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Wäre Eduard gefragt worden, dann hätte er sich gegen seine Eltern entschieden. Die beiden waren das Kaputteste, was die damalige Welt zu bieten hatte. Sie hatten sich während dieser schmierigen sadomasochistischen Low-Budget Filmproduktionen Ende der 80er Jahre kennengelernt. Sie waren die Hauptdarsteller.

Ursula war die Tochter eines Junkie-Pärchens, das, als sie zarte sieben Jahre alt war, vor ihren Augen an einer Überdosis Heroin elendig krepierte. Franz war das Kind eines miesen Hamburger Zuhälters, der eine seiner Flittchen ungeschützt mehrfach strafvergewaltigte und dann untertauchte. Das Flittchen wollte nicht abtreiben und verstarb während Franz‘ Geburt an einem Herzstillstand. Franz kam ins Waisenhaus. Ursula kam ins Waisenhaus. Sie wurde sadistisch. Er wurde masochistisch. Ihre Lebensläufe waren eine Aneinanderreihung unvorstellbarer Traumata, die von einem Albtraum zum nächsten führten und beide zusammenbringen mussten.

Franz sah in Ursula die perfekte Brücke zu seinem ausgeprägten Masochismus und seinem aufkeimenden Interesse an Sadismus. Und so trug es sich zu, dass sich beide nach dutzenden unter Einfluss von Drogencocktails gedrehten Pornofilmen und enthemmten Partys als spießbürgerliches Paar getarnt niederließen. Hier und da mal eine Produktion, falls das Geld nicht ausreichte. Hier und da mal zugeballerte Abende, um ihren seelischen Müll zu vergraben. Ansonsten ein unauffälliges Leben zu führen, um ihrer mittlerweile gemeinsamen Passion - dem Sadismus - die höchste Aufmerksamkeit zu widmen und die wohl teuflischste Idee, die je ein Mensch auf Erden hatte, zu gebären. Sie gebaren Eduard zugunsten eines Experiments: Was geschieht mit einem Menschen, den man von Geburt an bewusst psychisch misshandelt? Und nur einer konnte diese Frage beantworten: Eduard selbst.

Leider bescherte Eduard Ursula einen Kaiserschnitt. Er wollte einfach nicht geboren werden. Und dieser Kaiserschnitt war das Letzte, was passieren durfte, denn er minderte Ursulas Marktwert. Das entfachte ihre blanke Wut, was wiederum ein passender Katalysator war, das Experiment mit Nachdruck durchzuführen. Franz war empört und versprach Ursula entsprechende Konsequenzen. Und diese bekam das Neugeborene unverblümt zu spüren: kein Bett im Schlafzimmer seiner Eltern. Kein Lächeln. Kein Streicheln. Minimaler Blickkontakt. Kein Reagieren auf sein Schreien und Weinen. Stundenlanges allein lassen. Und jedes Mal, wenn Eduard in die Windeln machte, schimpfte Franz ihn brüllend aus. Ursula war begeistert. Schwere körperliche Misshandlungen waren allerdings tabu. Zum einen wollten sie keine sichtbaren Beweise hinterlassen, zum anderen war die Seele das Ziel. Daher gab es nur jede Nacht, immer wenn Eduard tief schlief, eine gezielte Backpfeife, die ihn aus dem Schlaf riss und verängstigt im dunklen Zimmer allein zurückließ.

Ja, Franz‘ und Ursulas Schöpferkräfte waren immens. Sie zogen das Ding durch - eiskalt, ohne Wenn und Aber. Und bis zum Ende seines ersten Lebensjahres hielten sie eisern an ihrer Strategie fest. Hinzu kamen die gänzlich missachteten ersten Geh- und Sprechversuche Eduards. Auch hier wandte Franz seine Beschimpfungs- und Einschüchterungsmethode an. Und die Backpfeife wurde jetzt zu jeder Schlafenszeit eingesetzt.

Die erste Hälfte des zweiten Lebensjahres verlief ähnlich. Eduard konnte zwar schon aufrecht gehen, es schien aber eher ein unterentwickeltes Daherschleichen zu sein, als ob er sich schämte, sich zu bewegen. Auch sein Sprechen wies beginnende Anzeichen einer Fehlentwicklung auf.

Und mit anderthalb Jahren zeigte Eduard erste motorische Defizite und Verhaltensauffälligkeiten. Ursula und Franz betrachteten das als Zwischenerfolg. Aber das reichte ihnen nicht. Sie ließen Eduard von da an als Zuschauer an ihren privaten sadomasochistischen Praktiken teilnehmen und verhielten sich absichtlich abartig und angsteinflößend.

Am Ende seines zweiten Lebensjahres hatte Eduard nach wie vor kein einziges Lächeln seiner Umwelt empfangen. Gelegentliche Albträume quälten ihn. Er war zu einem in sich zurückgezogenen, verunsicherten und ängstlichen Kleinkind herangewachsen, das sich nicht traute, zu sprechen.

Und dann im Alter von zweieinhalb Jahren kamen Ursula und Franz zu einer Strategiebesprechung zusammen. Es wurde Zeit, sich Gedanken zu machen, inwieweit ihre Herangehensweise dem fortgeschrittenen Alter des Probanden angepasst werden musste. Immerhin wuchs Eduards Bewusstsein und damit auch die Gefahr, zu einem Risiko zu werden. Immerhin fand alles unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Sie hatten Eduard weitestgehend von der Außenwelt abgekapselt und bewusst Spielplätze und andere öffentliche Plätze gemieden. Die Nachbarn hielten sie zwar für eine sonderbare dennoch normale Familie. Und die Fehlentwicklungen Eduards hätte man als unverschuldet verkaufen können. Aber das Risiko, dass er ihnen doch noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte, war zu groß geworden. Somit stellten sie ihre Perversionen vor seinen unschuldigen Augen ein und taten so, als hätten diese nie stattgefunden.

Und kurz vor Vollendung seines dritten Lebensjahres entschlossen sich Ursula und Franz kurzerhand, eine Filmproduktionsfirma zu gründen. Die Perversion hatte mittlerweile ihre Gemüter und Leiber unheilbar befallen. Ihren Organismen wohnte nichts Göttliches mehr inne, sodass sie dem Druck, noch tiefer im Sumpf des Abartigen zu versinken, nicht mehr standhalten konnten. Sie mussten sich austoben. Und das um jeden Preis; auch wenn sie dabei draufgingen. Und Eduard stand ihnen im Weg.

Wie gerne hätten sie ihn jetzt einfach entsorgt. Aber wie hätten sie dann sein plötzliches Verschwinden gerechtfertigt? Von welcher Seite sie die Situation auch betrachteten, sie konnten ihn nicht einfach so loswerden. Ihre leidenschaftliche Liebe zum Experiment schlug in blanken Hass um. Wie konnten sie nur so dumm gewesen sein? Wie konnten sie sich nur darauf eingelassen haben? Jetzt hatten sie die einmalige Möglichkeit, mithilfe eines perversen Geldgebers eine Pornoproduktionsfirma aufzubauen und dieses kleine Stück Dreck passte nicht in deren neuen Pläne.

Zähneknirschend einigten sie sich auf einen Kompromiss: ein Kindergarten musste her. Sie würden Eduard nach außen hin freundlich, liebenswert, zugewandt, hilfsbereit und verständnisvoll begegnen, insoweit sie dazu überhaupt in der Lage waren, und ihn hinter verschlossenen Türen weiterhin lieblos und verachtend behandeln.

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