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aa) Statistische Eckpunkte: Fallzahlen, Tatverdächtige, Schaden

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Von den 6.054.330 im Jahre 2009 bekannt gewordenen Straftaten sind gemäß PKS 101.340 Fälle, also 1,6%, in der Wirtschaftskriminalität zu verorten. Die Fallzahlen stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 19,9% (16.790 Fälle).[1] Dieser Anstieg der Wirtschaftsstraftaten ist bei genauerer Betrachtung auf den Anstieg der Betrugs- und Untreuestraftaten zurückzuführen.[2] Im Bereich des Kapitalanlagebetrugs wurde 2009 sogar eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr verzeichnet, was jedoch im Wesentlichen auf Großverfahren in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Sachsen zurückzuführen ist. Die dabei registrierten Schäden beliefen sich auf 418 Millionen Euro, was einen Anstieg von 57% gegenüber dem Vorjahr bedeutet.[3] Die Autoren der Studie nehmen diesbezüglich an, dass im Zuge der Medienberichterstattung zur Finanzkrise das Anzeigeverhalten der Geschädigten – beispielsweise durch gezielte Unterrichtung und Werbung von Verbraucherschutzorganisationen für Strafanzeigen gegen Vermittler – beeinflusst wurde und es sich daher um eine Aufhellung des Dunkelfelds und nicht um einen tatsächlichen Anstieg der Delikte handelt.[4] Diese Annahme scheint insofern plausibel als die übrigen Betrugsdelikte, beispielsweile im Bereich Kreditbetrug und Kreditvermittlungsbetrug, rückläufig sind.[5] Der starke Einfluss des Betrugs im Allgemeinen auf die Wirtschaftskriminalität ist nicht außergewöhnlich, sondern spiegelt die seit Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts festgestellte Dominanz des Betrugstatbestands innerhalb der polizeilich registrierten Fälle; im Durchschnitt 60% aller Fälle von Wirtschaftskriminalität.[6] Insgesamt ist eine rückläufige Tendenz der Betrugskriminalität im wirtschaftsstrafrechtlichen Bereich, insbesondere was „Wirtschaftskriminalität im Anlage- und Finanzierungsbereich“ und „Betrug und Untreue im Zusammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen“ betrifft, zu verzeichnen.

Bemerkenswert ist weiter ein Rückgang[7] der Wettbewerbsdelikte bei Anstieg der registrierten Schäden auf 29 Millionen Euro im Vergleich zu 6 Millionen Euro in 2008. Dies bedeutet eine erhebliche Steigerung des durchschnittlichen Schadens pro Delikt.[8] Demgegenüber weisen andere Hauptgruppen,[9] wie Produkt- und Markenpiraterie oder Subventionsbetrug, eine rückläufige Tendenz auf. Hingegen ist im Bereich des Verrats von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und sonstigen Straftaten nach dem UWG ein leichter Anstieg erkennbar.[10]

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Insolvenzstraftaten stellen den ersten, klar mit Unternehmen in Verbindung zu bringenden Bereich dar und umfassen den Deliktsbereich der §§ 283 ff. StGB sowie die Insolvenzverschleppung (§ 84 GmbHG, §§ 130, 170a HGB). Die Entwicklung dieses Bereichs der Wirtschaftskriminalität ist weitgehend abhängig von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung[11] und seit 1994 – aufgrund der erhöhten Zahl der Unternehmensinsolvenzen – in einer steigenden Entwicklung begriffen.[12] Im Vergleich zum Vorjahr sind sie 2009 mit 11.309 (2008: 11.186) nur minimal angestiegen und verursachten dabei jedoch weniger Schaden.[13] Anknüpfungspunkt der Delikte sind in der Hauptsache die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen, das Vorenthalten von Löhnen und Gehältern sowie die Hinterziehung von Steuern. Auch die „Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen“, worunter der Arbeitsvermittlungsbetrug, der Betrug zum Nachteil von Sozialversicherungen und Sozialversicherungsträgern (§ 263 StGB), das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) sowie Delikte im Zusammenhang mit illegaler Arbeitnehmerüberlassung (§§ 15, 15a AÜG, §§ 9–11 SchwarzArbG) gefasst werden, weist einen Unternehmensbezug auf. In diesem Bereich wird eine starke Dominanz des § 266a StGB festgestellt (97% aller in dieser Gruppe zusammengefassten Fälle entfielen 2005 auf das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt).[14]

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Das Bundeslagebildes Wirtschaftskriminalität gibt nur wenige Informationen zu den Tatverdächtigen, sodass letztlich kaum eine Täterstruktur ableitbar ist. Es wurden im Jahr 2009 insgesamt 35.801 Tatverdächtige erfasst, von denen 17,3% nichtdeutsche Tatverdächtige waren.[15] Der zweite PSB weist demgegenüber schon kriminologische Befunde zur Person des Wirtschaftsstraftäters auf. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass aufgrund der in Deutschland fehlenden Unternehmensstrafbarkeit als „Täter“ nur natürliche Personen in Betracht gezogen werden können. Diese seien meist gut ausgebildete Angehörige der oberen und mittleren Mittelschicht mit Berufspositionen, die entsprechende Tatgelegenheiten gäben. Die Unterschiede im Sozialprofil der Täter seien gering und manifestierten sich v. a. in der Fähigkeit zur Selbstkontrolle in Verbindung mit der Stärke des Selbstbewusstseins, den Neigungen zur Rücksichtslosigkeit und dem Bedürfnis, die Konkurrenz mit anderen Wirtschaftsteilnehmern für sich zu entscheiden.[16] Auffallend seien in der Vorgehensweise dieser Täter die Rechtfertigungsstrategien für die begangenen Taten, die sie meist als im betrieblichen Interesse liegend deuten; desweiteren die daraus resultierende fehlende Unrechtseinsicht.

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Der registrierte Gesamtschaden aller mit Schadenssummen erfassten Delikte betrug im Jahr 2009 rund 7,2 Milliarden Euro. Allein 3,43 Milliarden Euro, also fast 50% der Gesamtschadenssumme, waren der Wirtschaftskriminalität zuzuordnen.[17] Die Gesamtschadenshöhe ist etwas geringer als in den Jahren 2005 bis 2007 und gegenüber dem Jahr 2008 stabil.[18] Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Schadenssumme trotz eines Absinkens der Gesamtfallzahlen entstanden ist. Weiter werden beispielhaft immateriellen Schäden durch das Bundeslagebild festgestellt, wie Wettbewerbsverzerrungen, Wettbewerbsvorsprünge, gesundheitliche Gefährdungen und Schädigungen Einzelner als Folge von Verstößen gegen das Lebens- und Arzneimittelgesetz, gegen das Arbeitsschutzrecht, das Umweltstrafrecht und gegen Markenrechte, Reputationsverluste und Vertrauensverluste in die Funktionsfähigkeit der bestehenden Wirtschaftsordnung. [19]

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Diesen Eindruck bestätigt auch der zweite PSB, der die immateriellen Schäden, im Vergleich zu den materiellen Schäden, als gravierender eingeschätzt. Eine „Ansteckungs- und Sogwirkung“ wird befürchtet, die von Wettbewerbsdelikten dazu führen könnte, dass Wettbewerbsvorsprünge unlauterer Konkurrenten nur mit ähnlichen wettbewerbsverzerrenden Handlungen aufzuholen seien oder zumindest ein entsprechender Eindruck bei den Marktteilnehmer entsteht. Auch wird auf die Möglichkeit so genannter „Begleitkriminalität“ hingewiesen, also solcher Handlungen von Dritten, die Wirtschaftsstraftaten ermöglichen oder unterstützen, wie z. B. Urkundenfälschungen. Diese speziellen Arten von „Kettenreaktionen“ und auch ihre allgemeine Ausprägung wie beispielsweise, dass auch die Geschäftspartner – infolge finanzieller Abhängigkeiten – mitgerissen werden, die an den kriminellen Handlungen keinen unmittelbaren Anteil hatten, sind die immateriellen Schäden, die deutlich erkennbar gelten. Der empirische Nachweis hierüber steht jedoch aus. Insbesondere die allgemein befürchtete Folge, mit der Wirtschaftskriminalität schwinde bei Beteiligten und Verbrauchern das „Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der geltenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ und in die Redlichkeit einzelner Berufs- und Handelszweige, ist eine kaum bezifferbare Folge.[20]

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