Читать книгу Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore - Страница 8
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ОглавлениеDie nächsten drei Wochen gingen dahin, ohne dass etwas Besonderes geschah, Doris und Dr. Graf waren manchmal wie Hund und Katze zueinander, aber im medizinischen Bereich arbeiteten sie hervorragend zusammen. Die ersten Tage, nachdem sie ihn wegen des Kinobesuchs abblitzen ließ, machte er nicht den geringsten Versuch, über das rein Fachliche hinaus nur ein Wort mit ihr zu sprechen. Und sie war ihm dankbar dafür. Sie ermunterte ihn auch keineswegs. Aber dann bat er sie einmal, ihm eine Tasse Kaffee zu bringen.
Sie sah ihn nur an und sagte schnippisch: „Die Kantine ist im Souterrain. Ich bin nicht zum Kaffeekochen bei Ihnen.“
Sie erwartete eine scharfe Antwort, aber er zuckte nur die Schultern und ließ sich den Kaffee von einer Lehrschwester holen.
Danach verschärfte sich das Klima noch, abgesehen von der eigentlichen Arbeit. Als Graf merkte, dass er sie nicht provozieren konnte, ließ er sie völlig in Ruhe und beschränkte sich tatsächlich auf das, weshalb sie bei ihm war.
Es war so eine Art Waffenstillstand. Bis sie eines Tages bemerkte, dass er sein Hemd, das schon gestern bekleckert gewesen war, noch immer trug. Ihr lag eine spitze Bemerkung auf der Zunge, aber sie unterließ es. Aber zufällig hatte wohl Professor Winter das nicht ganz saubere Hemd ebenso bemerkt und schien etwas gesagt zu haben. Graf jedenfalls verschwand in der Mittagspause und kam dann am Nachmittag mit einem blütenweißen Hemd wieder.
„Das hätten sie mir auch mal sagen können, dass mein Hemd bekleckert war. Ich hatte das gar nicht gesehen“, knurrte er Doris an.
„Bin ich Ihre Mutter oder Ihre Ehefrau, dass ich auf so was achten müsste? Sie sind doch selbst alt genug. Und einen Spiegel haben Sie doch sicher auch“, erwiderte sie feindselig.
Er musterte sie überrascht. Zuckte aber wie meistens, wenn er etwas Derartiges bemerkte, nur die Schultern und wandte sich ab.
Dann lernte sie zum ersten Mal seine geschiedene Frau kennen, Linda Hüttner.
Sie kam und wollte ihren geschiedenen Mann sprechen, und als sie ihn nicht antraf, fragte sie Doris. Sie war sehr freundlich. Eine brünette hübsche Frau von mittlerer Größe, schlank, aber man sah ihr an, dass sie diese Schlankheit erkämpfen musste. Sie neigte zur Korpulenz, und Doris fragte sich, welch innere Zweikämpfe Linda Hüttner angesichts eines guten Essens mit sich ausfechten musste.
„Herr Doktor Graf ist im Augenblick nicht verfügbar. Er ist im OP, und dort wird seine Anwesenheit als Internist benötigt. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“
Bis dahin hatte sie noch gar nicht gewusst, dass Linda Hüttner die geschiedene Frau von Dr. Graf war, zumal sie ja einen anderen Namen trug; ihren Mädchennamen, wie sich später herausstellte. Doch Linda Hüttner nahm kein Blatt vor den Mund.
„Herr Doktor Graf ist mein geschiedener Mann. Ich habe etwas Wesentliches mit ihm zu besprechen. Wann glauben Sie, dass er da ist?“
Doris blickte auf die Uhr. „Das könnte Nachmittag werden. Es ist eine sehr schwierige Geschichte. Soll ich ihm irgendetwas ausrichten, dass er sich bei Ihnen melden soll? Es wird wenig Sinn haben, wenn Sie hier warten.“
„Nein, das hat keinen Sinn“, entgegnete Linda Hüttner und sah Doris lächelnd an. „Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie ihm wirklich Bescheid sagen?“
„Sie können sich fest darauf verlassen“, bestätigte Doris. Und sie fragte sich, während sie das sagte, wie alt Linda Hüttner sein mochte. Bestimmt schon über Mitte dreißig, obgleich sie noch gut aussah und sich offenbar alle Mühe gab, Äußerlichkeiten des Älterwerdens zu bekämpfen. Ein Kampf, in dem sie früher oder später unterliegen musste. Da half auch kein Make-up. Im Gegenteil. Es beschleunigte diese äußerlichen Merkmale nur noch. Aber Doris stand es nicht zu, etwas dazu zu sagen, und Linda Hüttner unterbrach ihre Gedanken auch mit der Frage:
„Wissen Sie, ob er mittags irgendwohin essen geht? Ich könnte ihn da treffen.“
„Wie ich die Sache beurteile, Frau Hüttner“, sagte Doris, „geht es mit der Operation über ein Uhr hinaus. Vielleicht wird es sogar zwei. Und Herr Doktor Graf isst, wie ich bisher weiß, nicht außerhalb. Allerdings kenne ich seine Gewohnheiten noch nicht so sehr gut. Schließlich bin ich erst drei Wochen hier.“
„Oh. Und es gefällt Ihnen, mit ihm zu arbeiten?“, fragte Linda Hüttner und lächelte wieder erwartungsvoll.
„Es arbeitet sich sehr gut mit ihm“, behauptete Doris. Sie dachte nicht im Traum daran, dieser Frau etwas von den Spitzen zu erzählen, mit denen sie sich mitunter gegenseitig traktierten.
„Das überrascht mich. Er hält nicht viel von Frauen. Jedenfalls hat er das mir gegenüber erklärt. Dabei kann er ohne Frauen nicht leben. Ich weiß es. Niemand weiß es besser als ich.“
„Tut mir leid, Frau Hüttner, aber so weit geht mein Interesse für ihn nicht. Ich arbeite mit ihm zusammen. Und dabei bleibt es“, sagte Doris so abweisend, dass Linda daraufhin eigentlich das Gespräch hätte abbrechen müssen. Aber das war absolut nicht ihre Art. Wenn sie sich für etwas interessierte, dann bohrte sie weiter und hoffte, fündig zu werden. Eine Frau, die mit Wieland zusammenarbeitete, konnte doch nicht nur das Berufliche sehen. Es sei denn, sie war verheiratet. Und das wollte Linda Hüttner zu gern erfahren. Und sie fragte danach.
Doris schüttelte den Kopf. „Was hat das mit meiner Arbeit zu tun? Frau Hüttner, ich werde ihm Bescheid sagen, wenn ich ihn sehe. Sie können sich fest darauf verlassen. Sagen Sie mir, wo er Sie erreichen kann, und ich werde es ihm mitteilen.“
Das war deutlich genug. Aber Linda zeigte sich auch jetzt noch dickfellig.
„Wo essen Sie denn zu Mittag? Ich würde Sie sehr gern einladen.“
„Tut mir sehr leid. Aber ich habe ein festes Programm. Und was das Essen angeht, so mache ich das so nebenbei, zwischendurch. Ich weiß nicht einmal, ob ich heute in die Kantine gehe. Und außerhalb esse ich bestimmt nicht. Es sind in nächster Nähe keine Lokale. Die etwas weiter entfernten sind mir zu teuer.“
„Aber ich hätte Sie doch eingeladen. Nun kommen Sie, seien Sie kein Frosch! Wir essen zusammen.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „In einer Stunde haben Sie doch sicher Mittag?“ Doris lächelte höflich und schüttelte den Kopf. „Tut mir sehr leid, Frau Hüttner. Ich habe keine Zeit, so lange wegzubleiben.“
„Und wenn Sie Feierabend haben?“
Was denkt sie sich?, dachte Doris. Will sie mich ausforschen über ihn? Und sie sagte: „Ich habe heute Abend etwas vor. Entschuldigen Sie. Und jetzt muss ich dringend auf die Station.“
Linda Hüttner gab es auf. Aber gerade die abweisende Art von Doris hatte in ihr einen Verdacht geweckt, der zwar völlig unbegründet war, aber da sie von sich ausging und ihre Denkweise auch anderen unterstellte, war sie überzeugt, dass Doris irgendetwas mit ihrem ehemaligen Mann hatte. Und das wollte sie erforschen. Schließlich war sie nicht hier, sich mit Wieland zu streiten, sondern um einen erneuten Versuch zu machen, dass er wieder zu ihr zurückkehrte. Sie war fest entschlossen, es diesmal zu schaffen.
Sie ging und verabschiedete sich überaus freundlich. Nach Doris’ Geschmack ein wenig zu freundlich und scheinheilig. Aber Doris vergaß Linda Hüttner sehr rasch und dachte erst wieder an sie, als Dr. Wieland Graf vom OP zurückkam. Er wirkte müde und erschöpft, und sie ertappte ihn dabei, als er aus seinem Schreibtisch eine Flasche Cognac nahm und sich ein Glas eingoss.
Ihr vorwurfsvoller Blick auf die Flasche ließ ihn grinsen. „Wollen Sie auch einen?“
„O nein. Ich bin im Dienst.“
„Ich auch. Aber ein kleiner Cognac belebt.“
„Vielleicht für einen Moment“, erwiderte sie ablehnend.
Als er sein Glas ausgetrunken hatte und die Flasche wieder in den Schrank zurückstellte, sagte sie ihm das von Linda.
Sein Grinsen verschwand schlagartig. Wütend stand er auf.
„Warum haben Sie sie nicht rausgeworfen? Ich habe keine Zeit für diese Frau. Tut mir schrecklich leid. Wenn sie eine Patientin wäre, müsste ich sie erdulden. Aber das ist nicht der Fall.“
„Ich habe Ihnen gesagt, was sie mir aufgetragen hat, und mehr gibt es darüber nicht zu sprechen. Ist sonst noch etwas, Herr Doktor?“
„Menschenskind, Schwester Doris, nun setzen Sie sich doch mal hin.“
„Ich möchte keinen Cognac.“
„Ich will Ihnen kein Cognac einschenken, verdammt nochmal“, fauchte er sie an. „Ich möchte nur mal wissen, was in Sie gefahren ist. Sie sind tüchtig, das gebe ich zu. Ich könnte mir keine bessere Assistenz bei meiner Arbeit wünschen. Aber darüber hinaus sind Sie eine Viper.“
„Oh, vielen Dank für das Kompliment. Ich ringle mich vor Freude, wie das Vipern so tun“, erwiderte sie aggressiv.
„Das ist der Ton. Was habe ich Ihnen nur getan?“
„Nichts. Und Sie werden mir auch nichts tun. Ich ließe es mir nämlich nicht gefallen. Ist noch etwas Herr Doktor?“
„Zum Teufel nein, Oder doch. Ja, da ist etwas. Rufen Sie meine geschiedene Frau an und sagen Sie ihr, dass ich keine Zeit hätte.“
„Da steht das Telefon, und da Sie der deutschen Sprache mächtig sind, Herr Doktor Graf, werden Sie das bitte selbst tun. Ich bin kein Telefonfräulein.“
Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, dass sogar der Briefbeschwerer hochsprang. „Zum Donnerwetter nochmal, das ist doch keine Arbeiterei mit Ihnen. Und wenn Sie tausendmal tüchtig sind. Es muss doch eine menschliche Beziehung zwischen uns geben. Sie brauchen ja nicht gleich mit mir zu schlafen. Aber wir können doch nett zueinander sein.“
„So nett, wie Sie jetzt gerade schreien?“, fragte sie spitz.
„Ihr Zynismus treibt mich auf die Barrikaden. Also gut, wenn Sie es nicht anders wollen, kann ich auch so sein.“
„Sie waren die ganze Zeit auch gar nicht anders. Was erwarten Sie eigentlich von mir? Dass ich Ihre Hemden wasche? Ihre Socken stopfe? Ihnen Kaffee koche? Mich um Sie kümmere wie um ein kleines Kind? Sie sind älter als ich und können sich, vermute ich, genauso gut helfen, wie ich mir helfen kann.“
Er starrte sie fassungslos an. „Was soll das nun wieder heißen?“, polterte er los.
„Es ist also nichts Berufliches mehr, dann gehe ich.“
„Nein, zum Teufel, Sie bleiben hier. Und ich verlange das von Ihnen. Sie hören mir jetzt zu! Wenn Sie schon nicht kapieren, was ich meine, werde ich es Ihnen jetzt deutlich machen. Ich will nicht, dass Sie meine Socken stopfen, meine Hemden bügeln und solchen Quatsch. Ich möchte, dass wir einfach einen anderen Ton zueinander finden. So möchte ich Sie jedenfalls nicht behalten.“
„In Ordnung, wenn Sie mich nicht behalten wollen, sagen Sie es Herrn Professor Winter. Der Herr Chefarzt wird sicher eine Entscheidung fällen.“
„Wollen Sie weg?“
„Nein. Aber Sie wollten ja, dass ich weggehe. Das haben Sie eben unmissverständlich ausgedrückt.“
Er lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. Wesentlich sanfter als eben sagte er: „Nun hören Sie doch mit diesem Blödsinn endlich auf. Ich will nicht mit Ihnen schlafen, und ich sehe nicht die Frau in Ihnen. Aber eine Mitarbeiterin. Sie könnten auch von mir aus ein Mann sein. Es wäre mir egal. Aber dieser Ton, wie wir miteinander verkehren, der geht mir allmählich auf den Wecker.“
„Glauben Sie, ich finde es schön?“, fragte sie.
„Also los, versöhnen wir uns wieder.“
„Bei einem Glas Cognac?“, fragte sie ironisch.
„Hören Sie doch mit diesem verdammten Cognac auf. Was soll das denn? Wollen Sie mich aus der Reserve locken, in Wut versetzen oder was immer. Menschenskind, ich habe eine Wahnsinnsoperation hinter mir. Und wenn ich auch nicht selbst operiert habe, so gab es genug für mich zu tun. Das können Sie mir glauben. Ich bin ziemlich groggy.“
„Im Gegensatz zu mir, die ich den ganzen Tag herumgesessen habe“, meinte sie spöttisch.
„Jetzt fangen Sie schon wieder an. Warum sind Sie nur so verdammt giftig?“
„Vielleicht suchen Sie einmal die Schuld auch bei sich und nicht nur bei mir. Immerhin haben wir ein gemeinsames Erlebnis. Ich meine diesen Kinobesuch.“
Es klopfte. Und Dr. Graf meinte mürrisch: „Wer ist denn das schon wieder?“ Dann rief er laut: „Herein!“
Es war die Anästhesistin der Klinik, Frau Dr. Gerti Lamprecht. Eine schlanke dunkelhaarige Frau, Mitte dreißig, mit sympathischem Gesicht.
„Hallo, störe ich? Ich wollte von dir nur ein paar Eintragungen, Wieland.“ Sie schob ihm etwas auf den Schreibtisch und blickte dann lächelnd auf Doris. „Na, Schwester Doris, haben Sie sich inzwischen eingelebt? Ich habe eine Neuigkeit für Sie. Der Chef möchte Sie für eine Woche als Vertretung seiner Sprechstundenhilfe haben.“
Wieland Graf blickte überrascht auf. Auch Doris war erstaunt.
„Davon sollte ich auch etwas wissen“, sagte Wieland Graf verärgert. „Mir hat er kein Wort davon erzählt.“
„Er hat es eben mit der Oberschwester besprochen, und ich war zufällig dabei.“
„Und was mache ich so lange?“, fragte Wieland Graf.
„Du bekommst einen Ersatz. Es ist doch nur für eine Woche. Schwester Heidi wird Schwester Doris die paar Tage vertreten. Du wirst es überleben, Wieland.“ Sie wandte sich wieder an Doris. „Mit dem Chef können Sie bestimmt gut zusammenarbeiten. Er ist ein humorvoller Mensch.“
„Bin ich vielleicht nicht humorvoll?“, rief Wieland Graf poltrig. „Gibt es da etwa Beschwerden?“ Er sah auf Doris.
Die schüttelte unmerklich den Kopf. „Sie fühlen sich immer auf den Schlips getreten, Herr Doktor.“
„Ich fühle mich nicht auf den Schlips getreten. Ich finde es unerhört, über meinen Kopf hinweg solche Bestimmungen zu treffen. Er hätte mich fragen können.“
„Nun füll endlich das aus“, sagte Dr. Gerti Lamprecht. „Ich muss weiter.“ Widerstrebend füllte er die leeren Spalten aus, die ihn betrafen. Es war wohl ein Protokoll der Operation. Als er fertig war, schob er es Gerti Lamprecht zu. Die bedankte sich, nickte dann Doris zu und sagte: „Ist er eigentlich immer so freundlich?“
„Ich kann mich nicht beklagen“, behauptete Doris. Und als Gerti Lamprecht draußen war, fragte Wieland Graf:
„Sie nehmen mich ja noch in Schutz, Schwester Doris? Warum eigentlich? Polieren Sie an meinem Image?“
Sie lächelte nur. Gab ihm aber keine Antwort darauf und fragte stattdessen: „Ist sonst noch etwas? Ich habe Arbeit. Ich muss auf die Station.“
Er sagte nichts, griff zum Telefon und wählte. Doris betrachtete das als Aufforderung zu gehen. Als sie die Tür noch nicht hinter sich geschlossen hatte, hörte sie ihn sagen: „Ich bin es, und ich möchte dich bitten, endlich damit aufzuhören, hinter mir herzulaufen. Es ist aus, es ist vorbei, Linda! Begreif es endlich!“
Mehr hörte Doris nicht, denn sie schloss die Tür.
Als sie am Abend nach Dienstschluss mit dem Fahrrad die Klinik verließ und hinter dem Tor kurz abstoppte, nach links und rechts sah, ob kein Auto kam und gerade weiterfahren wollte, hörte sie eine Frauenstimme rufen: „Schwester Doris, auf einen Moment.“
Doris blickte nach rechts und sah Linda Hüttner.
Dr. Grafs geschiedene Frau trug ein elegantes sportliches Kostüm, stand auf hochhackigen Schuhen und ließ lässig zwischen linkem Zeigefinger und Daumen eine Handtasche pendeln.
Doris stieg ab und schaute Linda Hüttner fragen an.
„Kann ich Sie nicht zu einer Tasse Kaffee einladen?“, fragte Linda.
„Tut mir leid. Ich habe Ihnen ja gesagt, meine Zeit ist knapp, und außerdem habe ich etwas vor.“
„Können Sie mir nicht einen Gefallen tun und meinen geschiedenen Mann bitten, dass er einmal herauskommt, dass er ...“
Doris schüttelte den Kopf. „Das mache ich bestimmt nicht. Ich spiele nicht Postillon d’amour. Guten Abend, Frau Hüttner.“
Sie hörte noch, wie Linda wütend zischte: „Dämliche Ziege.“
Doris nahm es gelassen hin. Sie fuhr, wie meistens, wenn es schön war, durch den Englischen Garten nach Hause. Es war eine Abkürzung, und außerdem mochte sie es, langsam durch diesen riesigen Park zu radeln.
Bevor sie nach Hause kam, kaufte sie noch im Supermarkt ein paar Kleinigkeiten ein und war dann schließlich froh, ihre Wohnung zu betreten.
Es war ein herrlicher Abend. Zwar stand die Sonne schon sehr tief, aber die Dächer und die Bäume, die sie von ihrem Fenster aus sah, schienen vergoldet. Eigentlich zu schade, um in den vier Wänden zu bleiben. Aber sie war müde, aß ein paar Happen, trank einen Schluck und legte sich dann auf ihre Couch, die Beine hoch. Sie war genug in der Klinik herumgerannt. Jetzt machten sich ihre Füße bemerkbar.
Im Liegen studierte sie die wenige Post, die sie bekommen hatte und entdeckte dann noch einen Brief von Dieter.
Als sie ihn gelesen hatte, zerknüllte sie ihn und schleuderte ihn wütend in die Ecke, streckte sich aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Sie starrte zur Decke, bis zu der die Sonnenstrahlen reichten, die durchs Fenster fielen.
Irgendwie geht es mir genau wie ihm, und sie meinte damit Wieland Graf. Wir sind wirklich in derselben vertrackten Situation. Aber ich sollte mir keine Schwachheiten erlauben. Er ist bestimmt nicht der Mann, mit dem ich mich einlassen darf. Es gibt überhaupt keinen Mann, mit dem ich mich einlasse. Grundsätzlich nicht.
Sie hatte diesen Gedanken noch gar nicht ausgedacht, da läutete das Telefon. Seit einer Woche hatte sie Telefon, und es war ihr noch so ungewohnt, dass sie zusammenschreckte, weil es so einen merkwürdigen Läuteton hatte. Sie sprang von der Couch auf, ging zum Apparat, hob ab und meldete sich.
Es war Schwester Silke.
„Erschrick nicht! Es ist nichts Besonderes. Ich rufe von zu Hause an. Mein Mann hat mir Freikarten mitgebracht für die Oper. Hättest du Lust?“
„Was ist es denn?“
„Der Fliegende Holländer. Ich hab die schon zweimal gesehen.“
„Oh, ich würde gerne gehen. Wenn es nichts ausmacht?“, meinte Doris.
„Aber nicht doch! Ich ruf doch deshalb an. Wenn du jemand mitnehmen kannst? Ich könnte dir zwei Karten überlassen.“
„Ich wüsste nicht, wen ich mitnehmen sollte. Wenn du nicht mitgehst ...“
„Nein, nein, Ich sagte dir doch, ich hab das schon zweimal gesehen. Dann geb ich jemand anderem die Karte, wenn du nur eine willst.“
„Soll ich sie mir abholen?“
„Unsinn. Ich bring sie morgen mit in den Dienst. Ach so, jetzt willst du wissen, wann es ist. Am Montag. Kommenden Montag. Passt dir das? Du hast doch keine Bereitschaft, oder?“
„Nein. Es würde mir schon passen. Und wann?“
„Zwanzig Uhr“, erwiderte Silke. „Und du hast wirklich niemanden, mit dem du gehen kannst?“
„Nein. Ich wüsste nicht, wen.“
„Na ja, macht nichts. Es gibt genug Interessenten. Ich wollte dir nur den Vorzug lassen, Doris. Und sonst? Gibt es irgendetwas Neues?“
„Nein. Nicht, dass ich wüsste. Aber vielen Dank, Silke. Ich finde das klasse von dir, dass du an mich gedacht hast.“
„Habe ich dir doch versprochen. Also, bis morgen.“
Sie verabschiedeten sich, und Doris legte auf.
Sie blickte auf ihren Kalender. Montag also. Prima, sie freute sich darauf. Und sie überlegte jetzt schon, was sie anziehen sollte. Mein Gott, wie lange bin ich schon nicht in der Oper gewesen. Dieter hatte ja nie Zeit für so etwas. Und wenn, dann wurde immer eine große Schau daraus. Wie alles, was er tat. Signale an die Umwelt. Dass sie nur alle sehen sollten, was für ein tüchtiger, erfolgreicher Mann er war. Vielleicht hat er mich überhaupt nur geheiratet, weil ich gut aussehe. Er schmückt sich ja überhaupt nur mit Dingen, die wirkungsvoll sind. Ob es nun ein Auto ist, eine schöne Frau, ein modischer Anzug. Äußerlichkeiten bedeuten ihm so viel. Und mir im Grunde gar nichts. Auch da ist Dr. Graf anders.
Verrückt, dachte sie in diesem Augenblick, dass ich Graf mit Dieter vergleiche. Und wenn ich mich noch so mit Dr. Graf zanke, er ist mir selbst in seinen wütendsten Augenblicken lieber als Dieter.
„Ach, die Männer!“, murmelte sie. „Schluss damit. Am Montag in die Oper!“
Wem mag Silke die andere Karte geben?, dachte sie. Womöglich sitze ich dann neben so jemand wie Schwester Heidi oder etwa Schwester Christa. Aber nein, die gehen bestimmt in keine Oper. Ihre Gedanken irrten zu Professor Winter. Bei dem musste sie jetzt eine Woche lang Dienst machen. Ich bin gespannt, dachte sie, wie es bei ihm ist. Auf alle Fälle steht nicht alles so auf Messers Schneide wie bei Dr. Graf ...