Читать книгу Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore - Страница 19

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»Anja, bist du das?«

Ihre Glieder versteiften sich, das Herz schlug ihr bis zum Halse. Vor Schreck völlig erstarrt, war sie nicht in der Lage, einen Schritt zu gehen.

»Anja, so antworte mir doch!«

Von weit her, irgendwo aus der Ferne hörte sie eine Stimme antworten.

»Ja!« Sie sagte es selbst, aber es wurde ihr nicht bewusst.

»Was ist los? Wo warst du, bist du krank?«

Mit letzter Kraft wankte sie durch den Flur, blieb an der Schlafzimmertür stehen, und musste sich gegen den Türrahmen lehnen, sonst wäre sie zu Boden gesunken.

»Werner«, stammelte sie leise. Und noch einmal: »Werner!«

Der Mann richtete sich im Bett auf und machte Licht. Er war nun völlig wach.

»Mein Gott, was ist dir, du siehst aus wie ein Gespenst! Was hast du, Anja, ich bin es, dein Mann.«

»Werner!« Plötzlich begann sie zu schluchzen, es war wie eine Erlösung. Die Tränen liefen über ihr Gesicht, und sie spürte die Nässe am Hals.

»Ich, ach, ich weiß nicht, ich war so tödlich erschrocken. Ich habe doch nicht gewusst, dass du schon zu Hause bist. Du hast mich doch angerufen und mir gesagt, du kämst vor morgen nicht nach Hause. Mein Gott, noch nie im Leben war ich so erschrocken wie eben, als ich deine Stimme hörte!«

»Ich bin schon eine ganze Weile hier, genauer gesagt, seit zehn Uhr gestern Abend, und nun haben wir sechs Uhr früh. Ich habe mich auf einen gemütlichen Abend mit dir gefreut, komme nach Hause, und das Nest ist leer. Wo warst du?«

Eisig lief es ihr den Rücken herunter. Jetzt hieß es, Zeit gewinnen. Aber sie kannte ihren Mann gut genug, um zu wissen, dass er sich mit einer faden Ausrede nicht abspeisen ließ. Für einen Moment durchzuckte sie der Gedanke, ihm alles zu erzählen, alles, restlos sich ihm anzuvertrauen. Vielleicht ließ dann der schreckliche Druck auf ihrem Herzen nach. Aber konnte das ein Mann überhaupt verzeihen? Wohl kaum, und was war dann? Und sie liebte doch Werner, sie wollte ihn um nichts in der Welt verlieren. Nein, sie musste das selber tragen.

Später, viel später dachte sie an diesen Augenblick zurück. Aber jetzt wusste sie noch nicht warum.

»Ich war drüben bei Sybille.«

»Sybille, wer ist denn das? Die kenne ich doch gar nicht!«

»Sybille Prinz, unsere Nachbarin. Ich fühlte mich so allein, und sie kam zufällig ’rüber und lieh sich Kaffee, und dann bin ich mit zu ihr gegangen. Anschließend waren wir im Kino und dann haben wir bei ihr etwas getrunken, und darüber sind wir im Sessel eingeschlafen. Ich hab’ wirklich nicht gewusst, dass du da bist!«

»Aber du hättest doch mein Auto draußen sehen müssen«, antwortete er verwundert.

»Hätte ich bestimmt, aber ich habe nicht darauf geachtet, wirklich nicht!«

»Komisch, ich hab’ gar nicht gewusst, dass du so gut mit der Nachbarin harmonierst. Hast mir doch nie etwas davon erzählt!«

»Bis jetzt war es ja noch nicht, aber wir haben uns eben beide einsam gefühlt. Ihr Mann kommt ja auch so selten nach Hause. Ist es denn schlimm?«

»Nein, nein, ich mach’ dir doch keine Vorwürfe, wirklich nicht, Anja, ich war natürlich schrecklich in Sorge um dich. Ich hab’ mir die ganze Nacht überlegt, wo du wohl sein könntest. Hättest mir ja einen Zettel zurücklassen können!«

»Aber du hast mir doch gesagt, du kommst erst morgen!«

»Ja, richtig!« Er legte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Anja hatte den Wunsch, schnell ihrer Freundin alles zu erklären, damit sich diese nicht verplapperte. Aber unter welchem Vorwand sollte sie jetzt gehen?

»Komm ins Bett! Ist ja noch viel zu früh zum Aufstehen. Du bist doch auch müde, oder?«

Und wie sie es war! Aber auf eine ganz andere Art, wie er es sich dachte. Er muss es doch merken, dachte sie immer wieder. Sieht man mir denn nicht an, was ich jetzt geworden bin? Langsam streifte sie die Kleidung ab und legte sich zu Bett.

»Warum bist du eigentlich zurückgekommen?« Sie fragte es nur, um die Stille zu überbrücken.

»Jemand anders ist mir zuvorgekommen. Ich hab den Auftrag nicht bekommen!« Es klang mutlos und resignierend.

Sie hatte schreckliches Mitleid mit ihm. Er plagte sich so und hatte oft eine Niederlage. Nein, jetzt konnte sie ihm erst recht nichts von dem Verlust des Geldes sagen. Niemals!

»Sag mal, fühlst du dich wirklich so einsam, dass du bei anderen Trost suchen musst?«

»Ach, Werner, so ist es doch nicht! Ich weiß nur nicht, was ich tun soll. Die Wohnung, das bisschen Essen, und dann sitze ich herum und tue nichts. Warum willst du nicht, dass ich wieder ein wenig arbeiten gehe, nur halbe Tage, weißt du. Vielleicht als Verkäuferin, es würde mir Spaß machen, wirklich. Und ich verdiente dann Geld, und wir könnten unsere Schulden schneller bezahlen!« Ein Strohhalm, an den sie sich klammerte.

»Anja, ich verdiene für uns beide genug. Ich kann allein für uns sorgen. Du solltest es dir gemütlich machen. Und weißt du, ich möchte es deshalb nicht, weil die berufstätige Frau abends müde und abgespannt ist. Man geht sich auf die Nerven und sagt dann Dinge, die man vielleicht nicht sagen wollte. Und du weißt doch selbst, wie viele junge Ehen in die Brüche gehen, eben weil sie nebeneinander leben und nicht miteinander. Ich möchte das nicht, ich möchte dich nicht verlieren. Ich liebe dich, und ich möchte, dass es immer so bleibt - immer! Ich verspreche dir, wenn die Schulden bezahlt sind, werde ich mich mehr um dich kümmern, wir werden es uns dann wundervoll machen, du und ich!«

Ein Kloß saß in ihrer Kehle. Sie hätte heulen können. Er war so lieb und nett zu ihr, und sie?

Er kam zu ihr herüber, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

»Ich liebe dich, das weißt du doch, nicht wahr?«

»Ja!«

Er begann sie zu küssen, und sie schloss die Augen. Sie fühlte sich elendig und schmutzig. Er sollte sie nicht berühren, nicht jetzt, nicht heute. Sie musste das andere erst vergessen. Werner bedrängte sie, zärtlich und verlangend. Ich will nicht, dachte sie verzweifelt, ich kann ihn jetzt nicht ertragen, nicht nach dem, was ich getan habe.

»Du bist heute so anders, was ist dir?«

»Nichts, nichts«, murmelte sie an seiner Brust. Sie hatte nicht mehr den Mut, ihn anzusehen.

Er näherte sich ihr wie immer, selbstverständlich, ohne auf ihre Stimmung zu achten. Fest biss sie die Zähne zusammen. Wie ein Stück Holz fühlte sie sich. In diesen Sekunden und Minuten hasste sie alle Männer, alle!

Werner war schon lange an ihrer Seite eingeschlafen, da lag sie immer noch wach und grübelte vor sich hin. Sie sah sein Gesicht vor sich. Das dunkle Haar, die markanten Züge, jetzt ein wenig gelöst im Schlaf. Ganz leise streckte sie die Hand aus und strich ihm mit den Fingerkuppen über die Wangen. Tränen liefen über ihr Gesicht, und sie schloss zitternd die Lider.

Sie sah Klaus vor sich, alles sah sie, die Bar, die anderen Gäste, und auch Sybille. Wie ein Film zog der Abend an ihr vorüber. Alles hatte so hübsch und aufregend begonnen, bis auf, ja, bis auf den Schluss. Aber deswegen waren sie ja losgezogen, eben, um Geld zu verdienen.

Und dann musste sie wohl eingeschlafen sein. Als sie erwachte, war es schon heller Tag, und die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Es würde wieder sehr heiß werden.

Das Bett neben ihr war leer. Sie hörte Werner im Badezimmer hantieren. Kaffeeduft lag schon in der Luft. Er kam ins Schlafzimmer und trocknete sich die nassen Haare mit dem Handtuch ab.

»Na, du Langschläferin, endlich ausgeschlafen? Ich habe schon den Frühstückstisch gedeckt. Möchtest du mit mir frühstücken?«

»Ja, ich komme sofort!«

»Brauchst du heute gar nicht fort?«, fragte Anja ihren Mann beim Frühstück.

»Doch, natürlich, aber erst später. Ich muss erst bei meiner Firma vorbei, und dann muss ich wieder Kunden besuchen. Leider wird das wieder sehr unbequem für mich werden. Sie liegen so weit auseinander, dass ich zwei Tage dafür benötige. Diesmal muss ich dich wirklich alleine lassen. Aber ich verspreche dir, zum Wochenende pünktlich wieder zu Hause zu sein. Und wenn es so schön bleibt, dann gehen wir schwimmen, einverstanden?«

Sie zerbröckelte gedankenverloren ein Krümelchen Brot. Ewig dieses Warten, ewig allein sein müssen! Warum war Werner nicht wie andere Männer? Andere freuten sich und waren stolz, wenn ihre Frauen was verdienten. Was er da von der Ehe sagte, sicher, in vielen Fällen stimmte das ja auch. Aber sie konnte doch auch gehen, wenn er nicht da war. Heute gab es doch so viele Möglichkeiten!

»Sag mal, Anja, hast du schon die Möbelrechnung eingezahlt?«

Für einen Moment sah sie ihn verständnislos an.

»Ich gab dir doch gestern das Geld dafür und bat dich, es bei der Post einzuzahlen. Der Stichtag ist heute. Ich bin für Pünktlichkeit, dann bekommt man keine Scherereien. Wenn du es eingezahlt hast, dann gib mir doch bitte den Abschnitt. Ich werde ihn dann gleich abheften.«

Die Kaffeetasse zitterte in ihrer Hand, als sie sie zum Munde führte. Langsam stieg das Rot in ihre Wangen, aber der Mann bemerkte nichts von allem. Er war mit seiner Zeitung beschäftigt.

»Du, Werner, entschuldige, aber das habe ich wirklich vergessen. Ich war in der Stadt, bin aber an der Post vorbeigelaufen. Ich werde es gleich nachholen, ganz bestimmt!«

»Macht nichts, ich muss doch gleich zur Firma. Da kann ich es mitnehmen, und du brauchst den Weg nicht zu machen. Mit dem Wagen geht es schneller. Leg es mir nur zurecht! Ich fahre gleich los!«

Nun saß sie in der Klemme. Sie hatte ja erst zweihundert Mark. Was sollte sie beginnen? Fieberhaft suchte sie einen Ausweg. Nur eine Person konnte ihr jetzt helfen, und das war ihre Nachbarin. Unauffällig stand sie vom Tisch auf und tat so, als ginge sie zur Küche.

Werner schaute kurz auf und lächelte ihr zu.

»Ich muss mir noch Kaffee holen«, murmelte sie und verließ das Zimmer.

Auf dem Flur schlug sie einen Haken, öffnete lautlos die Tür und huschte ins Treppenhaus. Ihr Herz klopfte dumpf und hohl. Bis jetzt hatte sie nie Heimlichkeiten vor ihrem Mann gehabt.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Nachbarin öffnete. Sie war noch im Morgenmantel und recht verschlafen, schien gerade aus dem Bett gekommen zu sein.

»Himmel, Anja, so früh, bist du verrückt! Ich habe einen schrecklichen Kater. Was ist los?«

Das Mädchen schob sie erst mal wortlos in die Wohnung und schloss hinter sich die Tür. Sie lehnte sich dagegen und atmete schnell und flach.

»Werner ist zurückgekommen!«

»Au Backe, wann?«

»Gestern Abend schon!«

»Himmel, hat er etwas gemerkt?«

»Nein, ich habe ihm gesagt, wir wären im Kino gewesen und anschließend seien wir bei dir im Sessel eingeschlafen. Er hat es mir geglaubt.«

»Gut, ich werde mich danach richten. Hast recht getan, es mir zu sagen. Hätten uns ja mal zufällig im Treppenhaus begegnen können. Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt.«

»Ja, ich habe aber eine Angst ausgestanden. Bin bald verrückt darüber geworden. Aber was ich noch sagen wollte, kannst du mir zweihundert Mark pumpen? Werner will das Geld einzahlen.«

»Natürlich, wir sind ja jetzt Freundinnen. Ich geb’ sie dir gerne, und du kannst sie mir ja auch bald wieder zurückzahlen. Wir machen doch weiter zusammen?«

Anja sah Sybille nicht an. Sie wollte sie jetzt nicht kränken, sie brauchte jetzt so schnell wie möglich das Geld. Alles andere würde man später regeln. Nein, mitgehen, diese Angst noch einmal ausstehen? Niemals mehr!

Sybille ging ins Schlafzimmer und brachte das Geld.

»Du siehst aus wie der Tod. Mach doch nicht so erschrockene Augen! Hast dich ja ’rausreden können. Was willst du mehr? Meiner hätte sich bestimmt nicht mit so einer lapidaren Ausrede so einfach abspeisen lassen, der nicht. Da muss ich ihm schon ganz anders kommen. Aber zum Glück kommt der nicht unverhofft nach Hause, das wäre ja noch schöner!«

Für ein längeres Gespräch hatte Anja jetzt keine Zeit mehr. Sie musste in ihre Wohnung zurück.

»Noch einmal, vielen Dank, ich zahl’ es dir so schnell wie möglich zurück!«

»Klar, viel Spaß, und verplappere dich nicht!«

»Nein, nein!« Und damit huschte sie über den Flur in ihre Wohnung zurück.

»Anja, endlich!«

Sie schrak so mächtig zusammen, dass sie bald umgesunken wäre. Werner verstand seine Frau nicht mehr. Kopfschüttelnd betrachtete er sie und wunderte sich sehr.

»Warum bist du auf einmal so schreckhaft? Früher warst du es doch nicht! Und überhaupt, ich denke, du bist in der Küche. Ich rede mit dir, keiner gibt Antwort, ich gehe nachschauen, und die Tür ist offen. Wo warst du denn jetzt schon wieder?«

Sie schluckte. In der Hand hielt sie das Geld zusammengeknüllt. Das Herz ging rasend.

»Ich hatte etwas vergessen, ich meine bei Sybille, entschuldige, es fiel mir auf einmal wieder ein. Wollte dich nicht extra belästigen, du warst doch am Lesen. Warum hast du mich gesucht? «

»Ich will jetzt in die Stadt, sonst wird mir das nachher zu spät. Hast du mir alles zurechtgelegt?«

»Warte, ich suche die Anweisung heraus. Du nimmst sie doch mit?«

»Selbstverständlich.«

Wenig später überreichte sie ihm das Geld. Sie schloss für einen Augenblick die Augen und stöhnte innerlich tief auf. Dieses unselige Geld. Warum nur hatte sie es verlieren müssen! Eine Lüge baute sich auf die andere. Doch jetzt war sie so weit gegangen, nun musste sie es auch zu Ende führen. Woher sie das Geld zaubern sollte, das war ihr noch ein Rätsel. Aber beschaffen musste sie es.

Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018

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