Ich habe an Putzstellen gedacht. Es stehen doch immer so viele in der Zeitung. Man muss doch Stellen genug finden, und Werner merkt es dann nicht.«
»Na«, sagte die Freundin trocken. »Da können Sie sich aber lange abschinden, bis Sie das Geld beisammen haben. Und wann kommt der Gute wieder nach Hause?«
»Übermorgen!«
»Prost Mahlzeit! Aber ich weiß etwas Besseres. Wenn Sie dichthalten, sage ich Ihnen, wie ich mir mein Geld verdiene, wenn es nicht reicht. Ich habe da einen viel feineren Job!«
Anja beugte sich angespannt über die Tischplatte. Der Wunsch, das Geld schnell zu verdienen, beherrschte sie.
»Ja?«
»Sie werden niemandem etwas davon sagen. Werden schweigen wie ein Grab?«
»Selbstverständlich, bitte, so reden Sie doch schon!«
Sybille warf ihr einen abschätzenden Blick zu, kniff für einen kurzen Augenblick die Lippen zusammen und sagte dann: »Ich mache mir einen Spaß, gehe abends aus und lerne Männer kennen. Sie glauben gar nicht, wie wild die Kerle sind, uns Mädchen das Geld zuzustecken. Das ist ganz leicht verdient. Hundert Piepen für einen Abend sind gar nichts, und ich habe noch meinen Spaß daran gehabt.«
Anja starrte sie mit großen Augen an. Im ersten Augenblick begriff sie gar nicht, was sie meinte. Ihre Brust hob und senkte sich.
»Sie, Sie gehen mit fremden Männern?«, flüsterte sie heiser. »Aber ich ...«, sie brach ab. Sie konnte einfach nicht weitersprechen. Ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher.
»Sie haben mir versprochen, Sie werden schweigen«, zischte Sybille, als sie die einfältige Reaktion der Nachbarin bemerkte.
»Aber das tun doch nur Dirnen!« Anja leckte sich mit der Zunge über die spröden Lippen.
»Quatsch«, sagte die Freundin, »Sie verstehen auch gar nichts. Ich bin nur nett zu den Männern, mehr nicht. Gehe in eine Bar, tanze, amüsiere mich, na ja. Ich meine, nur wenn ich Geld brauche, gehe ich, oder wenn ich Langeweile habe. Ist doch nichts weiter dabei. Mit Werner machen Sie es doch auch, ohne Geld. Und hier kriegen Sie Geld. Eine ganze Menge. Nutte, das ist doch etwas ganz anderes, ich amüsiere mich nur. Kann ich etwas dafür, dass mein Mann so selten zu Hause ist? Glauben Sie, ich will hier versauern?«
»Nein, bitte, ich wollte Sie nicht verletzen. Ich war nur so überrascht.«
»Hier, all meine Klamotten hab’ ich mir selbst verdient. Peter glaubt, ich gehe so sparsam mit dem Haushaltsgeld um und ist noch richtig stolz auf mich.«
Anja biss sich auf die Lippen.
»Und ich habe mich schon immer gewundert, wie Sie das machen.«
»Also, ganz einfach, und wenn Sie wollen, nehme ich Sie mal mit. Ich rot und Sie blond, wir werden Aufsehen erregen. Und Sie verdienen das verlorene Geld ganz rasch. Ihr Mann wird also nichts davon erfahren. Kommen Sie, gehen wir gleich heute, nutzen wir die Gelegenheit!«
Das Geld! Sie musste es haben. Aber auf diese Weise?
Komisch, sie war nicht mal entsetzt. Für einen Bruchteil einer Sekunde musste sie an den Mann vor dem Schaufenster denken. Es war wirklich einfach.
Aber nein, sie konnte es nicht, sie liebte Werner doch, sie konnte sich doch nicht mit einem fremden Mann einlassen. Niemals, alles in ihr sträubte sich dagegen.
So eine war sie doch nicht!
»Na, wie ist es nun?«
Anja zuckte zurück.
Sybille stützte sich auf ihre festen Arme und erhob sich halb. Die vollen Lippen waren zu einem verächtlichen Lächeln verzogen. Ihre Augen ließen die Freundin nicht mehr los.
»Etwa schockiert, oder was ist los?«
»Ich, ach, ich weiß nicht, ich bin ganz durcheinander. Ich muss mich erst mal konzentrieren.«
»Man soll nicht lange überlegen, denken Sie an das Geld! Leichter und bequemer kann man es wirklich nicht verdienen.«
»Ja, ich weiß, aber, wenn das nun einer merkte wenn man uns sieht. So einfach kann es doch nicht sein. Ich hab’ so etwas noch nie gemacht. Es klingt so gemein, so, als wolle man die Männer betrügen.«
Sybilles grüne Augen zogen sich zu einem Spalt zusammen.
»Sie sind verrückt, wirklich. Solche Anwandlungen. Ich sag’ Ihnen doch schon die ganze Zeit, die Männer sind wild darauf, uns ihr Geld zuzustecken. Warum sollen wir es nicht nehmen? Wenn wir es nicht tun, tut es eine andere, kapito?«
»Ist es wirklich so einfach?«
»Klar, wenn ich das sage. Ich mach’ das doch schon eine Zeit, und es klappt wunderbar. Los, Anja, geben Sie Ihrem Herzen einen Ruck! Sie werden sich wundern, was für einen Spaß wir noch außerdem dabei haben können.«
»Ja, wenn Sie meinen!« Noch zögerte die junge Frau. Noch sträubte sich alles dagegen, mitzumachen. Es fiel ihr auf einmal auf, dass Sybille einen etwas ordinären Eindruck machte. Komisch, früher war ihr das noch nie aufgefallen. Da hatte sie sich von der guten Kleidung blenden lassen. Sie grübelte weiter. Ich mache es ja nur, bis ich das Geld beisammen habe, und dann nie mehr wieder. Ich tue es ja nur, weil ich es brauche, weil ich Werner so nicht unter die Augen treten kann. Ich kann und kann es ihm einfach nicht sagen. Er wird schrecklich mutlos und traurig sein. Bloß, bis das Geld beisammen ist, und dann nie mehr!
»Warum wollen Sie eigentlich, dass ich mitkomme?«, fragte sie leise.
»Gott, Anja, Sie sind eine komische Nudel! Zu zweit gibt es doch viel mehr Spaß! Allein ist es auch schön, aber nachher können wir beide uns über die Männer kaputtlachen, die wir hatten, verstehst du?«
Unwillkürlich gebrauchte sie das kameradschaftliche Du.
»Gut, ich mache das aber nur so lange, bis ich die vierhundertfünfzig Mark zusammen habe, dann nicht mehr. Du wirst nie etwas meinem Mann davon sagen?«
»Ehrenwort, du könntest mich ja auch verpfeifen, nein, so eine bin ich nicht. Ich habe es dir doch nur gesagt und angeboten, um dir zu helfen.«
»Und wann sollen wir gehen?«, Anja fragte es beklommen.
»Na, gleich heute, die Zeit ist günstig. Ihr Mann ist nicht da. Gleich um acht marschieren wir los.«
»Wohin?«
»Wir gehen ins Batavia. Da ist immer viel Betrieb, und dort halten sich die betuchten Geschäftsleute auf. Kommen aus der Provinz und wollen was erleben. Sollen sie!«
Anja sah auf die Uhr. »Jetzt ist es sieben, da müssen wir uns aber beeilen.«
»Was wollen Sie anziehen?«
»Mein Sonntagskleid, was anderes hab’ ich nicht.«
»Zeigen Sie mal her!«
Sie gingen zusammen ins Schlafzimmer. Anja öffnete den Schrank und holte das gelbe Sommerkleid hervor. Sybille rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf.
»Nee, das ist zu züchtig, damit fangen wir keinen Hecht. muss schon ein bisschen was darstellen. Die Kerls wollen ja was sehen. Warten Sie mal, wir haben zwar nicht die gleiche Figur, aber ich habe noch ein Kleid, das mir zu eng geworden ist. Kommen Sie, wir gehen zu mir hinüber und probieren es gleich an!«
»Aber das kann ich doch nicht.«
»Ich leihe es Ihnen ja nur. Kommen Sie! Die Zeit rennt, und wir müssen uns langsam sputen.«
»Ja!«
Beide Frauen verließen die Wohnung und überquerten den Flur. Sybille ging gleich ins Schlafzimmer und riss ihre Schranktür auf.
»Hier, das habe ich gemeint.«
Es war ein schickes, knallrotes Seidenkleid mit weitem Ausschnitt und Glockenrock. Anja bekam sehnsüchtige Augen. Ihr blondes Haar musste einen wunderbaren Kontrast abgeben.
»Los, zieh es mal über!« Sybille war ganz kribbelig.
Anja vergaß alles und sah nur noch das Kleid. Erregung stieg in ihr hoch. Vorsichtig fühlte sie mit den Fingerspitzen über den zarten Stoff. Wie ein Traum - so schön war das Kleid. Schnell schlüpfte sie aus Rock und Bluse, nahm das Kleid und zog es über. Atemlos stand sie vor dem großen Spiegel und sah sich bewundernd an. Sie kannte sich im ersten Augenblick gar nicht wieder. Leise wippte der Rock, als sie sich drehte.
»Wunderbar, es passt wie angegossen. Wir brauchen nichts zu ändern. Und schau, das werde ich anziehen. Wir werden auffallen, pass nur auf!«
Damit zog Sybille ein giftgrünes, enges Kleid aus dem Schrank. Es schillerte wie eine Schlangenhaut, unter der Lampe zeigte es einen schwachen Metalleffekt. Sybille zog es sich über, Anja musste ihr den Reißverschluss auf dem Rücken schließen. Es war eng wie eine zweite Haut und ließ jede Bewegung ihres Körpers frei. Großzügig wurde der Busen gezeigt,
»Toll! Mensch, Sybille, das muss doch eine Stange Geld gekostet haben!«
»Hat es auch, aber ich sag doch, kannste alles haben, leicht verdient, schnell wieder ausgegeben.«
Plötzlich fühlte sie den Wunsch in sich, etwas zu erleben. Sybille hatte nun schon so viele Andeutungen gemacht, und sie war das brave Leben mit einem Mal leid. Immer dasselbe. Werner und das Fernsehen, eine kleine Autofahrt und dann wieder brav allein zu Hause bleiben und warten. Einmal sich amüsieren, einmal anders sein. Dieses Kleid war wie eine Verheißung, wie eine Verlockung. Wenn sie nicht wollte, konnte sie ja noch immer einen Rückzieher machen.
Sie fanden noch die passenden Schuhe und die Tasche dazu. Sybille kämmte Anja die Haare anders, und dann schminkten sie sich noch. Endlich fanden sie sich beide schön. Sie sahen sich an und lachten.
»Wir werden einen Wirbel veranstalten!«, flüsterte Sybille mit heißen Wangen. »Zu zweit ist es noch mal so schön!«
Dann löschten sie das Licht und verließen die Wohnung!