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Der Bahnfahrer hatte von all dem nichts mitbekommen und setzte den Zug wieder in Gang, als sei nichts geschehen. Innen war es jetzt relativ leer. Nur noch knapp fünfzig Fahrgäste, die sich aufgeregt miteinander unterhielten.

Borchardt kam sich vor wie in einem schlechten Film. Wie gerne hätte er der Obdachlosen geholfen, und wie unfähig war er letzten Endes gewesen, es zu tun. Zuerst die Leiche heute Morgen, dann der Traum mit Nadine und jetzt noch so etwas. Trotzdem ging er entschlossen ans Ende des Wagens und blickte durch die verkratzte Scheibe in den anderen Wagen, in dem der Typ auf einem der klappbaren Sitze saß und weiter unbekümmert auf seinem Handy rumtippte.

Was für ein mieser Zeitgenosse, dachte Borchardt, als ihm der Gedanke kam, hier und jetzt ein Foto von ihm zu machen. Er nahm sein Handy und zoomte den Typen so nah wie möglich aufs Display. Dieser starrte immer noch wie besessen auf sein Smartphone und bot nur ein unnützes Seitenprofilfoto.

Borchardt blieb nichts anderes übrig, als auf eine Technik zurückzugreifen, die er ungern anwandte, da sie zur Kunst der Menschenbeeinflussung gehörte, was er aus ethischen Gründen verwerflich fand. Er hatte sie vor vielen Jahren unter der Anleitung von seinem Freund Theodor - Gründer und Leiter des Instituts für parapsychologische Phänomene in Darmstadt - tiefer erforscht und verfeinert.

Diese Technik ist eine Mischung aus Gedankenübertragung, Visualisierung und peripherem Sehen. Zunächst musste Borchardt das Gesicht des Typen fixieren, dann den Blick auf das Display richten, ohne den realen ersten Blickkontakt zu unterbrechen. Somit hatte er den Typen zweifach visuell erfasst - einmal peripher durch die Scheibe und direkt auf seinem Handy. Sein Hauptaugenmerk blieb auf dem Display.

Nun wiederholte er innerlich immer wieder: „Du drehst dich in meine Richtung, ohne mich wahrzunehmen.“ Zeitgleich musste er sich nur noch vorstellen, wie der Typ mit seinem Profil auf dem Display erscheint und diese Vorstellung mit einem Gefühl der freudigen Erwartung aufladen.

Und Sekunden später drehte sich der Bodybuilder tatsächlich in die vorgeschriebene Richtung, und Borchardt konnte ein exzellentes Profilfoto machen, welches er an Tomas weiterleitete, mit der Bitte um einen Datenbankabgleich.

Er stellte sich leicht abseits, sodass er den Typen nur noch zur Hälfte sehen konnte und lehnte sich erschöpft an die Wand. Endlich konnte er sich von seinem Sommersakko befreien, seine Hemdärmel hochkrempeln und tief durchatmen. In seinem Sakko griff er nach einem Papiertaschentuch und wischte sich den angesammelten Schweiß vom Gesicht.

Kurz darauf erreichten sie Ostbahnhof. Der Typ blieb sitzen. Borchardt atmete erneut tief durch und checkte sein Handy. Das Foto war übermittelt worden. Und erstmals seit der Verfolgungsaufnahme konnte er reflektieren, was alles geschehen war.

Obwohl der Tag bis jetzt ein einziger Trip gewesen ist, so drängte sich nur ein Geschehen in den Vordergrund seines Interesses: der Traum. Er hatte schon mehrere Jahre nicht mehr von Nadine geträumt. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Dann fiel ihm der Zettel mit den Traumnotizen ein und warf einen kurzen Blick darauf. Borchardt wusste, dass es sich um einen sogenannten präkognitiven Traum handeln musste - einen weg- und zukunftsweisenden Traum. Allerdings, und das ist untypisch für zukunftsweisende Träume, war er symbollastig und bedrohlich. In der Praxis sind es vorwiegend die Komplexträume, die einen hohen Anteil verschlüsselter Symbole aufweisen und auf den Träumer beunruhigend wirken. In diesem Traum ging es jedoch nicht um die Aufarbeitung eines sich in archetypischen Bildern ausdrückenden innerseelischen Konfliktes, sondern um einen Hinweis. Vielleicht sogar um eine Warnung.

Am S-Bahnhof „Warschauer Straße“ stieg der Muskelprotz dann aus, und Borchardt blieb ihm dicht auf den Fersen. Am Treppenaufgang fiel Borchardt sofort ein anderer aus demselben Holz geschnitzter Typ auf, der weniger Angst einflößend und eine insgesamt kleinere Erscheinung war. Beide Glatzköpfe umarmten sich und marschierten Richtung Warschauer Brücke.

Traumgleiter

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