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„Können Sie sonst noch was sehen, hören oder riechen? Irgendetwas, das Ihnen noch nicht aufgefallen ist? Irgendwelche Personen oder Gegenstände. Lassen Sie sich Zeit. Schauen Sie sich in Ruhe um.“

„Nein, nicht wirklich“, sagte Herr Günther nach einer Weile. Seine Lider zuckten.

„Dann bleiben Sie bitte noch für einen Moment in diesem Gefühl. Nehmen Sie es noch einmal bewusst wahr und öffnen Sie dann langsam wieder Ihre Augen.“

Nach einer kurzen Weile tat der Klient, wie ihm geheißen und schaute Borchardt leicht benommen an.

„Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragte Borchardt.

„Ich bin geschockt, dass ich wieder dasselbe Gefühl hatte wie bei meinen letzten Träumen.“

„Genau darum geht es aber, Herr Günther. So sehr der Verstand das auch leugnen möchte, Ihre gesamte Lebensproblematik hängt im Großen und Ganzen mit Ihrer damaligen Erfahrung als Siebenjähriger zusammen.“

„Ja, das wird mir jetzt so langsam bewusst. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Träume uns so wichtige Hinweise geben.“

Borchardt lächelte. „Es ist jetzt von Bedeutung, dass Sie sich in der kommenden Woche die heutigen Erkenntnisse in Gänze vergegenwärtigen. Wenn Ihnen wirklich bewusst wird, dass der kleine Siebenjährige in Ihnen für einen Großteil Ihrer heutigen Probleme verantwortlich ist, erst dann können wir gemeinsam sicheren Kontakt zu ihm aufnehmen und einen nachhaltigen Heilungsprozess einleiten.“

Herr Günther stand auf und die beiden Männer schüttelten sich die Hände. „Dann bis nächsten Mittwoch, Herr Borchardt.“

„Ja genau, bis nächsten Mittwoch. Falls Sie Fragen haben, die bis dahin nicht auf sich warten lassen können, Sie haben meine Nummer.“

„Haben Sie vielen Dank.“

„Ich muss mich bei Ihnen bedanken für Ihr Vertrauen und Ihren Mut. Weiter so. Machen Sie’s gut!“

Herr Günther verließ den Praxisraum, und Borchardt setzte sich an seinen Schreibtisch. Er machte sich Notizen wie immer, wenn ein Klient gerade eine Sitzung verlassen hatte. Es war sein Markenzeichen, während der Sitzungen nicht mitzuschreiben, mit Ausnahme in den ersten beiden Stunden einer beginnenden Therapie. Dieses ständige Aufschreiben störte nur die Konzentration und war oft der Grund, wichtige körperliche Regungen beim Klienten zu verpassen; Regungen, die Anzeichen verdrängter Gefühle sein können. Und diese verdrängten Gefühle, so war er sich sicher, waren der Hauptschlüssel zur Heilung psychologischer Probleme.

Borchardt schaute auf seine Uhr. Heute kam kein Klient mehr. Das passte ihm sehr gut. Er war nämlich erschöpft; hatte einen langen Tag mit anspruchsvollen Klienten hinter sich. In der Vergangenheit vermied er volle Tage wie diesen. Seitdem er jedoch einen Teil des Jahres in seiner Casa auf Gran Canaria verbrachte, um sich seiner schriftstellerischen Karriere zu widmen, ließen die Anfragen nach seinen Behandlungen nicht nach. Im Gegenteil, seit der erfolgreichen Veröffentlichung seines ersten Fachbuches „Paradigmenwechsel in der Psychotherapie“ vor drei Jahren hatte er sich vor Anfragen nicht mehr retten können und für die Sommermonate hier in Berlin eine Gehilfin anstellen müssen - Samira.

Ebenfalls beschränkte er seine Tätigkeit als psychologischer Psychotherapeut und renommierter Traumanalytiker auf nur noch zwei bis drei Tage die Woche. Wenn er früher höchstens vier Klienten á 90 Minuten pro Tag behandelt hatte, so hatte er heute höchstens fünf Klienten á 60 Minuten, und das obwohl er die neunzigminütigen Sitzungen vorzog. Denn gerade in der letzten halben Stunde machten seine Klienten oftmals Quantensprünge. Borchardt war zu sehr Profi, als dass er sich von der herrschenden Meinung hätte einreden lassen, dass einstündige Sitzungen generell ausreichten. Dem ist nicht so und das wusste er nur zu gut. Solche oberflächlichen Plattitüden, wie er sie nannte, konnten ihn nicht beeinflussen.

Darüber hinaus besaß der monetäre Aspekt eine untergeordnete Rolle. An erster Stelle standen seine Klienten und zwar als menschliche und nicht als irgendwelche psychomaschinellen Wesen. An zweiter Stelle stand seine tiefe Überzeugung, dass es zweifellos psychologische Gesetzmäßigkeiten gibt, die allen Menschen gleichermaßen innewohnen, dass aber jedes Individuum seine ureigene und einzigartige innerseelische Landkarte aufweise.

Somit waren für ihn nicht die verschiedenen Therapieformen, die es in der gängigen Praxis gibt, maßgeblich, sondern die Fähigkeit der Empathie und die Kunst, aufmerksam zuzuhören. In der Regel wurde ein Großteil seiner Klienten erst nach 40 Minuten warm. Oft stiegen wenig später die nach Freiheit schreienden und in Vergessenheit geratenen Erinnerungen zurück ins Bewusstsein.

Für Borchardt war das eine Gesetzmäßigkeit, die er gleich zu Beginn seiner Berufslaufbahn entdeckt und beherzigt hatte. Natürlich war er sich bewusst, dass er seinen Klienten viel abverlangte, aber seine Erfolge sprachen letztlich für ihn. Dennoch war Borchardt kein Besserwisser und schon gar nicht ein sturer Zeitgenosse. Er war flexibel und stets bereit, neue Wege zu gehen und hatte für sich einen Weg gefunden, auch in 60-Minuten-Sitzungen zu einem guten Ergebnis zu kommen.

Er bediente die Sprechanlage.

„Ja, Papa.“

„Ich habe ja heute niemanden mehr. Mach doch bitte Schluss und kümmer dich um deine Sachen.“

„Ja, gerne, aber ein Abschiedsküsschen wollte ich dir schon noch geben“, lächelte Samira in die Anlage.

„Den gebe ich dir, wenn ich gleich rauskomme“, lächelte er zurück.

Samira war zu einer hübschen 23-jährigen Frau herangewachsen. Sie studierte Agrarwissenschaften im zweiten Semester an der Humboldt-Universität, nachdem sie eine Ausbildung zur Landwirtin erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie begrüßte die Tätigkeit bei ihrem Vater und hatte mit ihm vereinbart, ihn mit höchstens 15 Stunden die Woche zu entlasten. Sie übernahm einfache Tätigkeiten wie Terminierungen, Reservierungen und die anfallende Verwaltung von Praxismaterial.

Nachdem sie alle Unterlagen geordnet und den Computer heruntergefahren hatte, warf sie wie gewöhnlich einen Blick auf das Foto Nadines auf ihrem Schreibtisch. Sie war doch das Herz der Familie gewesen, eine so lebensfrohe Frau und Borchardts erste große Liebe. Sie hatte immerzu gelächelt - kein aufgesetztes sondern ein authentisches und durch und durch lebensbejahendes Lächeln. Auch auf diesem Foto.

Während Samira in Erinnerungen versunken auf das Bild starrte, kam Borchardt dazu. „Ich vermisse sie.“

„Ich auch, Papa.“

„Wir müssen lernen, mit dem Verlust zu leben.“

„Wie soll ich das? Sie ist meine Mutter. Sie starb einfach zu früh.“

Er ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter, wissend, dass eine Berührung mehr als Worte sagt. Sofort brach Samira in Tränen aus. Sie weinte bitterlich, stand auf, umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.

„Wir schaffen das, meine Prinzessin.“

„Sie war eine so gute Frau.“

„Ich weiß.“

„Warum lässt Gott so etwas nur zu?“

„Samira, unsere Aufgabe ist es, zu lernen, mit diesem Verlust zu leben.“

„Ich bin einfach nur traurig.“

„Ich weiß.“ Zärtlich nahm er den Kopf seiner Tochter von seiner Schulter, sodass er ihr in die Augen schauen konnte. „Glaubst du immer noch nicht an ein Leben nach dem Tod?“, lächelte er sie an.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leicht verunsichert.

„Auf der ganzen Welt gibt es nicht eine einzige wissenschaftliche Studie, die nachweist, dass es nicht so etwas gibt wie ein Leben nach dem Tod.“

„Das bringt mir meine Mama auch nicht zurück“, weinte sie.

„Ich weiß, aber solange niemand beweisen kann, dass es nach dem Tod nicht weitergeht, glaube ich an ein Leben nach dem Tod. Weißt du, wie ich das meine? Für mich ist Nadine noch da, auf einer anderen Ebene, nicht sichtbar, aber trotzdem ist sie für mich noch da.“

„Trotzdem verstehe ich nicht, warum Gott so etwas zulässt.“

„Ich weiß es auch nicht. Ich glaube noch nicht einmal, dass Gott es zugelassen hat. Ich glaube an Schicksal und Fügung. Ich glaube nicht an einen Gott, der Leiden bringt.“

„Aber warum ist sie so gestorben, auf so eine fürchterliche Weise?“

„Samira, mein Ein und Alles“, sagte er nach einer kurzen Weile mit Tränen in den Augen, „ich glaube, wie gesagt, dass sie auf einer anderen Ebene noch unter uns weilt. Ja, ich glaube, dass sie jetzt gerade unter uns ist.“

„Aber dann müsste man doch ein Zeichen oder sowas von ihr erhalten, wenn das wirklich stimmt.“

„Wer sagt denn, dass das hier kein Zeichen ist?“

„Wie bitte?“

„Vielleicht macht sie ja gerade dadurch auf sich aufmerksam, indem sie uns beide in dieses Gespräch verwickelt. Vielleicht war sie es, die dich veranlasst hat zu weinen. Dass du weinst, ist in Ordnung. Aber, nehmen wir einmal an, Mama lebt tatsächlich auf einer anderen Ebene und kann uns hier und jetzt sehen oder vielleicht sogar hören, wie traurig müsste sie dann sein, dich so zu sehen?“

Samira hatte Ähnliches von ihrem Vater schon des Öfteren gehört. „Du meinst, ich bin es Mama schuldig, mich positiver zu fühlen, wenn ich an sie denke?“

Borchardt lächelte.

„Vielleicht hast du recht.“

„Ich glaube, du bist es Mama schuldig, sie zum Lachen zu bringen, wenn du an sie denkst“, sagte er weich.

Samira musste lächeln.

„Weißt du, mein Engel“, fuhr er fort, „wir alle müssen sterben. Es gibt rein gar nichts, das überlebt. Alle müssen gehen. Die einen früher, die anderen später. Mama ist nur vorausgegangen, und wir kommen nach.“

„Ich vermisse sie trotzdem.“

„Ich weiß. Wenn du aber ständig ihren Tod bedauerst und deine Wut darüber auslebst, hat ihre Seele keine Chance, dort hinzugehen, wo sie vielleicht hingehen will. Du musst sie so langsam aber sicher gehen lassen. Das ist sehr wichtig. Sie ist tot, Samira. Daran ist nichts mehr zu ändern. Sie kommt so, wie sie war, nicht mehr zurück. Nie mehr. Das ist der Lauf der Dinge. Ihre Seele kann einfach nicht frei sein, wenn du an ihr festhältst.“

Diesmal musste sie nicken. „Was hast du heute noch vor?“

„Ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach.“

„Einem Spaziergang.“

„So ist es, meine Liebe.“

„Danke, Papa.“

Borchardts Praxis lag in der malerischen Sophienstraße in Mitte direkt gegenüber der dreihundert Jahre alten Sophienkirche. Draußen glühte die Sonne. Es waren schwüle 30 Grad. Er war froh, dass er Samira einigermaßen beruhigen konnte und musste sich die ganze Zeit beherrschen, nicht selbst in Tränen auszubrechen.

Wie sehr er doch Nadine in Wahrheit vermisste. Sie war seine große Liebe, die Liebe seines Lebens. Und ihr hatte er es zu verdanken, dass er heute der war, der er war. Sie war es, die ihn immer wieder ermutigte, hinter dem zu stehen, was er in den ersten 20 Jahren seines Lebens geleugnet hatte.

Borchardt besaß nämlich die Fähigkeit der außersinnlichen Wahrnehmung. Er vermochte, Gedanken anderer zu erkennen, Antworten in Träumen zu erhalten und Zukünftiges zu erahnen. Darüber hinaus besaß er ein ausgeprägtes empathisches und intuitives Gespür, das ihn aus der Masse seiner Therapeuten-Kollegen hervorhob. Schon in seiner frühen Kindheit entdeckte er sein Talent, seiner Intuition nicht nur zu trauen, sondern auch Folge zu leisten. Er lag mit seinen intuitiven Entscheidungen immer richtig. Nicht manchmal, immer.

Er definierte sie als seinen inneren Kompass, der ihn zu seinem Ziel, welcher Natur auch immer, führte oder besser drängte. Mit diesem Instrument konnte er verlorengegangene Gegenstände wiederfinden, deren Suche andere längst aufgegeben hätten, oder vor schwierigen Klausuren die richtigen Kapitel studieren oder einen gebuchten Flug canceln, um wenig später vom Absturz der Maschine zu erfahren. Man kann den Übergang in den intuitiv gesteuerten Geist - einen Zustand, den Borchardt übrigens Mentalnavi nennt - mit einem Wechsel in seiner Wahrnehmung beschreiben. Er fing an, die Umwelt anders wahrzunehmen. Er sah sie nicht mehr durch die Augen seines Verstandes. Alles erschien langsamer, weitaus langsamer. Die Geräusche zogen sich in die Länge, so als würde man ein Gummiband ausdehnen. Und dennoch bewegte er sich in der von allen Menschen gemeinsam wahrgenommenen Zeit. Auch Gerüche nahm er intensiver wahr. Er erkannte Vorkommnisse, die er außerhalb dieses Zustandes nicht beobachtet hätte. Selbst innerseelische Konflikte anderer erfasste er in symbolischer Form direkt vor seinen Augen, und es erforderte Jahre psychotherapeutischer Praxiserfahrung, bis er zufällig darauf stieß, wie er sein Mentalnavi bewusst aktivieren konnte. Seitdem nutzte er es in der Therapie und löste die psychischen Probleme seiner Klienten überdurchschnittlich schnell.

Borchardt lag immer Wert darauf, seine Mitmenschen wissen zu lassen, dass jeder die Fähigkeit des psychischen Sehens und Fühlens besäße und ausbauen könne. Aber - und dessen war er sich bewusst - es war ausschließlich Nadine, die ihm half, sein Talent in Gänze anzunehmen, sich nicht sonderbar zu fühlen und es in seinem Leben sinnvoll und im Dienst für andere einzusetzen.

Momentan verbrachte er also nur noch Anfang Frühling bis Mitte Herbst in Berlin und seit vorletztem Jahr seine Zeit auch damit, der hiesigen Mordkommission bei unlösbar erscheinenden Kriminalfällen fallanalytisch beratend zur Seite zu stehen. Sein Kindheitsfreund Tomas Reichstatt, mittlerweile Kriminalhauptkommissar beim Berliner LKA 1, hatte sich vertrauensvoll an ihn gewandt, als sein Team während der laufenden Ermittlungen gegen den „Schlitzer von Neukölln“ fortwährend im Dunkeln tappte.

Tomas war immerzu von Borchardts Talent begeistert gewesen, genauso wie Borchardt Tomas‘ Begabung, am Ball zu bleiben, faszinierte, egal was passierte. Für Tomas erschien es unter den damaligen extrem angespannten Umständen völlig in Ordnung, die übersinnlichen Fähigkeiten seines seit Lebzeiten besten Freundes zu Rate zu ziehen. Wie sich jedoch herauskristallisierte, wurde aus der Beratung eine aktive Ermittlungsteilnahme. Borchardts Navi drängte ihn nicht nur auf die richtige Fährte, die den Ermittlern des LKA 1 verschlossen blieb, sondern vermittelte ihm darüber hinaus mentale Skizzen des Tathergangs und er konnte somit dazu beitragen, den „Schlitzer von Neukölln“ zu fassen.

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