Читать книгу Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore - Страница 23
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ОглавлениеSie stand vor dem Spiegel und kleidete sich aus. Streifte das Kleid ab, nahm mechanisch ihren Rock und die Bluse. Alles tat sie stumm, mit starrem Gesicht, fast marionettenhaft. Irgendwo im Hintergrund war die Freundin. Sie hatte diese vergessen. Und dann sah sie sich im Spiegel! Die großen ausdrucksvollen Augen, das zarte Profil. Die schlanke Figur. Das war sie wirklich. Sie starrte sich selbst wie eine Erscheinung an. Und dann kamen die Tränen, wie eine Erlösung waren sie. Unaufhaltsam rannten sie aus den Augen über das Gesicht. Sie sah es mit Erstaunen. War sie es, die da weinte, oder war das ein anderes Mädchen? Sie hob die Hände und fühlte die Nässe.
Das junge Mädchen sackte lautlos zusammen. Die Beine versagten ihren Dienst. Sie warf sich aufs Bett und weinte bitterlich.
Sybille stand kalkweiß daneben und klammerte ihre Hände um einen Stuhl. Sie wollte die Freundin trösten, ihre zuckenden Schultern streicheln. Aber sie war wie gelähmt.
Tränenüberströmt sah Anja auf und erblickte Sybille. Und da schrie sie: »Was weißt du schon! Starr mich nicht so an! Was weißt du schon! Ich bin einem Teufel in die Hände gefallen, oh, oh, oh!«
»Still!«, stammelte Sybille. »Sei endlich still! Glaubst du, mir ist nicht das Gleiche passiert wie dir?«
Anja vergaß für ein paar Sekunden ihren eigenen Kummer. »Du auch?«
Sie nickte. Da kamen erneut die Tränen.
»Aber sie dürfen das nicht, niemals, ich kann es nicht, ich kann doch nicht!«
Sybille lachte bitter auf.
»Glaubst du, sie werden Rücksicht darauf nehmen? Kennst du sie so schlecht? Weißt du nichts von ihren Drohungen?«
»Doch, doch, ich weiß es, aber ich will es nicht, hörst du? Niemals! Sie können mich nicht zwingen, sie können und dürfen es nicht. Ich werde es nicht tun!«
»Und dein Mann?«
Anja stand auf und wischte sich das Haar aus der Stirn.
»Wohin sind wir gekommen, Sybille? Bis jetzt war doch alles nur Spaß gewesen. Ich habe es getan, weil ich mich in einer Notlage befand. Aber das gibt denen noch lange nicht das Recht, uns auf den Strich zu schicken wie die gemeinste Nutte. Wir sind doch ein Rechtsstaat. Sie können doch nicht einfach über uns verfügen. Das können und dürfen sie nicht. Nein, ich werde mich ihren Anordnungen nicht fügen. Und die Drohungen. Es war nur Bluff, nicht wahr, sie können nicht einfach einen Menschen umbringen? Im Film, ja, da tun sie so etwas, aber doch nicht in der Wirklichkeit!«
»Du willst dich ihnen widersetzen? Hast du wirklich so viel Mut?«
»Willst du denn auf dem Strich landen und nur noch für diese Kerle arbeiten?«
»Nein, aber ich kann nicht zulassen, dass sie Peter etwas antun. Er ist unschuldig.«
»Er ist auf See«, sagte Anja. »Sie kommen gar nicht an ihn heran.«
»Aber er kommt ja auch mal wieder nach Hause. Er sagte, sie könnten warten, sehr lange warten. Und bis dahin würden sie mich vornehmen. Ach, Anja, ich habe solch schreckliche Angst. Ich werde bald verrückt vor Angst!«
»Ich gehe jetzt schlafen. Ich bin müde und zerschlagen. Morgen werden wir weitersehen.«
»Morgen wollen sie ja schon kommen«, erinnerte sie die Freundin.
»Von mir aus, aber ich werde denen schon was flöten. Vorhin, da war ich in ihrer Gewalt, vorhin musste ich tun und sagen, was er von mir verlangte. Aber jetzt werde ich kämpfen. Sie werden etwas erleben!« Und mit diesen Worten verließ sie die Wohnung der Freundin.
Ein neuer Tag brach an, von dem Regen war nichts mehr zu spüren. Es war wieder sehr heiß, und auch die Straßen waren bald wieder staubig. Anja ging unruhig auf und ab. Mal zum Fenster und dann wieder zurück zum Sessel. Sie grübelte. Würden sie tatsächlich die Frechheit besitzen und kommen, um sie zu holen? Ein Schauer rann ihr den Rücken herunter, wenn sie nur daran dachte, was sie tun sollte. Nein, sie wollte nicht in der Gosse landen - sie nicht!
Die Stunden vergingen qualvoll. Immer waren ihre Gedanken ganz woanders. Einmal traf sie Sybille im Treppenhaus. Stumm sahen sie sich an. Sie konnten einfach nicht mehr über das Vorgefallene reden. Die Angst saß ihnen im Nacken. Anja gab sich forsch, aber sie zitterte wie Espenlaub. Sie hatte das Abendbrot verzehrt, da ging die Türglocke. Ihr Rücken versteifte sich unmerklich. Ununterbrochen ging der Summton. Mechanisch stand sie auf. Nun musste sie kämpfen, um ihr Glück, um das Leben von Werner, um alles. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie es nie mehr können.
Fred stand vor der Tür.
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst unten auf mich warten? Brauchst wohl eine Extraeinladung, wie?«
»Nein, ich gehe nämlich nicht mit«, sagte sie so kalt wie möglich. Ihre Knie zitterten, aber das sah er nicht. Seine Augen verengten sich zu einem schmalen Spalt.
»Ah, du gehst nicht mit, wie lustig!« Er wollte sie am Arm aus der Wohnung zerren, aber sie sprang zurück. Er kam ihr nach und warf die Tür hinter sich zu.
»Brauchst du wieder eine Lektion? Hast du noch nicht begriffen, dass nicht mit mir zu spaßen ist?«
»Ich gehe nicht mit. Ich tu es nicht, damit Sie es gleich wissen!«
»Und dein Mann? Willst du, dass er stirbt?«, rief er scharf.
»Das, was Sie machen, ist Erpressung, und ich lasse mich nicht darauf ein. Niemals, ich gehe gleich zur Polizei und werde es melden, dass Sie mich erpressen wollen, Sie gemeiner Hund!«
Er kam ganz nah, sah ihr ins Gesicht.
»Du willst also zur Polizei, mein Vögelchen. Mich wegen Erpressung anzeigen?« Er lachte lautlos. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzogen. »Und warum bist du noch nicht hingelaufen, warum nicht? Hattest doch den ganzen Tag Zeit dazu. Glaubst du denn, die Polizei würde dich schützen, dich?« Wieder lachte er hämisch. »Und was willst du anzeigen, hast du Beweise, irgendetwas, was du ihnen vorlegen kannst? Nein? Du weißt nicht einmal meinen richtigen Namen. Glaubst du, das würde dir helfen? In dem Augenblick, wo du einen Fuß in irgendeine Polizeistation stellst, im gleichen Augenblick gebe ich meinen Befehl, und dein Mann war einmal. Dann kannst du dir dein Leben lang Gewissensbisse machen. Dann hast du ihn auf dem Gewissen, wir nicht, hast du mich jetzt endlich richtig verstanden? Glaubst du, mit so kleinen Dingern wie dir würden wir nicht fertig?« Er fasste sie beim Arm und riss sie zu sich heran. »Bis jetzt habe sehr viel Langmut gezeigt, aber nun ist Schluss damit, für immer. Jetzt kommst du auf der Stelle mit, oder ich zerschneide dir dein Gesicht, dass dich deine eigene Mutter nicht mehr wiedererkennt!« Mit diesen Worten zog er ein Messer aus der Tasche und hielt es ihr vor das Gesicht.
Anja wollte zurückweichen, aber sein Griff war stählern, und er führte sie fort. Unten auf der Straße im Auto saßen schon Bob und Sybille. Der Mann warf sie in die Polster hinter sich und raste davon.
»Hat es Ärger gegeben?«, fragte Bob.
Fred knurrte nur verächtlich. »Nicht solchen, mit dem ich nicht fertig werden würde!«
Sybille suchte die Hand ihrer Freundin.
»Ich denke, du willst nicht mitmachen?«, flüsterte sie leise. »Hatte so viel Hoffnung auf dich gesetzt. Aber nun ist wohl alles aus!«
Anja sah starr aus dem Fenster. Der Wagen fraß Kilometer auf Kilometer und brachte sie ihrem Ziel näher. Kam denn niemand, der sie befreite, sie aufhielt?
Werner!
Sie tat es für ihn, um ihn! Wo mochte er in diesem Augenblick sein? Morgen kam er wieder nach Hause. Morgen! Nein, sie hatte keine Träne mehr, sie konnte nicht mehr weinen. Sie war ganz ausgehöhlt und leer. Mit einem Ruck hielt der Wagen. Sie standen auf einem weitläufigen Parkplatz. Die Mädchen kannten sich hier nicht aus.
»Wo sind wir?«, fragte Sybille ängstlich.
»An der Autobahn«, sagte Bob.
»Warum?«
»Hier ist euer Gebiet. Wir schicken euch auf den Autobahnstrich. Später, wenn ihr gefügig seid und etwas hinzugelernt habt, kommt ihr in die Stadt. Hier fangen alle an, hier werden sie alle sanft. Dies ist die niedrigste Stufe. Ihr könnt euch bewähren, und wenn nicht, bleibt ihr hier!«
Ohne Übergang begann Fred nun das ganze Geschäft zu erklären. Hart und mit gemeinen Worten. Sybille und Anja schauerten zusammen. Ohne fünf Blaue durften sie nicht wieder bei ihnen erscheinen. Mit wie vielen Männern mussten sie sich da einlassen, um das Geld zu bekommen? Eine ganze Nacht!
»Los, ’raus jetzt! Und ihr wisst, wir sind in der Nähe und sehen euch immer. Keine Zicken und so, kapiert?«