Читать книгу Traumgleiter - Christian Fülling - Страница 7

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Wie ein Blutegel klebte seine Hand auf ihren nach Gnade flehenden Lippen.

„Hab keine Angst, du wirst eh sterben.“

Was immer sie auch tat, welcher Gedanke ihr auch kam, er war stärker - weitaus stärker.

„Wenn der Tod anklopft“, während der warme Sommerregen auf ihre nagelneue Frisur prasselte und ihre Augen randvoll tränkte, „dann kann man ihm nicht mehr entkommen.“

Sie hatte einfach keine Chance, ihren Widersacher wenigstens im Ansatz zu erkennen - es war zu dunkel und ihre Augen zu nass. Und sie fürchtete sich, sie nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu schließen. Sie befürchtete, er könne sie dann töten.

Er hatte sie unerwartet und heimtückisch überrascht, sodass sie außerstande war, auch nur irgendwie zu reagieren, obgleich sie seit Jahren im Kampfsport - insbesondere im Bodenkampf - trainiert war. Ihr Vater, ein professioneller Kampfkünstler, hatte sie schon im frühen Kindesalter an die Notwendigkeit dieser Kunst herangeführt. Im Vordergrund stand dabei sein Wunsch, seine Tochter möge sich stets gegen Übergriffe erfolgreich zur Wehr setzen. Eine seiner Maxime lautete: Gleichgültig, wie perfekt man kämpfen kann, ein wahrer Kampfkünstler verteidigt sich nur im Notfall. Und jetzt war so ein Notfall, und was brachte ihr seine Maxime nun? Eduard - hier mitten im Berliner Volkspark Hasenheide an der Grenze von Neukölln und Kreuzberg - ließ sie dastehen, als hätte sie nie zuvor trainiert. Er war ihr immer einen Schritt voraus. Zudem hatte er sie auch noch mit einer ihr bis dato unbekannten Grifftechnik förmlich bewegungslos gemacht.

„Verstehst du das, Martina?“

Martina? Erstmals konnte sie einen bewussten Gedanken aufgreifen.

„Das ist sehr wichtig. Du musst begreifen, dass es im Leben keine Garantie gibt, außer die, dass wir alle sterben.“

Wieder suchte sie nach Möglichkeiten, sich zu befreien, erneut vergebens. Es war auch schon spät, sehr spät sogar – 0:31 Uhr Sonntagnacht mitten im Hochsommer. Der Volkspark menschenleer, nur die beiden und der unaufhörlich warme Sommerregen, der zunehmend ankündigte, sich in ein wildes Unwetter zu verwandeln. Tagsüber mit unzähligen Anwohnern, Touristen und Dealern angefüllt bot der Volkspark um diese Nachtzeit das perfekte Szenario für Eduards Absichten. Er hatte sie an einem der spärlich beleuchteten Hauptwege überwältigt, mit einem gezielten Hieb ins Gesicht ausgeschaltet, auf eine kleine freie Fläche zwischen den anliegenden Büschen gezerrt, in denen tagsüber die afrikanischen Dealer ihre Drogen versteckten, und sie mit einem weiteren professionellen Hieb gegen ihre Schläfe wieder zu Bewusstsein befördert.

Martina hatte sich auf dem Rückweg von ihrem Verlobten Lucas Dupont befunden, einem Einzelkind einer französischen Unternehmerfamilie in dritter Generation. Lucas wohnte in einer 200 qm großen Wohnung am einen Ende des Volksparks - am Südstern in Kreuzberg – und Martina am diagonal gegenüberliegenden Neuköllner Herrfurthplatz, der sich von einem unbedeutenden und hausgemachten Problemkiez zu einem angesagten Szenekiez gemausert hatte. Normalerweise mied sie um diese Tageszeit den Park und normalerweise war sie auch mit ihrem Fahrrad unterwegs, das sich ausgerechnet heute in der Werkstatt befand. Vor allem aber war es der plötzliche Regen, der sie veranlasst hatte, die Abkürzung durch den Park zu nehmen. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Abend sie hier hinführen würde. So selig war sie bis eben noch gewesen. So verliebt.

Martina und Lucas hatten sich in einem Masterstudiengang einer renommierten französischen Business School kennen und lieben gelernt. Kurz vor der Abschlussprüfung verstarb Lucas‘ Vater im Alter von 56 Jahren unerwartet an einem Herzinfarkt. Ein Schicksalsschlag, der die gesamte Familie traumatisierte. Ohne zu zögern, übernahm Lucas die Verantwortung und nahm den Tod seines geliebten Vaters als Anlass, sich von seinem Traum, ein Internetunternehmen aufzubauen, zu verabschieden - zumindest bis auf Weiteres - und stieg nach Rücksprache mit seiner Mutter in die Geschäftsführung des Handelsunternehmens ein. Eine seiner ersten Entscheidungen war, die Handelsaktivitäten räumlich von der Administration zu trennen. Berlins geographische Lage zu nutzen, sei eine notwendige und strategisch wichtige Ausrichtung im modernen Europa. Nach nur sechs Monaten zog er mit fast all seinen Tradern von Paris nach Berlin in die oberste Etage des in Mitte gelegenen internationalen Handelszentrums.

„In Momenten wie dieser wird einem bewusst, wie einzigartig das Leben doch ist, nicht wahr Martina?“

Ein Gewitterdonnern untermauerte die Feststellung und bot der gesamten Szenerie eine perfide Hässlichkeit. Nach wie vor klebte seine Hand auf ihrem Mund, sie konnte nur durch die Nase atmen, die sich immer wieder mit Regenwasser füllte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als von Zeit zu Zeit heftig auszuschnaufen, um überhaupt noch atmen zu können.

Wenngleich sich alles in Sekundenschnelle abspielte, so kam es ihr wie Minuten vor. Ihre Augen schmerzten so sehr, dass sie von ihr verlangten, kurz geschlossen zu werden, nur für einen winzigen Moment. Aber Martina war sich mehr als zuvor bewusst, sich in einer lebensbedrohlichen Ausgangslage zu befinden; sie konnte den Tod förmlich neben ihr stehen spüren. Ihre Augen jetzt zu schließen, war schier unmöglich. Das konnte und durfte auch nicht ihr Ende sein, nicht jetzt, nicht hier und auch nicht so. Ihre Kampfkunsterfahrung hatte sie gelehrt, die energetischen Absichten ihrer Gegner intuitiv zu erspüren und umgehend darauf zu reagieren. Es bestand kein Zweifel: ihr Opponent hatte die schlimmsten Absichten.

„Warum setzt du dich nicht zur Wehr? Komm, kämpfe.“

Aber wie? Ihr Kampfgeist und ihr Überlebenswille schienen sie zu verlassen. Als würde sie unter einem tonnenschweren Felsen liegen, der sie für immer gefangen halten wird, der ihr all die noch vorhandene Lebensenergie absaugte.

Mehrere hintereinander aufleuchtende Blitze, ein immer näherkommendes Donnern und ein aufbrausender Wind kündigten des Unwetters bevorstehende Vormachtstellung an, und der durchaus angenehme Sommerregen wurde schlussendlich von einem heftigen orkanartigen Gewittersturm abgelöst. Die Baumkronen mitsamt den Sträuchern schlugen wild um sich, der Wind schrie aus allen Himmelsrichtungen. Der Regenfall verwandelte sich in eine Dusche. Die Geräuschkulisse der Natur wurde übermächtig – genauso wie ihr Gegner.

„Du sollst dich wehren!“, brüllte Eduard in den kreischenden Wind. Sie konnte ihn nicht mehr hören, geschweige denn verstehen. Ihre fünf Sinne verloren zunehmend die Kontrolle, und ein durch all ihre Zellen wehender Schüttelfrost ließ ihren Organismus unkontrolliert beben. Ihre Augen schmerzten unsäglich.

Auf einmal glitt seine Hand von ihrem Mund seitlich auf den Boden. Blitzschnell verteilte sich das Regenwasser auf die noch trockenen Stellen. Gleichzeitig schien Eduard seinen kontrollierten Halt zu verlieren, um sich wieder zügig und mit überwältigender Kraft auf ihr zu positionieren und ihren Mund erneut zuzuhalten. Was war geschehen? Hatte Eduard das Wetter unterschätzt? War er nicht mehr Herr der Lage? Seine Hand löste sich immer wieder; ihre nasse und mittlerweile glitschige Haut bot keinen dauerhaften Halt mehr.

Martina war noch in der Lage, die Situation auf unterbewusster Ebene wahrzunehmen. Sie registrierte eine Veränderung in seiner Energie. Seine Standfestigkeit war nicht mehr dieselbe. Das löste eine unscheinbare dennoch wahrnehmbare Hoffnung in ihr aus, eine ganz bestimmte Art von Hoffnung, die sie an eine Unterhaltung mit ihrem Vater aus ihrer Jugend erinnerte. Eine Unterhaltung, die sie längst vergessen hatte.

Ihre Angst, die Augen zu schließen, wich dem unwiderstehlichen körperlichen Drang, es tun zu müssen. Nein, bitte nicht jetzt, dachte sie noch, während sie sich schlossen. Martina hatte den Kampf gegen ihren Körper verloren. Alles wurde schwarz um sie herum. Nur noch der felsenschwere Druck des Gegners, der Schüttelfrost, die brennenden Augen und der gewaltige Regen waren ihrer physischen Wahrnehmung geblieben. Sie musste kapitulieren und ihrem Schicksal die Führung übergeben - ihre Psyche hatte die Kontrolle über ihre Physis verwirkt. Und genau diese Erkenntnis erinnerte sie nochmals an die Unterhaltung mit ihrem Vater, und diesmal schien sie ihr nicht mehr ausweichen zu können. Ihr Geist schob einen Riegel vor ihren Verstand, ließ sie unaufhaltsam zurück in die Vergangenheit gleiten und die gesamte Szene in Windeseile im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge zum Leben erwecken.

Sie sitzt mit ihrem Vater im Biergarten am Münchener Viktualienmarkt. Es ist Hochsommer und ein wunderschöner warmer Dienstagnachmittag. Die Sonne scheint auf Hochtouren am wolkenlosen Himmel. Die beiden treffen sich hier regelmäßig, da ihr Vater in der Nähe ein Dojo betreibt, in dem Martina ab und an trainiert. Obwohl ihr Vater ein seit Jahren erfolgreicher Profikampfsportler ist, der darüber hinaus zwei Bestseller über die Philosophie hinter den Kampfkünsten veröffentlicht hat, lässt er es sich nicht nehmen, hin und wieder einen Maßkrug gekühltes bayerisches Bier zu trinken.

Martina ist vor einer Woche 15 Jahre alt geworden. Sie besucht eine Privatschule im Zentrum Münchens und ist eine exzellente Schülerin. Leider hat sie immer wieder Probleme mit diesem einen Mitschüler, der eine Klasse über ihr ist und sie regelmäßig verbal attackiert. Rhetorisch scheint er ihr um Längen voraus. Er beherrscht die Kunst, andere mit seinen Worten außer Gefecht zu setzen.

„Mein Schatz, hast du wieder Probleme mit diesem Frank?“, fragt ihr Vater, während er seinen ersten Schluck mit einem befreienden Seufzer belohnt.

„Wie kommst du darauf?“

„Ich kann es in deinem Gesicht sehen.“

Ohne, dass sie etwas dagegen tun kann, schießen ihr Tränen in die Augen. „Man kann vor dir auch wirklich nichts verbergen.“

Mit einem verständnisvollen Lächeln und einer zarten Berührung beruhigt er seine Tochter, die er besser als jeden anderen Menschen kennt. „Mein Engel, du sollst vor mir auch gar nichts verbergen, was dir Sorgen bereitet. Also, nur Mut und raus damit.“

„Ja, er hat mich heute wieder so richtig schön vor seinen Kumpels auflaufen lassen. Ich schaffe es einfach nicht, ihm was entgegenzusetzen.“

„Hast du dich jemals gefragt, warum du es nicht schaffst?“, fragt er.

„Na ja, er kann halt sehr gut reden… viel besser als ich.“

„Das wage ich zu bezweifeln“, entgegnet er mit der ihr nur allzu vertrauten Sicherheit eines lebenserfahrenen Vaters. „Schau mal, Tina, einer der Beweggründe, warum ich die Kampfkunst so liebe, ist die Tatsache, dass man die dort gewonnenen Erkenntnisse in allen Lebensbereichen anwenden kann. Als ich vor vielen Jahren damit begonnen hatte, bin ich immer wieder auf Kämpfer gestoßen, denen ein angsteinflößender Ruf vorauseilte. Regelmäßig verlor ich gegen sie. Eines Tages dämmerte es mir, dass es nicht in erster Linie deren Technik und Ausdauer waren, sondern ihr Ruf, der mich einschüchterte. Mein damaliger Meister gab mir einen mentalen Trick mit auf den Weg, den ich dir gerne weitergeben möchte. Wenn jemand vor dir steht, der etwas Bestimmtes kann, das dich einschüchtert, dann nehme ihm im Geiste genau das weg. Stell dir vor, wie diese Person dastünde ohne das, was dich so hemmt. In deinem konkreten Fall frage dich: Was bleibt von Frank übrig, wenn man ihm seine rhetorische Überlegenheit wegnähme? Die Person, die übrig bleibt, ist der wahre Frank. Lerne dann, ihn nur noch so zu sehen - in deiner Imagination. Du wirst bald einen Wechsel in seiner Energie feststellen, weil du ihn mit einer anderen Einstellung begegnest. Das wird ihn verunsichern und dich stärken.“

Diese Erinnerung rüttelte augenblicklich Martinas innere Starre auf und durchbrach die eiserne Mauer zwischen ihrem Unterbewusstsein und ihrem Verstand. All das in Millisekundenschnelle. Sie hatte dieses Prinzip seit damals längst verinnerlicht, zumal es ihr umgehend geholfen hatte, die Situation mit Frank unter Kontrolle zu bringen.

Und nun wurde dieses Wissen wieder zum Leben erweckt. Wie von fremder Hand geleitet, riss sie ihre Augen auf, deren Schmerzen wie weggeblasen. Gleichzeitig schaffte sie es, mit ihrem rechten Bein die Haltekraft ihres Angreifers außer Balance zu bringen, sodass Eduard sich neu positionieren musste, um nicht seine Übermacht zu verlieren. Im selben Atemzug war sie endlich mithilfe eines leuchtenden Blitzes in der Lage, ihren Widersacher kurz ansatzweise zu erkennen. Etwas Weißes bedeckte einen Großteil seines Gesichtes. Da waren nur seine Augen. Sie wirkten feurig und aufgerissen. Auch seine Hand konnte sie erblicken. Trug er Handschuhe?

Ein weiterer von einem kräftigen Donnern begleiteter Blitz erleuchtete die Szene und schlug schnurstracks in einen der umliegenden Bäume. Martinas Aggressor konnte jetzt auch ihre Augen sehen, während ein lautes knackendes Geräusch eine unvorhergesehene Bedrohung ankündigte, die schwungvoll wie eine Bombe auf Eduard einschlug und ihn als nassen leblosen Sack auf ihren Leib fallen ließ.

Das Unwetter tobte unaufhörlich weiter. Wie am Spieß schreiend, mobilisierte Martina all ihre noch zur Verfügung stehenden Kräfte, stemmte den großen schweren Körper von sich und ließ ihn links neben sich auf die Erde sacken. Dann sprang sie auf, schrie unaufhörlich weiter, als würde sie sich von einem inneren Dämon befreien.

Eduard lag bewegungslos vor ihr auf dem Boden. Sie unternahm alles, um die Grundfunktionen ihrer Wahrnehmung wiederzuerlangen; wischte sich hektisch das Wasser aus dem Gesicht, rieb mit Nachdruck ihre Augen und haute sich mit flachen Händen mehrere Male auf die Wangen. Währenddessen ließ sie ihn nicht aus den Augen und checkte die unmittelbare Umgebung und bemerkte diesen großen Ast, der neben Eduard lag.

Sie starrte auf den riesigen Mann am Boden, als sich seine Finger bewegten. Adrenalin aktivierte aufs Neue ihre Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Martina entschied sich für die Flucht, um im Eifer des Gefechts über einen harten Gegenstand zu stolpern und geradewegs wieder auf dem Boden zu landen. Sie krachte zuerst auf ihre linke Schulter und dann mitten aufs Gesicht. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Schulter bis in die Schläfe und ins Nasenbein. Sie schrie und raffte sich auf - ihr Adrenalin stärker als jede Verletzung -, schaute nach hinten und sah Eduard mühevoll aufstehen. Vor ihr lag der Gegenstand, über den sie gestolpert war: ein silberner Aluminiumaktenkoffer.

„Du willst es wirklich wissen, nicht wahr, Martina?“, schrie Eduard in die Dunkelheit und den peitschenden Regen.

Sie konnte seine Worte kaum verstehen und musste jetzt Gas geben, sonst war es zu spät. Sie rannte los. Sträucher, Büsche und florale Überreste versetzten ihr einen Hieb nach dem anderen. Ihre Augen waren angeschlagen. Sie konnte nichts klar erkennen, die Konturen verschwammen ineinander. Was sie jetzt aber sehen konnte, waren die Laternen des spärlich beleuchteten Hauptweges; also wechselte sie die Laufrichtung nach links und spurtete los. Ihre Prellung und ihr angebrochenes Nasenbein sandten keine Schmerzen mehr. Sie rannte um ihr Leben - um ihr junges Leben. Sie war doch gerade erst Ende 20 und hatte noch so viel vor. Sie wollte doch Lucas heiraten und ihre Geschäftsidee umsetzen und einen Freundeskreis in Berlin aufbauen. Sie stand doch mitten in der Blüte ihres Daseins. Sie begann doch gerade erst, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Und jetzt so etwas.

Sie erreichte den Hauptweg und wusste nicht in welche Richtung. Wie viele Male war sie schon hier gewesen und jetzt wusste sie nicht wohin. Was für ein Dilemma! Sie hatte keine Zeit für solch einen Mist. Konzentrier dich, Martina, los, konzentrier dich. Und dann sah sie ihn: den Wegweiser Richtung Hermannstraße! Da musste sie hin und rannte los. Immer wieder schaute sie nach hinten. Wo war er geblieben? Egal. Sie musste einfach nur rennen. Endlich bekam sie einen Ton heraus; zuerst einen krächzenden, dann einen heiseren und schließlich einen klaren - ein befreiendes: „Hilfe... Hilfe!“

Das Unwetter war im vollen Gange, keine Menschenseele weit und breit. Wo ist meine Handtasche, schoss es aus dem Nichts in ihren ohnehin schon überforderten Verstand. „Oh mein Gott, ich habe meine Handtasche nicht dabei.“ Panisch griff sie in ihre Hosentaschen. Da war er! Der Schlüsselbund! Erleichterung! Sie beschleunigte. Rannte was das Zeug hielt am Wegweiser vorbei Richtung Columbiadamm. Wieder bekam sie ein befreiendes „Hilfe... Hilfe!“ heraus, gelangte über die Fontanestraße zum Herrfurthplatz, wo sie in der Schillerpromenade in einer schicken und frisch sanierten Berliner Altbauwohnung ein beschützendes Dach über dem Kopf hatte.

Martina knallte die Tür hinter sich zu, rannte ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Unverzüglich fing sie an zu weinen. Tränen der Angst und der Ausweglosigkeit überschwemmten ihr geschundenes Gesicht.

„Papa! Ich muss Papa anrufen. Nein! Ich muss Lucas anrufen.“ Sie wischte sich die Tränen ab und ließ das Wasser laufen, um ihr Gesicht zu waschen. Es zu reinigen von seinen widerlichen Händen, deren Geruch nachwievor auf ihrer Haut klebte. Sie eilte in den Flur, hechtete ans Telefon, wählte Lucas‘ Nummer. Freizeichen. „Los komm, geh dran. Melde dich! Bitte, melde dich!“ Sein Anrufbeantworter. „Lucas, bitte geh dran… Bitte nimm ab! Ich bin’s, Martina…“ Sie wollte gerade dem Anrufbeantworter erklären, was passiert war, als jemand die Wohnungstür aufschloss.

Er trug einen weißen Mundschutz und betrat langsam die Wohnung. Die Schockstarre aus dem Park war zurück. Sie konnte sich weder bewegen noch um Hilfe schreien.

„Martina.“

Kein Wort bekam sie mehr heraus. Er hatte den silbernen Aluminiumkoffer dabei. In der linken Hand ein Messer. Über der linken Schulter ihre Handtasche.

„Martina. Martina.“

Er trug eine knielange beige Regenjacke und seine Beine waren mit einem weißen Stoff eingehüllt. An den Händen trug er weiße Latexhandschuhe. Eduard stellte den Koffer ab, schloss die Tür und warf den Schlüssel und die Tasche vor ihre Füße. „Den hast du stecken lassen. Und die hast du vergessen.“

Scheiße, dachte sie, immer noch nicht in der Lage, zu reagieren.

„Weißt du, was ich hier in der Hand halte?“

Sie ahnte Schreckliches.

„Das ist ein Wurfmesser. Okay?“

Nicht einmal mehr nicken konnte sie.

Er musste an die zwei Meter groß sein. Seine Augen waren weder feurig noch Furcht einflößend. Sie wirkten jetzt ruhig und gelassen, fast schon freundlich.

„Hast du wirklich geglaubt, du wirst mich so schnell los?“ Er blickte auf das Telefon und signalisierte mit eindeutigem Blick, sie möge umgehend auflegen. „Wenn du schreist werfe ich dir das Messer zwischen deine Augen - schneller als du sehen kannst. Okay?“

Sie legte auf.

„Du musst verstehen, wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es auch durch.“

Sie dachte an die Unterhaltung mit ihrem Vater.

Eduard entledigte sich seiner Jacke, warf sie auf den Boden und stand in voller Ausrüstung vor ihr: ein weißer Ganzkörperschutzanzug mit Kapuze, Mundschutz und Latexhandschuhen. „Die Jacke ist aus Latex und die Schuhüberzieher aus Kunststoff. Die haben heutzutage alles Mögliche drauf. Man muss vorsichtig sein. Verstehst du das, Martina?“ Dann setzte er die Kapuze auf und kam auf sie zu.

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