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1. Forschungsberichte zur Unternehmenskriminalität

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Den ersten empirischen Anknüpfungspunkt müssen in Anbetracht dessen ältere Quellen bilden. Zum einen sollen die wegweisenden anglo-amerikanischen Arbeiten von Sutherland einerseits und – explizit zu corporate crime – von Clinard und Yeager sowie Braithwaite andererseits, betrachtet werden. Zum anderen soll auf zwei Forschungsberichte aus der ehemaligen DDR eingegangen werden.[1]

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Letzteren liegen Daten aus Aktenerhebungen in vier Bezirken der DDR, Materialien des Ministerrats und der zentralen Kontrollorgane zugrunde. Ihre Kernerkenntnisse sollen schon aufgrund ihres „statistischen Wertes“ kurz vorgestellt werden: Zentrales Ergebnis der Untersuchungen war, dass die tatsächliche Strafverfolgung und Sanktionierung von Unternehmenskriminalität in der Hauptsache die mittlere Hierarchieebene des Unternehmens traf. Es wurden also vor allem Leiter unterer oder mittlerer Betriebsebenen zur Verantwortung gezogen, wohingegen Leiter der oberen Etagen verschont blieben. Damit wird auf ein Phänomen hingewiesen, dass Sutherland einige Jahre zuvor in den USA beobachtet hatte und zur Grundlage seiner Theorie des „white collar crime“ machte.[2] Weiter wurde im Rahmen dieser Studie auf folgenden Mechanismus hingewiesen: Durch das „Absinken der Wirtschaft“ stieg die Tendenz zur Verschleierung der realen Lage. Der zentrale Erfolgsmeldungsdruck ohne Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit führte zu massenhaften Falschmeldungen aufgrund der Nichterfüllbarkeit oktroyierter Vorgaben. Um den Anschein der Durchsetzungsfähigkeit des Staates zu wahren, wurde eine erhöhte Kriminalisierung im Bereich des § 171 StGB-DDR[3] angestrengt, die in wenigen Fällen zu Strafverfahren führte. Gleichzeitig beobachteten die Wissenschaftler eine Selbstausgrenzung des zentralen Fälschers als Täter, plakative Erklärungen gegen Falschmeldungen und die opportunistische weitere Duldung und Förderung der Falschmeldepraxis.[4] Als Grund für diese Entwicklung und den festgestellten tiefen Widerspruch zwischen offizieller Darstellung der Erfolge in der DDR und den aufgedeckten, massenhaften Krisenerscheinungen im Wirtschaftsmechanismus nannten die Verfasser der Studie zwei Problemkreise: Der erste hatte mit den objektiven und subjektiven Möglichkeitsfeldern auf der „Volkswirtschaftsebene“ zu tun, die mit Erscheinungen sozialistischer Eigentumsverhältnisse im Zusammenhang standen.[5] Der zweite – und für die heutige Problemkonstellation bedeutsamere – Aspekt wurde als „Problem der Individualitätsentwicklung“ bezeichnet. Dieses Problem fand nach Ansicht der Verfasser vor allem im Verhältnis Individuum/Kollektiv und in der Idealisierung des Persönlichkeitsbegriffs seinen Ausdruck. Das Kollektiv würde in seiner starren Form über die Schöpferkraft des Einzelnen gestellt. Eine realitätsferne Harmonisierung des Kollektivlebens und damit übergroße Vertrauensseligkeit sei die Folge, was wiederum Passivität gegenüber rechtswidrigen Handlungen, Entpersönlichung des Kollektivs und damit Begünstigung persönlicher Fehlleistungen und Straftaten erzeuge. Im Ergebnis kamen die Verfasser zu dem Schluss, dass Schwächen im Kontrollregime als begünstigende Bedingung für schwere Straftaten gegen das sozialistische Eigentum unter Ausnutzung der beruflichen Tätigkeit eindeutig signifikant waren.[6] Dabei wurde zwischen verschiedenen, begünstigenden Bedingungen differenziert: Die Schwächen im inneren Kontrollsystem spielten mit 62% die größte Rolle, wobei hier hauptsächlich „Kontrollpflichtverletzungen der Leiter“ und nur zu einem geringeren Teil solche des Hauptbuchhalterbereichs moniert wurden. Mängel in der äußeren Kontrolle spielten eine wesentlich untergeordnetere Rolle (21%).[7] Für den Fahrlässigkeitsbereich hebten für die Verfasser vor allem subjektive Faktoren wie die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Unterschätzung gefahrvoller Momente (92,5%); mangelnde Sorgfalt, wo höchste Sorgfalt geboten war (85%); Gewöhnung an (meist partielle) Unterordnung und Missachtung einzelner Verhaltensregeln (85%); oberflächliche Kontrolltätigkeit (81%); Missachtung bekannter rechtlicher Regelungen aus persönlichen oder betriebsbezogenen Interessen (65%) hervor.[8] Interessant an dieser Auflistung ist, dass auf einen starken Zusammenhang zwischen der Außerachtlassung solcher Verhaltensanforderungen hingewiesen wird, die zeitlich weit vor der Rechtsgutsverletzung anzusiedeln sind. Auch die Beobachtung, dass nicht die Verstöße an „neuralgischen Punkten“ des Unternehmens (z. B. der Hauptbuchhalterbereich), sondern das Vorgesetztenverhalten eine besondere Relevanz – insbesondere hinsichtlich der Kontrollpflichten – aufwies.

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In einen diametral entgegengesetzten Kontext, nämlich einem kapitalistischen System, sind die Beobachtungen der Zeitgenossen Clinard und Yeager einzuordnen, die 477 der größten US-amerikanischen Industrieunternehmen und 105 der größten Einzelhandels- und Dienstleistungsunternehmen im Hinblick auf deviantes Verhalten in den Jahren 1975 und 1976 untersuchten, wobei sowohl zivil-, verwaltungs- wie strafrechtliche Verfahren berücksichtigt wurden. Es wurden insgesamt nur gegen 60% der Unternehmen ein Verfahren eröffnet[9] und nur gegenüber 56% wurde eine Sanktion verhängt, die überwiegend in Verwarnungen oder einer Geldbuße bestand. Die Autoren stellen dabei auch heraus, dass es sich überwiegend um „Intensivtäter“ handelt, gegen die mehrfach ermittelt wurde[10] und die am häufigsten sanktioniert[11] wurden. Insgesamt und flächendeckend seien die Unternehmen aber nicht der „vollen Härte des Gesetzes“ ausgeliefert; es würden in diesem Bereich doppelt so viele Verwarnungen ausgesprochen als in allen übrigen Kriminalitätsbereichen.[12] Ebenfalls herausgestellt wurde die Bedeutung der Branche für die Häufigkeit wirtschaftskrimineller Vorfälle. Herausragend waren die Automobilbranche mit 20% der mittleren und schweren Rechtsverstöße und die Pharmaindustrie mit 12,5% der Verstöße sowie mit 10% die Ölbranche. Die Autoren schlossen hierbei einen positiven Zusammenhang zwischen Wachstumsraten, Produktdiversifikation und Marktmacht aus und hielten einen solchen im Hinblick auf Größe und Leistungsfähigkeit des Unternehmens für unwahrscheinlich. Insbesondere die Gegenüberstellung von Rechtsverletzung pro Umsatzeinheit statt der üblichen Häufigkeitswerte im Sinne von Rechtsverletzungen pro Großbetrieb, stützen nach Ansicht der Autoren diese Annahme.[13]

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Diese Beobachtungen werden ergänzt durch die parallele Studie von Braithwaite, der 32 international agierende Pharmazieunternehmen ebenfalls im Hinblick auf zivil-, verwaltungs- und strafrechtliche Verstöße untersuchte, hierbei jedoch seinen Fokus auf die Geschäftsführungsebene legte.[14] Er konzentrierte sich auf eine Branche und untersuchte Korruptions-, Produktsicherheits- und Kartellrechtsdelikte, aber auch „Schwindeleien“,[15] die unter Mitwirkung der Leitungsebene zur Gewinnmaximierung erfolgten. Trotz der Ausrichtung der Studie auf die personale Leitungsebene, trägt sie zwei Beobachtungen hinsichtlich struktureller Besonderheiten von corporate crime bei, nämlich zum einen die Begehung der Delikte in einem „Klima“ der Unehrlichkeit oder Toleranz von unlauteren Methoden und zum anderen die systematische „Verschleierung“ angelegter Strukturen durch doppelte Aktenführung und Einsatz externer Agenten.[16]

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Schließlich sollen diese US-amerikanischen Befunde durch die zeitlich vorangehenden Befunde Sutherlands ergänzt werden, die bislang vor allem im Zusammenhang mit wirtschaftskriminologischer Begriffsbildung thematisiert wurden. Seine Definition der white collar-Kriminalität prägte – oder revolutionierte – die (Wirtschafts-)Kriminologie auf verschiedenen Ebenen, auf die im Rahmen der Begriffsbildung noch näher einzugehen sein wird. Sutherlands Arbeiten bieten jedoch auch als kriminologische Hellfeldstudie einen empirischen Anknüpfungspunkt: Die kriminologische Erforschung der Erscheinung „Wirtschaftskriminalität“[17] hatte, abgesehen von wenigen Ausnahmen,[18] kaum stattgefunden, als Sutherland 1949 eine empirische Untersuchung der 70 größten Industrie- und Handelsgesellschaften der USA begann und Verletzungen des Wettbewerbs- und Urheberrechts, unfaire Arbeitspraktiken, „ausgedehnte Betrügereien“ und ähnliche Straftaten feststellte.[19] Intuitiv – und für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung – legte Sutherland in seiner Untersuchung der Wirtschaftskriminalität den Fokus auf Unternehmen als den Hauptakteuren der Wirtschaft. Seine Kriterien, Ergebnisse und Beschreibungen blieben zwar meist abstrakt; dies jedoch deshalb, weil er eine allgemein gültige Erklärung von Kriminalität – und nicht speziell von Wirtschaftskriminalität – anstrebte.[20] Gleichwohl wurde mehr als nur ein Bezug zum Unternehmen hergestellt; es stand im Mittelpunkt seiner Untersuchung.

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Er stellte heraus, dass trotz einer Vielzahl festgestellter Verstöße gegen Wettbewerbs-, Patent- oder Arbeitsgesetze eine strafgerichtliche Verurteilung nur selten erfolgte.[21] Diesen Umstand führte er in erster Linie auf gesellschaftliche Ursachen zurück und unternahm daher im Folgenden den bekannten Vergleich der Verbrechen der „white collar-Klasse“, welche nach seiner Auffassung aus „respektablen oder wenigstens respektierten Geschäftsleuten bestand“ mit denen der „unteren Klasse“, die aus Personen mit niedrigerem sozialökonomischen Status bestand.[22] Zweck dieses Vergleichs war in erster Linie aufzuzeigen, dass die üblichen Konzepte, welche Kriminalität auf soziopathische oder psychopathische Bedingungen zurückführen, die mit Armut zusammen auftreten, unstimmig sind, weil sie wesentliche Bereiche kriminellen Verhaltens von Personen, die nicht der „Unterschicht“ angehören, unberücksichtigt lassen.[23] Trotz dieses sozialkritischen und (individual)täterorientierten Ansatzes darf m. E. nicht übersehen werden, dass er zwei – für die Erklärung von Unternehmenskriminalität bedeutsame – Aspekte benannte: zum einen beobachtete er, dass die Rechtsverstöße und „ausgedehnten Betrügereien“ über den gesamten, vierzig Jahre währenden, von ihm beobachteten Zeitraum stattfanden, also Mechanismen zum Tragen kamen, die unabhängig von Personenwechseln waren. Zum zweiten platzierte er das Individuum und seine persönliche Motivation zur Straftatbegehung erstmals in Bezug zu seiner Stellung und Funktion innerhalb eines Unternehmens. Sutherland veranschaulichte diese Beobachtung, indem er A. B. Stickney, einen Eisenbahnpräsidenten, zitiert, der im Hause J. P. Morgans im Jahre 1890 zu sechzehn anderen Eisenbahnpräsidenten gesagt haben soll: „Ich habe äußersten Respekt vor Ihnen, meine Herren, als Individuen, aber als Eisenbahnpräsidenten würde ich Ihnen nicht meine Uhr anvertrauen, ohne Sie dabei aus den Augen zu lassen.“[24]

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Eingedenk dieser speziellen Erkenntnisse zur Unternehmenskriminalität soll im Folgenden auf die empirischen Erkenntnisse zur „nächsthöheren Ebene“ – der Wirtschaftskriminalität – zurückgegriffen werden, um aktuelle Befunde einbeziehen zu können. Zudem ist es plausibel, Rückschlüsse von der „Obermenge Wirtschaftskriminalität“ auf die „Teilmenge Unternehmenskriminalität“ ziehen zu können. Wie eingangs ausgeführt ist nicht aus dem Blick zu verlieren, dass bei diesem Ansatz das Problem der selektiven Beobachtung angelegt ist, weil der befragte Beobachter gleichzeitig seinen Rollenerwartungen und Interaktionsverpflichtungen innerhalb des Unternehmens ausgesetzt ist.[25]

Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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