Читать книгу Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore - Страница 7
3
ОглавлениеAls sie dann am nächsten Morgen schon im weißen Kittel und innerlich schon ganz auf ihre Aufgabe konzentriert vor ihm stand, war sie verwundert. Das war nicht der nach Alkohol riechende redselige und irgendwie seelisch erschütterte Mann von neulich. Dieser Dr. Wieland Graf wirkte souverän, absolut selbstsicher und so aseptisch, dass sie in ihm eine Verkörperung des Kliniklebens schlechthin sah.
Seine Anweisungen kamen knapp und gestochen scharf. Er machte sie mit der Stationsschwester Silke bekannt, einer Frau von zweiunddreißig Jahren, mittelblond und von kessem Wesen.
Doris, die eher zurückhaltend war, als dass sie auf die Leute zuging, entdeckte in Schwester Silke eine zweite Oberschwester Hilde, nur als jüngere Ausgabe und von hübscherem Äußeren. Aber im Grunde war Schwester Silke ein ebensolcher Trampel, als den Doris die Oberschwester ansah. Herzerfrischend zwar, aber auf den Nerv gehend. Und vor allen Dingen laut und schrill. Eigenschaften, die Doris nicht besonders schätzte.
Aber dann kam die Sprechstunde ab neun. Das war der Augenblick, wo sie es wirklich in erster Linie mit Dr. Graf zu tun hatte.
Ein paar Hinweise, ein paar Tipps, die ihr die Vorgängerin, eine jüngere Schwester gab. Alle diese Hinweise und Tipps wurden dann von Dr. Graf wieder über den Haufen geworfen, in dem er später, als die jüngere Schwester weg war, zu Doris sagte:
„Also alles, was hier früher gelaufen ist, ist totaler Käse. Machen Sie das so, wie Sie das in Erlangen getan haben. Und wenn mir etwas nicht passt, werde ich Ihnen das sagen. Und jetzt rein mit dem ersten Patienten!“
Die Zusammenarbeit mit Dr. Graf ließ sich besser an, als von Doris erhofft. Er blieb sachlich, sprach nur über das Wesentlichste mit ihr. Und immer waren es medizinische Dinge oder auf die Person des Patienten bezogene. Zu privaten Bemerkungen kam es gar nicht. Und je weiter die Zeit fortschritt, umso märchenhafter kam ihr das vor, was sie mit ein und demselben Mann anlässlich des Kinobesuches erlebt hatte. Unvorstellbar, dass es dieser Mann gewesen war und nicht irgendein wildfremder anderer.
Aber er war es, und daran gab es keinen Zweifel. Doch er ließ sich nichts, aber auch gar nichts davon anmerken, dass auch ihm dieses Erlebnis noch im Kopf herumspukte.
Kurz nach zwei war endlich der Massenandrang in die Sprechstunde vorbei. Die letzte Patientin war gegangen, und Doris steckte deren Karteikarte ins Fach zurück.
Es gab noch ein paar Dinge aufzuräumen. Sie tat es, und war in dieser Zeit mit Dr. Graf zum ersten Male an diesem Vormittag längere Zeit in einem Raum zusammen. Er saß am Schreibtisch und schrieb.
Ohne aufzublicken sagte er plötzlich in die Stille hinein:
„Das Essen hier in der Kantine ist sehr gut. Es ist keine eigentliche Kantine. Ein hübscher, im Bauernstil eingerichteter Raum. Und wie gesagt, das Essen ist großartig. Ich wollte Ihnen nur einen Rat geben, dass Sie nicht etwa auf die Idee kommen, irgendwo in der Nähe in einem Lokal zu essen, wo alles teuer ist. Im Übrigen gibt es heute Hammelfleisch mit Bohnen.“
Welch ein Blödsinn!, dachte sie. Erzählt mir, was es zu essen gibt. Viel wichtiger wäre mir, dass er ein Wort darüber verlauten ließe, ob ich meine Sache richtig gemacht habe oder nicht.
Er schaute auf und lachte.
Sie hatte ihn zufällig gerade angesehen und blickte ihn befremdet an. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was das dumme Gelache soll. Aber sie schwieg. Und ihr Gesicht war eine einzige Missbilligung.
„Wissen Sie“, meinte er launig, „was mir gerade durch den Kopf gegangen ist?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich bin sicher, Sie werden es mir gleich sagen“, erklärte sie abweisend.
Er grinste. „Das tu ich auch“, meinte er. „Ich habe das Gefühl, dass Sie sich innerlich darüber aufgeregt haben, dass ich Ihnen erzähle, was es zu essen gibt, aber mit keinem Wort erwähne, ob ich mit Ihnen einverstanden bin oder sagen wir mit dem, was Sie getan haben. Also ich bin einverstanden und hatte es eigentlich nicht anders von Ihnen erwartet. Es ist höchste Zeit, dass jemand herkommt wie Sie. Reicht Ihnen das als Lob? Oder brauchen Sie noch eine goldene Schleife?“
„Stürzen Sie sich nicht in Unkosten“, sagte sie angriffslustig, wandte sich ab, um zu gehen.
„Sollten Sie Hammelfleisch mit Bohnen nicht mögen“, rief er ihr nach, „können Sie auch auf Königsberger Klopse umsteigen. Und der Nachtisch ist Pudding. Ich lasse ihn immer zurückgehen. Aber wenn Sie wollen, können Sie meine Portion haben.“
Sie gab ihm keine Antwort darauf und war wütend, als sie die Tür hinter sich schloss. Dieser Affe, dachte sie, was bildet der sich ein? Ein komischer Kerl. Einmal zu Tode betrübt, dann kaltschnäuzig und sachlich durch und durch und jetzt aufreizend und herausfordernd. Im Grunde ist er wie alle anderen. Und ich hatte geglaubt, er sieht in mir ein Neutrum. Der will mich ärgern. Möchte die Wut auf seine geschiedene Frau auf mir abladen. Aber da hat er sich geschnitten. Da kann er bei mir nicht landen.
Sie ging essen und setzte sich ganz bewusst und absichtlich an einen Tisch, an dem bereits drei Schwestern saßen.
Kurz nach ihr kam Dr. Graf. Er sah sich suchend um, und sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Aber da war sie nicht die Einzige. Denn mit ihr am Tisch saßen Schwester Heidi und Schwester Christa. Schwester Heidi gab sich gar keine Mühe, ihr Interesse für Dr. Graf zu verbergen, während Schwester Christa den Kopf zwar gesenkt hielt, aber für Doris unübersehbar zu Dr. Graf hinstarrte.
Da hörte Doris Schwester Heidi leise zu Schwester Christa sagen:
„Dir fallen gleich die Augen aus.“
„Halt bloß die Klappe!“, zischte die stämmige Schwester Christa. „Bildest du dir vielleicht ein, dass du bei ihm Glück hast? Du doch schon lange nicht. Dir sieht er doch an der Nasenspitze an, was mit dir los ist. Und das mag kein Mann.“
„Eine so erfahrene Frau wie du muss es ja wissen“, höhnte Schwester Heidi und widmete sich wieder ihrem Essen.
Schwester Christa nutzte die Gelegenheit, nun ganz offen und unversteckt zu Wieland Graf hinüberzusehen, der an einem Fenstertisch mit einem Kollegen saß.
Später kam dann ein Gespräch zwischen Schwester Christa, Schwester Heidi und Doris auf, als die dritte Schwester am Tisch ihren Platz verlassen hatte und sich die Stationsschwester Silke dorthin setzte. Sie ergriff die Gelegenheit, um Doris mit den beiden Kolleginnen von der Inneren Abteilung bekannt zu machen.
Es gelang Doris mit viel Geschick, die Unterhaltung dahin zu lenken, dass nicht die anderen sie ausfragten, wo sie herkäme und was sie da getan habe, sondern dass die beiden erzählten, Schwester Christa und Schwester Heidi, welche Aufgaben sie auf der Station zu erfüllen hatten. Und ihre Ausführungen wurden noch von denen der Stationsschwester ergänzt.
Indessen hatte Doris ihren Teller leer gegessen und lehnte auch einen Kaffee, zu dem sie eingeladen werden sollte, dankend ab.
Sie war wieder auf der Station, bevor Dr. Graf dort auftauchte. Aber sie war allein im Stationszimmer, und als sie ihn durch die Glasscheibe kommen sah, fürchtete sie, er werde zu ihr hereinkommen. Es gab einige Eintragungen zu machen, und sie beugte sich tief über das Medikamentenbuch, als sei sie konzentriert beschäftigt.
Aber er ging am Stationszimmer vorbei. Kurz darauf hörte sie die Tür des Arztzimmers klappen, das gleich nebenan lag.
Noch vor den beiden jüngeren Schwestern kam die Stationsschwester zurück, setzte sich neben Doris und zündete sich eine Zigarette an.
„Diese blöden Gänse“, sagte sie. „Ich meine Heidi und Christa. Richtige Suppenhühner sind das. Die sind wie verrückt auf Doktor Graf. Dabei interessiert er sich überhaupt nicht für Frauen. Die sind jetzt in seinem Zustand ungefähr das Letzte, wonach der sich sehnt.“
„Wieso?“, fragte Doris und stellte sich ahnungslos.
„Der hat eine katastrophale Ehe hinter sich. Das weiß hier jeder.“
„Kennen Sie die Frau?“
Schwester Silke schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber ich habe mal ein Telefongespräch mitgehört, ob ich nun wollte oder nicht, ich musste es einfach mithören. Ein Telefongespräch mit seiner Frau. Sie hat einfach hier angerufen. Und er war hier im Stationszimmer. Die Zentrale hat durchgestellt. Er hätte wohl am liebsten gleich wieder aufgelegt, aber dann hat er ein paar Dinge gesagt, da habe ich mit den Ohren geschlackert, kann ich Ihnen sagen.“
„Mich interessiert das nicht“, erklärte Doris rundweg. „Es ist seine Sache und die seiner Frau. Ich habe auch meine Probleme. Jeder hat sie.“
„Recht haben Sie, Schwester Doris. Vergessen wir das. Sie sind jedenfalls nicht eine von denen, die Doktor Graf schöne Augen macht. Am Ende sind die Kerle alle gleich. Meiner ist auch hinter jedem Rock her.“
„Sie sind verheiratet?“, fragte Doris Interesse heuchelnd und hoffte, dass sie damit auf den grünen Knopf gedrückt hatte, der Schwester Silke bewegen konnte, nun von sich zu reden und keine Fragen mehr zu stellen.
„Ja, das bin ich“, sagte die Stationsschwester. „Auch wenn ich keinen Ring trage. Der hindert im Dienst. Verheiratet mit dem liebsten Mann der Welt, und manchmal könnte ich den Kerl in die Hölle schießen. Aber so sind sie alle. Wenn er irgendwo eine Frau sieht, verrenkt er sich den Hals. Die geben sich gar keine Mühe, das zu verbergen. Das tun sie nur vor der Ehe. Wenn man einmal das Jawort gegeben hat, ist es aus.“
„Arbeitet Ihr Mann im medizinischen Bereich?“, fragte Doris.
Schwester Silke schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Er ist beim Theater an der Kasse. Wenn Sie übrigens mal für die Oper Freikarten haben wollen, falls Sie sich für Oper interessieren, er bringt mir manchmal welche mit. Ich mag Opern nicht. Und schon gar nicht die von Wagner. Da sitzt man die halbe Nacht und bekommt rote Flecken am Hintern. Das hört und hört nicht auf, und sie singen immer wieder dasselbe. Grässlich.“
Doris lächelte. „Aber eine Oper ist doch schön. Wenn sie gut gespielt wird. Es muss nicht gerade Wagner sein. Aber Mozart. Denken Sie doch an 'Zauberflöte'.“
Schwester Silke winkte ab. „Hören Sie auf. Alles dasselbe. Und dieses hin und her Gesinge, das geht mir einfach auf den Wecker. Ich kann auch nicht so lange herumsitzen.“
„Und Ihr Mann?“
„Der geht überhaupt nicht hin. Wenn es den juckt, sieht er sich mal eine Probe an. Er kann ja überall hin. Aber es macht ihm wohl auch keinen Spaß. Da gehen wir lieber zum Trabrennen. Haben Sie Spaß am Trabrennen?“
Doris schüttelte den Kopf. „Nein. Das macht doch nur Spaß, wenn man wettet. Und ich wette nie.“
„Ich wette für mein Leben gern“, erklärte Schwester Silke. „Und ich habe auch schon ein paarmal gewonnen. Allerdings“, fügte sie betrübt hinzu, „öfter noch verloren. Dabei hatte ich immer so gute Tipps.“
Schwester Christa und Heidi kamen von der Kantine zurück. Die beiden hatten offenbar Streit miteinander gehabt. Ihre Gesichter wirkten gerötet, ihre Augen zornig. Schwester Heidi ging weiter, Schwester Christa kam ins Stationszimmer.
Die Tür war noch nicht hinter ihr zu, da keifte sie wütend:
„Diese Schneeziege. Bildet sich ein, sie hätte eine Chance bei Doktor Graf. Wie die den anhimmelt, das ist schon nicht mehr schön. Das sollte eigentlich verboten werden. Was der einfällt. Als wenn der sich mit so einer abgäbe.“ Doris lachte in sich hinein, ließ aber äußerlich nicht erkennen, was sie dachte. Das tat stattdessen Schwester Silke.
„Und du?“, fragte sie. „Bist du anders? Du bist doch genauso wie Heidi. Ganz verrückt bist du auf den.“
„Das ist nicht wahr. Das ist eine Unterstellung“, behauptete Schwester Christa.
Schwester Silke schnitt ihr das Wort ab. „In 210 hat jemand geläutet. Nun geh schon hin!“
„Ach, das ist diese Alte. Die könnte ich vergiften. Die quengelt immer herum.“
„Wenn man siebenundachtzig ist und solche Nierensteine hat“, sagte Schwester Silke, „da ist man nicht mehr so geduldig. Nun geh endlich!“
Schwester Christa machte noch eine schnippische Bemerkung, dann verschwand sie.
„Ich hätte ja auch gehen können“, sagte Doris.
„Nein. Wieso eigentlich. Für diese Sachen sind wir nicht zuständig. Wir sind die Stationsschwestern. Und 210 gehört zum Bereich von Christa. Das ist sowieso ein faules Luder. Die werden Sie noch kennenlernen. Übrigens sollten wir uns nicht duzen? Es ist hier allgemein üblich. Sogar die Ärzte duzen sich untereinander, abgesehen vom Chef.“
Doris legte auf so etwas nicht viel Wert, aber sie wollte sich auch nicht ausschließen.
„Also gut“, sagte sie.
Sie gaben sich die Hand, und dabei blieb es. Das Telefon schellte.
„Wer ist denn das schon wieder?“, meinte Schwester Silke und nahm ab.
Sie meldete sich, blickte dann sofort auf Doris und sagte: „Ja. Ich sag es ihr.“ Dann legte sie wieder auf. „Es ist für dich. Doktor Graf möchte dich sprechen. Er ist im Arztzimmer nebenan. Der hätte auch seinen Hintern hochheben und einmal hierherkommen können, statt anzurufen. Aber so ist der. Der lässt uns tanzen wie die Puppen, wenn es ihm in den Kopf kommt. Mit dem bekommst du noch eine Menge Spaß. Auf der anderen Seite ist er sehr korrekt. Aber ein komischer Heiliger ist er doch.“
„Wie meinst du das?“, fragte sie und sah die Kollegin an.
Die zuckte die Schultern. „Na ja, ich erzähle es dir ein andermal. Weißt du, da wo er wohnt, ist auch die Wohnung meiner Tante. Sie hat ihre Wohnung direkt unter ihm. Er wohnt oben unterm Dach. Schräge Wände und so. Ganz kleine Bude. Nur zwei Zimmer. Altes Haus. Er könnte sich wirklich etwas Besseres leisten. Aber so ist er nun mal. Und von meiner Tante weiß ich da einiges. Er hat eine Aufwartefrau, die auch viel mit meiner Tante spricht. Ältere Frau ist das. Der haust wie ein Junggeselle. Schlimm, sage ich dir. Nun geh schon zu ihm! Sonst wird er ungeduldig. Dann ist er besonders wild.“
Doris lächelte. Und sie hatte schon die Türklinke in der Hand, da rief ihr Schwester Silke noch nach: „Den musst du dir erziehen, sag ich dir. Lass den bloß nicht übermütig werden! Als Arzt ist er große Klasse. Da gibt es nichts. Aber als Mensch ... bei dem ist einiges nicht klar. Der muss erst mal Ordnung in sein Privatleben bringen. Und jetzt zisch ab! Sonst tobt er wieder. Mit mir hat er vorgestern herumgebrüllt.“
Als Doris bei ihm eintrat, saß er hinten an, dem kleinen Schreibtisch, hatte Nadel und Zwirn in der Hand und versuchte, sich einen Knopf an seinem Hemd anzunähen. Hilfesuchend blickte er Doris entgegen.
„Schwester Doris, können Sie mir helfen? Ich kriege das nicht hin.“
„Was denn? Den Knopf anzunähen?“, fragte Doris überrascht.
„Genau das. Ich hätte es ja irgendeiner anderen sagen können. Aber die denken da immer sonst etwas. Wenn es Ihnen nichts ausmacht ...“
Es machte ihr nichts aus. Ein paar Stiche, und der Knopf war angenäht.
Bewundernd schaute er sie an. „Wie Sie das können!“
„Reden Sie keinen Stuss, Herr Doktor Graf. Wenn Sie sich etwas bemühen, können Sie das auch. Ich stehe nicht auf Komplimente.“
„Das habe ich schon gemerkt“, meinte er knurrig. „Aber Sie streiten sich für Ihr Leben gern, nicht wahr?“
„Ist sonst noch etwas?“, fragte sie, statt darauf einzugehen.
Er grinste wieder. „Nein, eigentlich nicht. Wollen wir heute Abend wieder ins Kino gehen? Aber diesmal in einen guten Film.“
„Danke. Mein Bedarf an Kinobesuchen ist vorläufig gedeckt“, entgegnete sie und ging hinaus, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.
Er starrte noch auf die Tür, als sie schon längst geschlossen war, und murmelte perplex ob ihrer Reaktion:
„Donnerwetter. Die schlägt ja richtig zu!“