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Das darf nicht wahr sein, bitte nicht jetzt, dachte Borchardt, als er am anderen Ende des Durchgangs eine ihm nur allzu vertraute Obdachlose samt ihrer Obdachlosenzeitung stehen sah. Sie musste am Alex eingestiegen sein. Die obdachlosen Zeitschriftenverkäufer gehören genauso selbstverständlich zu Berlins Stadtbild wie die überall anwesenden Flaschensammler.

Borchardt hatte sie bereits des Öfteren gesehen und ihr immer wieder Geld gegeben. Sie kannte ihn, und er kannte sie. Heute sah sie besonders heruntergekommen aus. Als hätte sie drei Tage unter der Erde gelegen. Ihr Schweißgeruch war immerzu unerträglich. Selbst wenn sie längst aus dem Umkreis war, hinterließ sie einen beißenden Gestank. Borchardt vermutete, dass sie unter einer Krankheit der Schweißdrüsen litt. Anders konnte er sich diesen abstoßenden Geruch nicht erklären, zumal ihre Kleidungen immer recht gepflegt waren.

Sie war circa 1,60 Meter groß und abgemagert. Mehrere Zähne fehlten ihr. Ihre Augen waren stets wässrig, als würde sie ununterbrochen weinen. Sie musste um die 30 Jahre alt sein, wirkte allerdings wie um die 50. Hin und wieder hatten Borchardt und sie miteinander kurz gesprochen, was ihr stets schwerfiel, als würde sie das körperlich anstrengen. Als sie sich zum ersten Mal über den Weg gelaufen sind, hatte Borchardt den Eindruck, sie würde nicht mehr lange leben. Er hatte falsch gelegen und das beeindruckte ihn.

Die Obdachlose begann, ihrer Arbeit nachzugehen, indem sie ihren Verkaufstext monoton und gefühllos aufsagte: „Werte Mitfahrer und Mitfahrerinnen, ich bitte Sie um Ihre kurze Aufmerksamkeit. Ich weiß, ich bin nur eine von vielen. Trotzdem muss ich diese Zeitschrift verkaufen, damit ich auf ehrliche Weise an Geld für Nahrung komme…“

Der Bodybuilder saß direkt neben ihr und tippte auf seinem Smartphone rum. Er benahm sich, als gehörte ihm der gesamte Vierersitzplatz allein. Mit seinen gespreizten Beinen zwang er seinen jungen Platznachbarn, sich kleinlaut an die Wagenwand zu kauern. Auch den anderen beiden Fahrgästen ließ er kaum Freiraum.

„Mach den Kopf zu, du stinkende Missgeburt“, brummelte er Borchardts alter Bekannten zu, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„…Ich lebe seit vielen Jahren auf der Straße. Niemand hat Interesse…“, fuhr sie teilnahmslos fort.

Angewurzelt stand Borchardt da und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Dann griff der Typ blitzschnell Borchardts Bekannten am Hemdkragen. „Du stinkende Missgeburt hast jetzt Pause!“, und schuppste sie mühelos nach unten.

Sie knallte auf den Boden. „…Trotzdem bitte ich Sie, mir zu helfen…“, verstummte sie langsam, während Blut um ihrem Gesicht herum sichtbar wurde.

Auf dem Vierersitzplatz nebenan erhob sich ein Fahrgast. Der Stier jedoch war schneller aufgerichtet als er und brüllte sich langsam um seine Achse drehend: „Wenn irgendjemand hier ein scheiß Problem mit mir hat, dann soll er es JETZT sagen!“, und fletschte seine Zähne gegen den angehenden Helden, der sich gleich wieder hinsetzte.

„Okay“, während der Stier die vor Schmerzen schreiende Obdachlose an den Haaren packte und sie spielendleicht nach oben zog, „du hast jetzt Feierabend!“ Er zerrte sie bis zur Tür und wartete, bis die Bahn Sekunden später an der Jannowitzbrücke ankam.

Eine Frau direkt neben Borchardt erhob sich und öffnete eines der letzen geschlossenen Fenster.

Die Bahn kam zum Erliegen, und der Muskelberg öffnete die Tür, schleppte Borchardts Bekannte wie einen leblosen Gegenstand nach draußen und ließ sie einfach auf den Boden fallen.

„Du verseuchter Abfall“, während er gemütlich zum anderen Wagen lief, „komm mir nie mehr in die Quere!“

Borchardt hechtete durch die andere Tür und sah, wie der Bodybuilder ohne sich umzuschauen in den nächsten vorderen Wagen einstieg. Sichtlich geschockt verließen viele Fahrgäste den Wagen und einige eilten direkt zu der regungslosen Obdachlosen.

„Was mache ich jetzt bloß?“, fragte sich Borchardt, als er seine Bekannte auf dem Boden liegen sah. „Wenn ich ihr helfe, verliere ich den Typen. Wenn ich ihr nicht helfe, mache ich mich moralisch strafbar.“ In Sekundenschnelle musste er sich entscheiden. Der Typ wollte einfach unbehelligt weiterfahren. Und als Borchardt sah, wie liebevoll sich einige um seine Bekannte kümmerten, entschloss er sich kurzerhand, zurück in den Wagen zu gehen.

Traumgleiter

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