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An einem darauffolgenden Samstagmorgen erhielt Borchardt aus heiterem Himmel eine SMS von Tomas. „Komm zu den Heckmann-Höfen. Eingang Auguststraße. Es ist soweit, ich brauche dich!!!“

Der Ton der SMS deutete an, dass Tomas etwas Heftigem gegenüberstand. Borchardt war in der Lage, die Stimmungen geschriebener Worte genauso zu erfühlen wie die seelische Verfassung eines Redners. Und als er ein wenig später an den Heckmann-Höfen in Mitte ankam, bestätigte sich seine Gewissheit. Das gesamte Gebiet war weiträumig abgesperrt. Überall Polizisten, Kriminaltechniker und Mitarbeiter der Spurensicherung - ein Großteil in Ganzkörperschutzanzügen - und nicht zu vergessen die Schaulustigen.

Die Größe der Absperrung wies auf ein außergewöhnliches Verbrechen hin. Auch wenn die Quantität der Tötungsdelikte in Berlin zurückgegangen sein soll, so war die Brutalität zweifellos angestiegen. Die Morde, mit denen Borchardt während der laufenden Ermittlung im Fall Schlitzer zu tun hatte, waren verabscheuungswürdig und der Presse weitestgehend vorenthalten worden.

Borchardts Armbanduhr schlug genau 7:29 Uhr. An diesem bereits schwülen Morgen, der versicherte, erneut ein heißer Tag zu werden, bewies die Hauptstadt einmal mehr, dass sie zu einem Albtraum werden kann, zu einem fürchterlichen Albtraum. Und der zu dieser Geschichte gehörende Angsttraum begann genau in jenem Moment, als Borchardt Tomas‘ SMS zu Ende gelesen hatte. Auf Anhieb spürte er, dass Tomas erschüttert, erschrocken, ja zutiefst geschockt sein musste. So schnell ließ er sich doch nicht aus der Ruhe bringen. Dafür hatte er im Laufe seiner erfolgreichen Karriere im gehobenen Polizeivollzugsdienst zu vielen Toten in die Augen geschaut und sich bis über die Stadtgrenzen hinaus einen ihm verhassten Spitznamen zugelegt. „Der Täterschreck“ wurde er in Fachkreisen genannt. Er löste nämlich Fälle, die mittlerweile als Fallbeispiele in Lehrbüchern auftauchten. Er konnte sich derart in einen Fall verbeißen, dass ihn nichts und niemand aufhalten konnten, den Fall zu lösen.

Tomas stand vor dem Eingang Auguststraße. Er spürte Borchardts Anwesenheit und drehte sich zu ihm um, als im selben Moment eine Polizeibeamtin aus den Höfen auftauchte, um sich unmittelbar Vorort zu übergeben. Sie kotzte direkt auf den Bürgersteig der feinen Auguststraße und, wie Borchardt fand, eine ungeheuer große Menge zu dieser Tageszeit. Tomas ließ das alles kalt und kam eiligen Schrittes auf Borchardt zu und ließ ihn durch die Absperrung. „Schön, dass du es so schnell geschafft hast, Martin.“

„Kein Thema.“

„Schau dir das unbedingt an. Unfassbar. Sie liegt im großen Hof.“ Er holte tief Luft, drehte sich kurz um, hustete, als hätte er literweise Schleim in seinen Lungen, drehte sich wieder zu Borchardt um, wischte mit seinem Ärmel über seinen Mund, holte aus seiner Jackentasche einen Anhänger und sagte: „Geh vorher zu dem Mannschaftswagen dort drüben und zieh dir einen Schutzanzug an. Die wissen Bescheid. Und dann mach dich auf und lass mich alles wissen, was du denkst.“

Borchardt liebte diesen Anhänger. Mit dem dazugehörigen Ausweis hatte er einen barrierefreien Zutritt zu jedem Leichenfundort und Tatort Berlins, ohne dass die anwesenden Beamten auch nur das geringste Misstrauen schöpften. Er wurde eigens vom Polizeipräsidenten Berlins nach der Festnahme des Schlitzers genehmigt, damit er, ja genau Borchardt, jemand, der kein Polizeibeamter war, auf jeden x-beliebigen Tatort Zugriff hatte. Einzige Bedingung war: er musste ihm grundsätzlich von Tomas persönlich übergeben und sofort nach der Tatortbesichtigung wieder an ihn abgegeben werden.

Wer hätte das in der Vergangenheit gedacht? Tomas und Borchardt kannten sich ja bereits seit ihrer frühen Kindheit. Sie waren Nachbarn und bis zum Abitur besuchten sie dieselbe Schule. Sie waren, sind und blieben beste Freunde. Sie hatten sogar zur selben Zeit in derselben Stadt studiert. Trotz alledem traute sich Borchardt nicht, brennende Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie es Tomas ging, immerhin hatten sich die beiden seit Wochen nicht gesehen.

Er machte sich also direkt auf den Weg zum Mannschaftswagen, während er erneut Tomas hinter sich husten hörte. Seit eh und je hatte Tomas Probleme mit seinen Lungen, keine ernsthaften, aber immer wieder in regelmäßigen Abständen dieses komische schleimige Husten.

Die Beamtin, die sich zuvor in aller Öffentlichkeit entleert hatte, war derweil dabei, die Beweise des Vorabends zu beseitigen, zumindest das, was man provisorisch zu jener Tageszeit unter jenen Umständen rückgängig machen konnte. Sie war blass und wirkte verwirrt. Borchardt hätte sie gerne angesprochen, erfühlte aber ihren Widerstand. Jede einzelne Person, die ihm entgegenkam, wirkte verstört, in sich zurückgezogen und zugleich aufgebracht.

Borchardt durchschritt den langen Durchgang, den Teil der Höfe, welcher mit privaten Wohnungen versehen ist, um dann endlich in den großen Innenhof zu gelangen. Die Heckmann-Höfe sind neben den legendären Hackeschen Höfen eine weitere Sehenswürdigkeit in Mitte. Eine bunte Mischung aus Kleingewerbe, Design, Kultur und Gastronomie geben den originalgetreu und liebevoll restaurierten Höfen mitten im alten Scheunenviertel einen unverwechselbaren Charme. Und genau in diesem Urlaubsgefühle weckenden Charme lag die Leiche, die Borchardt so schnell nicht wieder vergessen sollte. Schon von Weitem konnte er erahnen, dass der auf ihn zukommende Anblick seinen Tag auf einen Schlag verändern wird. Und je näher er der Leiche kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre um ihn herum. Die ermittelnden Beamten flüsterten teilweise.

Noch gute zehn Meter. Sie lag direkt auf dem gepflasterten Gehweg in einer Blutlache und unmittelbar vor dem ansässigen Gewerbe. Überall Blut - an den Fensterscheiben, dem Mauerwerk, auf dem Weg und dazwischen irgendeine weiße, schleimige Masse. Die sterbliche Hülle - sie war komplett nackt - gehörte offensichtlich zu einer jungen Frau.

Noch fünf Meter. Von einer Leiche konnte man nicht mehr reden, eher von einem Kadaver. Der Kopf schien zweifach gespalten, er war aufgeplatzt wie ein auf den Boden gefallenes rohes Ei. Der Körper besaß mehrere auffällig große Schnittwunden. Es dauerte eine Weile, bis Borchardt begriff, dass ihr Kopf oder zumindest das, was von ihm übriggeblieben war, um hundertachtzig Grad gedreht war. Sie lag auf dem Bauch und ihr Gesicht in Richtung Himmel. Das linke Auge schien sich am blutüberströmten Schädel abzuseilen. Das linke Bein und beide Arme waren mehrfach gebrochen und irgendwie verdreht, so als hätte man sie gerädert. Dieser Körper, der so da lag, als hätte er nichts Besseres zu tun, war vollkommen entstellt. Was ist hier nur passiert, war sein erster Gedanke.

Ein Mann und eine Frau hockten neben der Leiche und begutachteten sie. Borchardt kannte die beiden. Sie waren Forensiker und hießen Natalie und Markus, ein freundliches und lustiges Ehepaar, das Borchardt während der laufenden Ermittlungen „Schlitzer“ kennengelernt hatte. Offensichtlich war Natalie die diensthabende Gerichtsmedizinerin. Die Präsenz von Markus verunsicherte Borchardt allerdings, da er in der Regel als forensischer Biologe und Biomechaniker keine Leichenschau am Fundort durchführte. Als beide ihn bemerkten, bekamen sie außer einem Augenzwinkern kein Wort heraus und machten den Ort für ihn frei.

Da stand er nun. Sein Herz schlug nicht schnell jedoch eifrig gegen seinen Kehlkopf. Er musste seinen Körper beherrschen und sich darauf besinnen, warum er hier war. Tomas brauchte seine Hilfe, seine Fähigkeit. Borchardt schloss die Augen. Seine inneren Bilder waren wirr und sein Herz klopfte jetzt an seine Augäpfel wie ein Wahnsinniger an die Wohnungstür seines Opfers. Ein leichtes Bibbern breitete sich in seinem Organismus aus. Er zitterte, weil er Angst hatte. Angst vor der Erkenntnis, zu was Menschen fähig sind. Für eine kurze Weile wurde er sogar wütend auf Tomas. Er hätte ihm doch etwas sagen können. Ach quatsch, Tomas war doch genauso geschockt wie alle anderen auch.

Dann öffnete er langsam seine Augen und ging weiter. Schon während er den ersten Schritt machte, wurde ihm bewusst, dass seine Entscheidung, näher an den Leichnam heranzugehen, nicht von seinem Verstand sondern von seiner Intuition gesteuert wurde. Er hatte unbewusst sein Navi eingeschaltet, und es dauerte keine drei Schritte, bis er auf die feinstoffliche Facette einer Person stieß. Eine Facette, deren Stimmung ihn mit unbändiger Kraft fast erschlug. Aggressivität, Hass, Wut und kalte sadistische Gefühle waren anwesend. Emotionen, die Borchardt körperlich angriffen. Deutlich vernahm er eine Gegenwart, deren reale Anwesenheit er nie und nimmer hätte erleben wollen. Sie umkreiste ihn, während er weiter voranschritt, um sich kurz vor dem Leichnam genauso schlagartig wieder ins Nichts aufzulösen.

Borchardt befiel ein Würgereiz, der ihn an die Polizeibeamtin denken ließ und wusste im selben Moment, dass ihm das Gesehene bereits ausreichte. Er musste dort weg, zurück zu Tomas. Er wollte seine Erfahrung mit ihm teilen.

Tomas unterhielt sich mit einer aufgebrachten Frau mittleren Alters und winkte Borchardt gleich zu sich heran.

„Und?“

„Schrecklich. Wo können wir in Ruhe reden?“

„In den Schwarzwaldstuben. Geh du schon mal vor, ich bin gleich bei dir.“

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