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Borchardt fährt ein fremdes Auto. Er befindet sich auf einer leeren Autobahn. Sie ist dreispurig und eine deutsche Autobahn. Er fährt auf der linken Spur. Hin und wieder kommen ihm blaue Autobahnschilder entgegen; sie sind leer, ohne Aufschriften. Er fühlt sich entspannt, gelassen und schaut auf den digitalen Tacho - genau 156 km/h. Dann schaut er aus den Fenstern, erst nach links - Wüstenlandschaft, dann nach rechts - Schneelandschaft. Er schaut wieder auf den Tacho - genau 189 km/h. Dann schaut er nach vorne - alles ist plötzlich pechschwarz! Er sieht gar nichts mehr! Er tritt auf die Bremse und schaut auf den Tacho - genau 333 km/h! Er schaut nach rechts. Eine entstellte Fratze starrt ihn an. Das Gesicht ist seitenverkehrt; die Augen sind unter und der Mund über der Nase. Er schreit, guckt genauer hin und erkennt Nadine. Ihre Augen bluten, in ihrem Mund sind keine Zähne. Sie schreit: „Du brauchst das Navi!“ Borchardt schreit nochmal - vor Panik. Dann blickt er auf ein Navigationssystem an der Frontscheibe, das zuvor nicht da gewesen ist. Das Display blinkt: „Bring mich zum Doktor.“ Cut. Borchardt steckt mit seinem Kopf in einer Lünette einer Guillotine. Er hört eine Menschenmenge schreien: „Töte Nadine!“ Er sieht die Beine des Henkers. Dieser sagt: „Du hörst, was sie sagen.“ Cut. Borchardt sieht seinen Kopf auf einem Holzuntergrund in einen geflochtenen Korb rollen. Im Korb angekommen sagt sein Kopf: „Bring mich zum Doktor.“ Der Untergrund wackelt und vibriert, vibriert, vibriert…

…und es dauerte, bis er begriff, dass er geschlafen und geträumt hatte und dass sein Handy vibrierte und klingelte. Erschrocken schaute er auf seine Uhr. Dreieinhalb Stunden später!

Er griff nach einem zerknitterten Zettel und einem Stift in seiner Sakkoinnentasche. „Tomas“, begann er das Gespräch, „einen Moment.“ Er kritzelte zitternd mehrere Stichpunkte auf den Zettel. „So, da bin ich.“

„Mensch, wo bist du denn? Ich versuche, dich seit einer halben Stunde zu erreichen.“

„Entschuldige, ich bin tatsächlich eingeschlafen.“

„Eingeschlafen? Hör zu. Die Obduktion ist noch im vollen Gange und eine fremdverschuldete Tötung kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Deine Vermutung scheint durchaus realistisch. Überall am Körper befinden sich mikroskopisch kleine Holzsplitter und Metallrückstände. Möglicherweise sind ihr die Schnitte durch eine Machete oder mit einem Haumesser zugefügt worden. Totschläger und Baseballschläger könnten auch beteiligt gewesen sein.“

Während Tomas weitersprach, entdeckte Borchardt in der vor ihm vorbeilaufenden und zum großen Teil aus Touristen bestehenden Menschenmenge eine Person und konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden.

„Tomas?“

„Ja?“

„Gerade lief eine männliche Person an mir vorbei, die ich vorhin unter den Schaulustigen gesehen hatte.“

„Und?“

„Jetzt löst sie Unbehagen in mir aus“, flüsterte er.

„Ah ja, äh, mach jetzt bloß keine Alleingänge. Hast du gehört?“

„Ja.“

„Sei bitte vorsichtig“, fuhr Tomas fort, „sobald ich weitere Indizien habe, rufe ich wieder an. Ansonsten heute Abend im Hofbräuhaus.“

„Warum ist mir der Typ nicht vorhin schon aufgefallen?“ Diese Frage musste sich Borchardt unbedingt gefallen lassen, denn der Typ war auffällig. Einer von diesen mit Anabolika aufgeblasenen Extrem-Bodybuildern, die sich in der Berliner Rocker- und Zuhälterszene aufhalten. Groß, Glatze, Bundeswehrhose, verspanntes leicht rötliches Gesicht, einfach nur angsteinflößend.

Der Typ verharrte auf dem Spree-Weg Richtung Friedrichstraße. Ein Segen war dieser Teil Berlins vollgestopft mit Touristen, sodass Borchardt zumindest bis auf Weiteres ein unauffälliger Verfolger sein konnte, ohne Tomas gegenüber ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Sein Schritttempo verriet, dass der Typ ein ganz bestimmtes Ziel anstrebte. Auf jeden Fall machte er keinen Spaziergang.

Wenn man einen Menschen fixiert beziehungsweise lange genug beobachtet oder sich generell mit ihm auseinandersetzt, dann gelangt man an einen Punkt, an dem sich ein Rapport mit dessen Gedanken- und Gefühlswelt aufbaut. Man taucht sozusagen in seine mentale und emotionale Atmosphäre ein. Ein wichtiges Prinzip, das Borchardt nur zu gut aus der Therapie kannte und dessen Tragweite er bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen anwandte. Dieser Bodybuilder löste in Borchardt dasselbe Gefühl aus, welches er am Morgen bei der Tatortbesichtigung hatte! War er tatsächlich schon auf einer heißen Fährte? So schnell?

Immer wieder unterbrach Borchardt den Blickkontakt, um ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wie oft war es ihm schon passiert, dass er eine klare körperliche Wahrnehmung spürte, eine Wahrnehmung, die man mit einem zarten Druck an einer bestimmten Körperstelle, zumeist ist es der Rücken, beschreiben kann, die ihn veranlasste, sich unbewusst umzudrehen, um dann festzustellen, dass ihn jemand beobachtet oder einfach nur angeschaut hatte. Und Borchardt wusste, dass das uneingeschränkt auf alle Menschen zutraf und dass, je länger man eine Person anschaut, der als physischer Druck empfundene Impuls, sich umzudrehen, stärker wird.

Versteinert und mechanisch lief der Typ weiter den Spreeweg entlang. Keinen Blick nach links, keinen nach rechts. Er schien auch keinen Schimmer davon zu haben, verfolgt zu werden. An der Friedrichstraße bog er links Richtung Bahnhof Friedrichstraße ab. Ganze Menschenmassen kamen entgegen. Regelmäßig tauchte er in ihnen unter, sodass Borchardt sein Schritttempo und seine Laufrichtung immer wieder aufs Neue anpassen musste. Mehrere Touristenbusse parkten an der Straße.

Borchardt fragte sich, wie die Stadt wohl aussehen würde, würde man ihr auf einen Schlag alle Touristen wegnehmen? So sehr er die City Ost auch liebte, so sehr konnten ihn die Menschenmassen auch aufwühlen. Seine Gedanken wanderten zu seiner Casa in Puerto de Mogán. Wie ruhig und besonnen dieser idyllische Hafenort im Südwesten Gran Canarias doch war. Auch wenn das einstige Fischerdorf bereits vom Tourismus erschlossen worden ist, so war es dennoch eine erholsame Oase für ihn. Sein Häuschen lag am westlich gelegenen Berghang der Bucht, und von seinem Arbeitszimmer aus hatte er einen traumhaften Blick auf das endlose Meer.

Der Typ erhöhte plötzlich sein Tempo und riss Borchardt aus seinem Tagtraum. Dann verschwand er rechts im Treppenaufgang zum Bahnhofsinnengelände.

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