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ОглавлениеPaulita war eine äußerst attraktive Spanierin, Ende dreißig mit aufregender Figur. Ihr kolumbianischer Vater hatte ihr eine feurige Latinaerscheinung vererbt. Ihre Konditorei, inklusive Eiscafé namens „Confitería Paulita“, war ein gemütlicher kleiner Laden an der Hafenpromenade. Und ihre Torten genossen auf den Kanaren einen sehr guten Ruf.
Borchardt schätzte vor allen Dingen ihre natürliche Art. Sie hatte nichts Künstliches oder Arrogantes, obwohl sie allen Grund gehabt hätte, arrogant zu sein. Immer, wenn sie durch das kleine Venedig lief, drehte sich die Männerwelt nach ihr um.
Der kleine Hafen und die dahinter liegende Gegend werden aufgrund mehrerer Kanäle, die vom Hafen in den Ort führen, gerne das Kleine Venedig oder Venedig des Südens genannt. Die zarten Gassen, die sich durch den Ort ziehen, tragen mit zu dem Erscheinungsbild bei.
Borchardts Handy klingelte.
„Hey, Tomas, ich war gerade in schönen Gedanken versunken.“
„Hast du an deine Bekannte aus Gran Canaria gedacht, he?“
„Fängst du an, Gedanken zu lesen?“
„Du, pass auf, ich bin bei Ulrike und will dich nicht aufhalten.“
„Schieß los“, sagte Borchardt leicht genervt.
„Also, erstens, die Gesichtserkennung hat zu nichts geführt. Aber wie gesagt, wir haben es nur durch unsere Datenbank gejagt.“
„Und wie sieht es mit der Brandenburger aus?“
„Ich kümmere mich darum. Zweitens, du könntest übermorgen in Frau Vogts Wohnung.“
„Übermorgen. Wann denn genau?“
„Am besten am Vormittag. Hast du Termine?“
„Das wäre Mittwoch. Nein, alles gut. Kann ich machen.“
„Ich habe mit Natalie gesprochen und simse dir gleich ihre Nummer. Ruf sie einfach an und vereinbare einen Termin mit ihr. Sie weiß Bescheid.“
„Was ist mit der AB-Aufzeichnung?“
„Das gestaltet sich nicht so einfach. Das wird noch eine Weile dauern. Was machst du gerade?“, wollte Tomas wissen.
„Ich relaxe ein wenig.“
„Super, dann bis später, okay?“
„Ja, mach’s gut, mein Lieber!“
„Ach so, einen Moment, bevor ich’s vergesse“, rief Tomas hinterher.
„Was denn?“
„Frau Vogts Vater ist seit drei Tagen verschwunden.“
„Wie bitte?“
„Ja. Habe ich heute erfahren. Herr Vogt ist ein bekannter Kampfsportler und leitet ein Kampfsportstudio in München.“
„Was heißt denn verschwunden?“
„Ich hatte die Kripo München gebeten, ihn zu kontaktieren. Die teilten mir daraufhin mit, dass er einen Brief in seinem Dojo hinterlassen hat. Er würde für einige Zeit untertauchen und seine Tochter suchen.“
„Wie bitte?“
„Deswegen ist es ratsam, dass du auf jeden Fall bei Herrn Dupont vorbeischaust.“
„Herr Dupont?“
„Der Verlobte der Vermissten.“
„Ich verstehe.“
„Alles Weitere besprechen wir am Mittwoch, okay?“
„Okay. Grüß Ulrike herzlich von mir.“
„Mach ich.“
„Wieso fühle ich mich schon wieder so ausgelaugt“, fragte er sich, während er das Handy auf die Couch fallen ließ. Er stand auf, gähnte lange, warf einen Blick auf den Wein, der nicht der Grund gewesen sein konnte, ging zum Eingangsbereich, wo ein mannshoher moderner italienischer Spiegel unmittelbar rechts neben der Wohnungstür stand, stellte sich vor den Spiegel und schaute sich an.
„Wie kann das sein“, raunte er, während er seinem Spiegelbild immer näherkam und auf einmal von dem Gefühl, unter Drogen oder Ähnlichem zu stehen, übermannt wurde. Während seiner Studienzeit hatte er hin und wieder mit Drogen experimentiert, unter anderem mit LSD. Und dieses Gefühl hier erinnerte ihn an die Trips von damals. Als hätte irgendetwas Besitz von seinem Körper ergriffen. Und je näher er seinen Augen im Spiegelbild kam, desto mehr befürchtete er eine Depersonalisation: ein psychologisches Phänomen, das ein Verlust des ursprünglichen natürlichen Persönlichkeitsgefühls darstellt. Er empfand sein Spiegelbild als fremd und nicht ihm zugehörig. Ebenfalls trat eine Veränderung seiner Körperwahrnehmung auf, als würden seine Augen jemand Anderem gehören. Und wenige Zentimeter vor dem Spiegel spürte er mit all seinen Sinnen, wie ihn jemand durch seine Spiegelbild-Augen ansah und dieser Andere gleichzeitig er war.
Das Festnetztelefon klingelte.
„Wer ist das denn?“
Leicht taumelnd ging er zurück ins Wohnzimmer. Das war kein durch Alkohol ausgelöstes Taumeln; ein Gläschen Wein konnte ihm das nicht anhaben. Nein, es war ein Taumeln aus Benommenheit, ein nachschwankendes Schwindelgefühl. Ein Taumeln aus Angst, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmen könnte.
„Samira, das ist aber eine Überraschung.“
Keine Antwort. Nur ein leises Schluchzen.
„Samira?!“
Aus dem Schluchzen wurde Weinen.
„Samira, du bist es doch. Was ist los?“
„Papa.“
„Schatz, was ist los?“
„Marc…“
„Was ist mit Marc?“
„…hat…“
„Ja.“
„…eine andere.“
„Wie bitte?“ Mit einem Schlag waren Borchardts Benommenheit und fremden Empfindungen weggeblasen. „Samira, mein Engel, wieso hat Marc eine andere?“
„Ich habe sie erwischt.“
„Was?“
„Ich könnte dieses Schwein umbringen!“
„Willst du vorbeikommen?“
„Der hat einfach ein andere!“
„Ich bin alleine.“
„Und dann noch das genaue Gegenteil von mir. Irgend so eine blonde Tussi!“
„Samira, du kannst gerne zu mir kommen. Ich bin alleine und habe nichts mehr vor.“
„Ich weiß nicht! Ich bin so sauer, nicht dass ich noch jemanden auf dem Weg umbringe.“
„Ach komm, Samira, wenn du jemanden umbringst, dann ihn. Also, was ist, willst du kommen?“
„Okay, ich bin in spätestens zwei Stunden bei dir.“
Borchardt legte auf und rieb sich durchs Gesicht. Auch wenn er großen Wert darauf lag, Samiras Selbstständigkeit zu unterstützen, hasste er es, wenn sie durch das Fehlverhalten anderer in Probleme geriet. Seine Tochter weinen zu hören, brach ihm das Herz. Dass Marc eine andere hatte, wunderte ihn jedoch nicht. Des Öfteren hatte er ihn schon dabei erwischt, wie er Frauen auf den Hintern starrte und das im Beisein von Samira, die, und das hatte Borchardt stets verärgert, immer so tat, als hätte sie es nicht mitbekommen.
„Was waren das vorhin für Eindrücke am Spiegel, Martin?“
Er ließ die Gedanken an Samira fallen und beobachtete seine Gefühle und ging zurück zum Spiegel und schaute sich aus verschiedenen Abständen inbrünstig an.
„Das kann unmöglich mein Navi gewesen sein. Die Grundstimmung war zu bedrohlich.“
Borchardt ging zurück ins Wohnzimmer und wollte sich gerade auf die Couch setzen und das Geschehene einfach vergessen, als er von einer visuellen Halluzination überfallen wurde. Eine Mischung aus der seitenverkehrten Fratze Nadines und der Leiche in den Heckmann-Höfen erfüllte seine gesamte optische Empfänglichkeit. Als ob er in einen Spielzeugbildbetrachter schaute und das zu betrachtende Bild einfach durch ein anderes ausgetauscht worden war.
Beide Gesichter formierten sich zu einer Einheit. Sie bewegten sich minimal und atmeten. Sie sahen ihn direkt an und blendeten ihn wie die Sonne, in die man nach Tagen der Dunkelheit hineinschaut. Und aus allen Himmelsrichtungen konnte er Nadines Stimme hören. Sie lechzte und schmatzte und sabberte irgendwelche Worte, die sie in einer grauenvollen Situation offenbarten.
Die Räumlichkeit der Wohnung hatte sich aufgelöst. Borchardt befand sich in einer zweidimensionalen Umgebung und nahm sich als einen Bestandteil innerhalb eines Bildes oder Ähnlichem wahr. Sein Blick war nicht mehr in der Lage, in die Ferne zu schweifen. Er konnte nur noch nach rechts, links, oben oder unten sehen. Die Energie seiner Blickrichtung stieß auf ein unüberwindbares Hindernis und koppelte zurück in sein Gehirn. Augenschmerzen, Kopfschmerzen und Übelkeit waren die Folge. Borchardt erschrak wie nie zuvor in seinem Leben, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzuschreien.
Er schrie mit seinem ganzen Körper, mit Leib und Seele. Sein Wachbewusstsein drohte sich aufzulösen, als befände er sich auf einer Metaebene der Existenz. Er konnte zwar noch klar und deutlich seinen Geist wahrnehmen, aber wo waren seine Gedanken hin? Was um Himmels Willen geschah hier um ihn herum? Vom Wohnzimmer war nichts mehr übrig geblieben. Kein Möbelstück, keine Geräusche, keine Energie und kein Geruch. Nur Nadines Fratze und das entstellte Gesicht der Leiche.
„MARTIN, REISS DICH VERDAMMT NOCHMAL ZUSAMMEN! DAS IST NUR EINE HALUZINATION!“
Borchardt verschränkte seine Hände vor seinem Gesicht, um sich vor dem Bild zu verstecken, konnte aber seine Hände und Arme nicht mehr sehen, obwohl er sie noch spürte. Dann schloss er instinktiv seine Augen und drückte sie feste zu. Ganz allmählich löste sich das Bild in unzählig kleine weiße Punkte auf, die sich zu einem neuen Galaxie ähnlichem Gebilde formierten. Er presste mit den Handballen feste gegen seine Augen, bis sich die Galaxie in ein komplett weißes Bild verwandelte, dessen Strahlkraft ihn trotz geschlossener Augen blendete. Er drückte weiter und noch ein bisschen weiter, bis sich ein Schmerz einstellte, der ihn letztendlich zwang, die Augen aufzureißen.
Langsam verschwand das grelle Weiß in den Hintergrund, und er blickte mitten in sein Wohnzimmer, als sei nichts geschehen. Alles Erlebte war wie weggeblasen.
Wenn man aus einem Traum erwacht, dann fließen die im Traum erlebten Emotionen mit in den Wachzustand. Man ist längst wach und der Traum vergangen, die Traumemotionen aber sind noch im vollen Umfang und manchmal für Tage präsent. Hier und jetzt erfuhr Borchardt das genaue Gegenteil. Er konnte sich deutlich an das Erlebte erinnern, ein emotionaler Nachhall hingegen war nicht ansatzweise vorhanden.