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Prolog

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Erhaben betrachteten sich die mit Schnee behangenen Berggipfel in den Wellenbewegungen des kristallenen Seewassers, das den goldgelben Strahlen der aufstrebenden Morgensonne erlaubte, sich in ihnen zu verzaubern und abertausende glitzernde Tänzer zu gebären, deren Rhythmus Nadine Borchardt an jenem Frühlingsmorgen tief im Herzen berührte.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin“, flüsterte sie und verlor sich in seinen Augen. „Die Zeit war überreif. Nur du und ich. Wie früher. Weit weg von allem. Jeden Tag danke ich Gott dafür, dass du an meiner Seite bist.“

Martin Borchardt berührte ihre Hand und erwiderte ihren Blick mit der gleichen Intensität und Wärme.

„Es war auch gar nicht so schwer ohne Samira, oder?“

„Ja, ich hatte es mir schwerer vorgestellt.“

„Aber, je mehr ich sie vermisse, umso tiefer begreife ich immer wieder, welch wunderbare Tochter wir haben“, freute sie sich.

„Ja, sie ist der Beweis für unser Glück.“

„Und du bist der Mann, der mir diese hübsche und intelligente Tochter geschenkt hat. Ich danke dir. Für alles.“

„Nichts entsteht aus sich selbst heraus“, zwinkerte er ihr zu. „Deshalb, meine Liebe, ganz meinerseits.“

„Ich kann es kaum fassen, dass sie nächstes Jahr schon 18 wird. Dann ist sie eine erwachsene Frau.“

„Ja, so ist es. Nichts im Leben ist von Dauer, mein Engel“.

„Doch! Unsere Liebe“, stellte sie richtig, während sie sich zart von seinen Augen löste und einen letzten Blick auf den Tegernsee warf. Die Bewegung der funkelnden Wellentänzer hatte sich verändert. Die Sonne übernahm nun die Regie. Sie saßen auf der stilvollen Restaurant-Terrasse des eleganten Seehotels Überfahrt an der Südspitze des Sees. Beide hatten sich eine luxuriöse Auszeit gewünscht - in Ruhe und Abgeschiedenheit.

„Ich liebe diesen klaren See und diese faszinierenden Alpen. Man fühlt sich so beschützt. Als ob die Hektik des Alltags an ihnen abprallt. Ich habe das Gefühl, die Zeit steht still.“

„Warum bleibst du nicht doch noch bis morgen? Dann hätten wir noch eine gemeinsame Nacht“, brannte es auf seinen Lippen.

„Martin, ich möchte einfach morgen früh zu Hause sein und mich in Ruhe auf den Abend vorbereiten.“

„Das verstehe ich ja.“

„Was ist los, Martin?“

„Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl.“

„Weil du von mir nicht genug bekommen kannst“, lächelte sie, als sie entschlossen aufstand. „Und außerdem könntest du ja mit mir fahren, aber nein, du musst ja noch unbedingt Theodor einen Besuch abstatten.“

„Schau mal“, lächelte er verkrampft, „wenn du morgen früh gegen 7:00 Uhr losfährst, dann bist du mit Sicherheit um 13:00 Uhr in Berlin, und…“

„…und ich muss jetzt los“, beharrte sie.

Auf dem Parkplatz umarmten sie sich lange und innig. Borchardts Bedürfnis, sie nicht wieder loszulassen, stieg ins Unermessliche. Er versank in ihrem blumenhaft seidigen Körper und drückte ihn entschlossen an seinen. Wie gerne hätte er sie jetzt überredet zu bleiben. Er atmete tief ein und aus und stellte sich vor, ihr mit jedem Ausatmen Kraft und Energie für die bevorstehende Fahrt zu geben. Wie vertraut sie ihm war. Ihre Wärme, ihre Energie und ihr Duft betörten ihn. Ihre Herzen schlugen synchron.

Du wirst eine gute Fahrt haben, wünschte er ihr in Gedanken, und trotz des steigenden inneren Widerstandes, sie loszulassen, redete er sich ein, dass dieser Moment genauso war, wie er sein sollte.

„Mach es mir bitte nicht so schwer“, flüsterte sie anschmiegsam wie eine Katze.

Ich mache es dir nicht schwer, dachte er und drückte sie fester an sich.

„Es war eine so herrliche Zeit mit dir“, schwärmte sie erneut und kniff in seine Taille.

„Melde dich zwischendurch, hast du gehört?“

Sie waren gemeinsam mit einem Auto angereist, und da Borchardt mit dem Zug über Darmstadt zurück nach Berlin fahren würde, hatten sie vereinbart, dass Nadine alleine zurückfahren sollte und Borchardt noch für zwei weitere Tage im Hotel bliebe.

Sie startete den Motor, ließ die Fensterscheibe runter und gab ihm einen letzten Kuss. „Ja, ich melde mich zwischendurch“, versprach sie und rollte langsam los.

Nadine hatte München bereits mehrere Kilometer hinter sich gelassen und befand sich auf der A9 kurz vor Ingolstadt. Es war genau halb elf und die Autobahn rappelvoll. Dennoch war der Verkehr fließend. Auf der linken Spur durchschnittliche 120 km/h. Die rechte Spur gehörte den LKWs und Sattelschleppern, die eine unendliche Reihe bildeten. Dazwischen ruhten vereinzelt kleinere PKWs mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 km/h.

„Vielleicht hätte ich doch besser auf Martin hören sollen“, befürchtete Nadine, die ein generelles Misstrauen gegenüber LKWs hegte. Was ist, wenn ein Fahrer übermüdet ist oder einfach nur die Kontrolle verliert? Es fiel ihr schwer, wie Borchardt mit unverminderter Geschwindigkeit ununterbrochen auf Überholspur zu bleiben. Sie wurde zunehmend unruhiger. So unruhig, dass die PKWs auf der rechten Seite sie dann doch motivierten, eine ausreichende Lücke abzuwarten und es für ein paar Kilometer ruhiger angehen zu lassen.

Mit Lichthupe signalisierte sie einem kleineren Sattelschlepper, der gerade den Blinker nach links gesetzt hatte, freie Fahrt und erkannte im Rückspielgel einen dunklen Porsche 911, der mit enormer Geschwindigkeit auf sie zuraste; ebenfalls mit Lichthupe und bedrohlich nah auffahrend. Der Fahrer gestikulierte wild und schimpfte.

Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf der linken Spur wurde stark gedrosselt. Hinter Nadine reihten sich blitzschnell Wagen an Wagen. Die Schlange wurde immer länger, der Sattelschlepper mit Anhänger neben ihr endlos ausgedehnt, ebenso ihre Nerven.

Der Porschefahrer brüllte wie ein Choleriker, und Nadine hatte das Gefühl, ihn hören zu können. Der zum Überholen ansetzende Sattelschlepper hatte indes mit seiner Fahrerkabine den Mittelstreifen überwunden. Nadine konnte die Aufregung hinter ihr verstehen, aber was sollte sie jetzt noch machen? Es war bereits zu spät.

Sie verstellte den Rückspiegel, sodass sie den Porschefahrer nicht mehr sehen musste und setzte gleichzeitig den Blinker nach rechts. Der schier endlose Sattelschlepper mit Anhänger neben ihr bremste ab. Offensichtlich amüsierte sich der Fahrer und hieß Nadines Entgegenkommen seinem Kollegen gegenüber willkommen. Dessen Wagen war derweil zur Hälfte auf der linken Spur angekommen, und Nadine konnte vor ihm einen weiteren offenen Sattelschlepper mit ausländischem Kennzeichen sehen, der dutzende meterlange Stahlrohre transportierte.

Endlich war der kleine Sattelschlepper zu dreiviertel auf der linken Spur und der große mit Anhänger weit genug hinter ihr, sodass sie auf die rechte Spur wechseln konnte. Der Porsche überholte hupend und der Fahrer brüllte sie mit ausgestrecktem Mittelfinger weiter an. Nadine versuchte, ihn zu ignorieren und griff nach einem Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Das Handy klingelte.

„Ja, hi.“

„Ich wollte mich nur erkundigen, ob alles okay ist bei dir“, tönte Borchardts Stimme aus der Freisprechanlage.

„Ja, es geht. Die Autobahn ist sehr voll. Kannst du mich bitte in ein paar Minuten noch einmal anrufen?“

„Ja klar, mach ich.“

Sie unterbrach die Verbindung und war kurz davor, in Tränen auszubrechen, als ihr der LKW hinter ihr einfiel. Sie positionierte den Rückspiegel zurück in die Ausgangsposition, konnte ihn sehen und schaltete kurz die Warnblinker ein, um sich für seine Aufmerksamkeit zu bedanken.

Unterdessen verfluchte der Porschefahrer den kleinen Sattelschlepper und die nachfolgenden Autofahrer wirkten ebenfalls genervt. Nur eine Fahrerin, die jetzt auf Nadines Höhe war - eine elegant gekleidete Dame im vorgeschrittenen Alter -, schaute sie verständnisvoll an und zwinkerte ihr zu. Endlich konnte Nadine lächeln und durchatmen. Und als sie ihren Blick wieder der netten Dame zuwandte, die kurz hinter der Spiegelung ihres Beifahrerfensters verschwunden war, gestikulierte diese hektisch. Die Spiegelung löste sich auf, und das freundliche Gesicht der Dame war zu einer panikerfüllten Fratze transformiert. Nadine folgte ihrem Blick und sah den mit Stahlrohren beladenen LKW aus der Spur kommen. Er schlängelte nach links und nach rechts, um dann mit voller Wucht zurück nach links auf den Porsche zu krachen, der chancenlos gegen die Leitplanke knallte. Seine Hinterreifen hoben ab.

Nadine schrie auf. Sie befand sich in Reaktionszeit und schaute instinktiv nach links, wo die freundliche alte Dame ungebremst in den Wagen vor ihr schmetterte und mit dem Kopf auf das Lenkrad knallte. Nadine schaute nach vorne. Der LKW schlug nach rechts aus, die Ladefläche geriet außer Kontrolle und begann, unaufhörlich hin und her zu schaukeln, sodass sich einige Stahlrohre aus ihrer Halterung lösten.

Nadine, am Ende ihrer Reaktionszeit angekommen, bremste, während der freundliche LKW Fahrer hinter ihr damit beschäftigt war, eine auf den Boden gefallene CD aufzuheben. Als er sie endlich hatte und die Katastrophe, in der er sich befand, erkannte, war es bereits zu spät. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit raste er in Nadines Auto, bescherte ihr ein leichtes Schädelhirntrauma und schob sie unaufhaltsam nach vorne.

Nadine konnte nur noch mit ansehen, wie sich eines der Rohre vollständig löste und mit der nächsten ruckartigen Bewegung in ihre Richtung katapultiert wurde, während der LKW sie weiter nach vorne presste. Sie hatte keine Chance. Das Stahlrohr mit etwa 5 cm Durchmesser durchschmetterte die Windschutzscheibe und bohrte sich durch ihren Kopf wie ein Pfeil durch einen Apfel. Währenddessen klingelte erneut ihr Handy. Es war Borchardt.

Sechseinhalb Jahre später

Traumgleiter

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