Читать книгу Traumgleiter - Christian Fülling - Страница 19

14

Оглавление

Borchardt hatte es sich in seinem Wohnzimmer auf seiner schwarzen Rolf Benz Ledercouch gemütlich gemacht, und vor ihm auf dem höhenverstellbaren Wohnzimmertisch aus Mahagoniholz lag der zerknitterte Zettel, auf dem er die Stichpunkte des Traumes notiert hatte.

Mit Samiras Einverständnis hatte er damals nach Nadines Tod deren Haus in Dahlem verkauft und ist in diese Eigentumswohnung in Mitte gezogen - keine zehn Gehminuten von seiner Praxis entfernt. Für Samira erwarb er eine Eigentumswohnung am Prenzlauer Berg.

Rechts neben dem Zettel stand ein 1988er Chateau La Tour Carnet. Auch wenn Borchardt hin und wieder gerne ein Bier trank, so war das Rotweintrinken seine Leidenschaft, die er ausschließlich auf edelste Tropfen beschränkte. Dieser hier kam aus der Region Médoc, eine der besten Rotweingebiete weltweit. Er schenkte sich ein und ließ das Glas absichtlich für mehrere Minuten auf dem Tisch stehen.

Wie gerne hätte er die bevorstehende Traumdeutung zusammen mit Theodor gemacht. Eine weitere Person mit einzubeziehen, ist immer von Vorteil. Darüber hinaus bewegte sich Theodor in Traumforscherkreisen und hatte Zugang zu den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Leider befand er sich aktuell auf einem internationalen Psychiatrie-Kongress in New York.

Mithilfe seiner Notizen hatte Borchardt den Traum vor seinem inneren Auge wieder zum Leben erweckt und alle ihm wichtig erscheinenden Punkte chronologisch auf einem DIN A4 Blatt notiert. Die Arbeit mit Träumen ist ein umfangreiches Gebiet, das seit Jahrtausenden in allen Kulturen der Welt praktiziert wird. Es gibt dutzende Herangehensweisen. Borchardt nahm die Symbolik grundsätzlich ernst, stellte jedoch die emotionale Resonanz und das freie Assoziieren des Träumers in den Vordergrund seiner Herangehensweise. Im Laufe der Jahre hatte er herausgefunden, dass sich das Unterbewusstsein dem Umfeld des Träumers anpasst. Wenn sich beispielsweise jemand auf die Zahlensymbolik spezialisiert hat, liefert das Unbewusste in der Regel Träume, in denen die Zahlensymbolik eine entscheidende Rolle spielt. Ebenso wäre es aus seiner Sicht zu einfach zu behaupten, dass, nur weil eine Spinne im Traum vorkommt, die Spinne grundsätzlich die Mutter des Träumenden repräsentiere, die versuche, ein Netz der Kontrolle und Manipulation um ihr Kind zu spinnen.

Borchardt betrachtete den edlen Tropfen, nahm das Glas, kreiste es zaghaft, nippte einen Schluck und ließ ihn für mehrere Sekunden von Gaumen und Zunge aufnehmen, nippte einen weiteren Schluck, schloss seine Augen und schluckte alles hinunter. Der Wein hatte einen langen Abgang. Die Investition hatte sich gelohnt.

Dann nahm er das Blatt, auf dem er Folgendes notiert hatte:

-Ich fahre ein fremdes Auto

-Dreispurige leere Autobahn

-Linke Spur

-Leere Autobahnschilder

-Ich fühle mich entspannt

-156 km/h

-Wüstenlandschaft links

-Schneelandschaft rechts

-189 km/h

-Alles schwarz

-333 km/h

-Seitenverkehrtes entstelltes Gesicht Nadines

-„Du brauchst das Navi“

-Ich habe Panik

-Navigationssystem, vorher nicht da gewesen

-„Bring mich zum Doktor“

-Guillotine

-„Töte Nadine“

-Mein Kopf spricht im Korb

Die Traumstruktur war klassisch - ein Dreiakter. Und weil er sich nicht auf Zahlen spezialisiert hatte, stachen diese hervor. Selbstverständlich wirkte der Inhalt irreal. Aber das ist normal. Träume verdichten alles; sie stellen einen komplexen Zusammenhang komprimiert dar.

Borchardt nahm seinen Stift und schrieb:

Fremdes Auto“: Steht für eine unbekannte oder neue Situation oder einfach nur für ein Fortbewegungsmittel

Autobahn“: Man will irgendwo SCHNELL hinkommen

Leer“: Es geht nur um einen selbst

Dreispurig“: Man bestimmt selbst, wie schnell man sich fortbewegen will

Linke Spur“: „Links“ steht unter anderem für „Gefühle“ oder „Weiblichkeit“. Oder nichtsymbolisch für: „Überholspur“ oder „zu schnell“

Leere Autobahnschilder“: Man weiß nicht, wohin die Reise geht oder „Verwirrtheit“ und „Unsicherheit“

Entspannt“: Man fühlt sich sicher; Unachtsamkeit

156“: Quersumme = 12

Wüstenlandschaft“: Trockenheit, Dürre, Langeweile, Ausgebrannt

Schneelandschaft“: Schnee ist gefrorenes Wasser; Wasser steht häufig für „Emotionen“ oder „Gefühlswelt“ = eiskalte Gefühle

Rechts“: Steht häufig für „Rationalität, Verstand, Ego oder das Männliche“

189“: Quersumme = 18

Alles schwarz“: Schwarz steht unter anderem für Unterbewusstsein, Weiblicher Anteil im Menschen oder einfach nur Orientierungslosigkeit

333“: Quersumme = 9; in der Zahlensymbolik ist die 3 eine wichtige Zahl: „Dreifaltigkeit“ = Einheit; oder „Körper, Geist, Seele“; oder „Auferstehung“ (Jesus ist am dritten Tag auferstanden)

Seitenverkehrt“: Die Dinge stehen auf dem Kopf

Entstellt“: Außerhalb der Ordnung oder des Normalen

Nadine“: Starke Emotionen

Navi“: Mein Navi, Intuition

Panik“: Kontrollverlust

Navigationssystem, vorher nicht da gewesen“: Man war zu verträumt oder blauäugig

Doktor“: Eine bestimmte Person oder Arzt

Guillotine“: Etwas unwiderruflich Trennendes

Töte“: Vergessen, abschließen, loslassen

Sprechender Kopf“: Überanalysieren; nicht auf die innere Stimme hören

Während er alles niederschrieb, offenbarte sich ein Grundthema. Die ersten zwei Quersummen könnten für den Hochzeitstag mit Nadine stehen: 18. Dezember. Das hieße, der Hinweis des Traumes ist besonders wichtig. Sein Unterbewusstsein hätte sich für jemand anderen entscheiden können. Es entschied sich aber für Nadine. Jahre hatte er nicht von ihr geträumt, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, und jetzt tauchte sie in so einem Kontext auf.

Er schlürfte einen weiteren Schluck.

Die „9“ musste ebenfalls eine wichtige Bedeutung haben. Aber da war kein Impuls in ihm, keine Idee, nichts. Oder ginge es nur um die „3“ an sich?

Er betrachtete die Liste solange, bis sich für ihn ein stimmiges Bild erschloss.

Er schrieb. „Ich befinde mich auf unbekanntem Terrain, auf einer Reise. Ich habe keine entsprechenden Erfahrungswerte. Ich will trotzdem so schnell wie möglich voranschreiten. Die Reise hat nur mit mir zu tun! Ich will zu schnell am Ziel sein. Ich agiere arrogant, als könne mir nichts zustoßen. Ich glaube zu wissen, wohin es geht, weiß es aber nicht. Ich fühle mich zu sicher. Meine Gefühle oder Intuition könnten mich täuschen. Mein Verstand oder Ego ist eingefroren; ich verlasse mich zu sehr auf meine Intuition! Ich unterliege einer Täuschung. Es geht um mein Navi, meine Intuition, mein Talent. Wenn ich nicht aufpasse, gerate ich in Panik. Ich muss wachsamer, achtsamer sein. Ich muss eine bestimmte Person aufsuchen, sonst verliere ich meinen Kopf. Und wenn ich meinen Kopf verliere, dann nur, weil ich nicht loslassen kann.“

Er betrachtete das Niedergeschriebene und spürte, auf dem richtigen Weg zu sein, aber das reichte ihm nicht. Also aktivierte er sein Navi und scannte das Blatt mit den Stichpunkten von oben bis unten und zurück. Und währenddessen wurden einige Punkte unschärfer, verschwommener, während andere Punkte schärfer wurden und sich wie auf einem 3D-Foto in den Vordergrund drängten.

Zusätzlich schlich sich ein weiterer Punkt, den er nicht aufgeschrieben hatte, in den Vordergrund seiner Wahrnehmung. Um auszuschließen, dass das am edlen französischen Tropfen lag, schaute er kurz weg, schloss seine Augen, öffnete sie wieder und betrachtete die Liste erneut. Nach wie vor stachen vier Punkte hervor: „Leere Autobahnschilder“, „333“, „Doktor“ und „Henker“. Wieso kam der Henker hinzu?

Genussvoll trank er einen weiteren Schluck, holte den Laptop, schrieb in aller Ruhe den Traum auf, so wie er ihn einem Therapeuten erzählen würde, formulierte dazu Fragen und scannte seine Notizen ein. Dann öffnete er Outlook und schrieb: „Lieber Theodor, ich möchte Dich bitten, einen Blick auf den Anhang zu werfen. Ich spüre, dass der Traum wichtig ist. Ich komme nicht weiter. Da ich wieder in einem Kriminalfall verwickelt sein werde, könnten die Hinweise damit zusammenhängen. Nadine taucht auch auf. Wenn möglich, lass uns noch heute skypen. LG, Martin“

Er schaute auf seine Uhr: 20:50 Uhr. New York City liegt sechs Stunden zurück, und Theodor könnte mitten in irgendwelchen Vorträgen stecken. Auf einmal musste er an Paulita denken, öffnete Skype, nahm sein Glas und lehnte sich zurück. Sie war offline.

Traumgleiter

Подняться наверх