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Fünfundvierzig

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Heute Morgen macht Matthias wie immer seine Übungen. Mit der Konzentration eines Hexenmeisters vollführt er eine Abfolge ruckartiger Bewegungen und ausladender Dehnungen. Manchmal verharrt er mehrere Minuten in einer bestimmten Position. Seine Ruhe ist kraftvoll, tief. Aber meist reiht er unter lautem Atmen eine Bewegung an die andere. Er beugt sich vor, richtet sich auf, verdreht sich. Seine Gesten sind groß und geschmeidig. Im Ausatmen tönt die Kraft seines Zwerchfells. Er sieht aus, als kämpfte er in Zeitlupe, gegen einen Fremden, einen Bären, ein Monster. Irgendwann, unvermittelt, beendet er die Übungen, richtet sich triumphierend auf, beginnt den Tag.

Es ist schon seit einer ganzen Weile hell, aber die Sonne lugt kaum über die Baumwipfel. Nur hier und da dringen Lichtstrahlen durchs Unterholz. Mit dem Fernrohr suche ich die Umgebung ab. Im Schnee gibt es, abgesehen von Matthias schweren Abdrücken und den Hüpfern eines Eichhörnchens, keine Spuren. Die anderen Tiere haben sich in den Wald zurückgezogen. Führen dort, abseits der menschlichen Blicke, ihren Überlebenskampf.

Matthias kocht Kaffee. Weil das Pulver langsam zur Neige geht, mischt er unter jeden Löffel frischen Kaffee zwei Löffel Kaffeesatz.

Als man mich hierhergebracht hat, war er auch gerade dabei, Kaffee zu kochen. Meine Erinnerung an den Duft, der den Raum erfüllte, ist seltsam eindringlich. Als Matthias die Tür öffnete, stand vor ihm im Regen die Tierärztin. Dahinter der Patrouillenmann und der Apotheker mit der Bahre, auf der ich lag. Matthias bat sie alle herein und servierte Kaffee.

Das Fieber und die Antibiotika hatten mich in eine Lethargie versetzt. Kein Schlaf, aber ein Dämmerzustand irgendwo zwischen Wachtraum und Koma. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen, aber alles hören.

Wer ist das?, fragte Matthias und beugte sich über mich.

Der Sohn des Automechanikers, antwortete die Tierärztin. Er hatte einen Unfall.

Der Patrouillenmann sah sich im Raum um. Ein Holzofen, ein Schaukelstuhl, ein Tisch, ein Sofa. Vor dem Fenster ein schmales Bett.

Sie haben es ja gemütlich hier, bemerkte er.

Als ich hier ankam, stand das Haus leer. Ich bin in die Veranda gezogen, so lange bis …

Bis was?

Matthias zögerte.

Bis meine Nachbarin mich abholt, sagte er schließlich. Es dauert, aber sie wird kommen. Ganz sicher. Sie weiß, dass ich zurück in die Stadt muss. Sie versteht meine Lage.

Der Patrouillenmann rieb sich das Kinn.

Das sagen Sie schon eine ganze Weile, oder? Warum wollen Sie denn unbedingt zurück in die Stadt? Schon unter normalen Umständen dauert die Fahrt acht Stunden, aber jetzt, wo der Strom ausgefallen ist, kann man nicht einfach ins Auto steigen und losfahren. Überall sind Straßensperren. Kriminelle und bewaffnete Gruppen machen die Gegend unsicher. Ich habe gehört, in der Stadt herrscht Chaos, kaputte Autos stehen auf den Kreuzungen, Geschäfte werden geplündert, die Leute fliehen aufs Land. Vielleicht hat etwas oder jemand Ihre Nachbarin aufgehalten, sagte der Patrouillenmann. Er wog seine Worte sorgfältig ab.

Sie wird kommen, beharrte Matthias. Sie wird kommen.

Und was, wenn nicht? Was haben Sie dann vor? Vielleicht einen Transporter stehlen?

Matthias starrte in seine Tasse.

Es gibt nirgends mehr Sprit, das dürfte Ihnen doch klar sein.

Ich muss zurück in die Stadt, wiederholte Matthias.

Dann schwiegen sie, glaube ich, eine ganze Weile, als hätten sie einander nichts mehr zu sagen. Schließlich ergriff der Patrouillenmann noch einmal das Wort.

Wir haben Glück im Unglück, unser Dorf liegt mitten im Wald. Der Stromausfall macht es uns nicht leicht, aber wenigstens haben wir die Lage unter Kontrolle. Wir bewachen den Ortseingang, wir rationieren unsere Vorräte, wir helfen uns gegenseitig.

Matthias reagierte nicht, er wartete darauf, dass der Mann weitersprach.

Wissen Sie, einige von den Leuten hier überlegen, eine Expedition zu machen, falls der Strom nicht wiederkommt. Um Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Sie wollen in die Dörfer an der Küste fahren und von da weiter in die Stadt. Wollen nach Familienmitgliedern suchen, die dort leben. Verständlich, wenn man schon länger nichts von ihnen gehört hat.

Der Patrouillenmann hielt inne und warf einen Blick in meine Richtung. Ich weiß noch, wie ich mich konzentrieren musste, um durch den Medikamentennebel mitzubekommen, was um mich herum geschah.

Ich habe einen Vorschlag, fuhr der Patrouillenmann fort. Sie kümmern sich um den Verletzten, und wir reservieren Ihnen einen Platz in dem Konvoi in die Stadt. Und bis dahin bekommen Sie die doppelte Lebensmittelration. Die sollte für Sie beide reichen. Und Sie müssen Ihre Ration auch nicht mehr unten im Dorf abholen, ich bringe alles her.

Matthias sah aus dem Fenster.

Ich muss vor dem Winter zurück in die Stadt.

Das verstehe ich ja, sagte der Patrouillenmann, aber es dauert, so eine Expedition vorzubereiten. Wir müssen Benzin organisieren, Essensvorräte, die nötige Ausrüstung. Wir müssen auf Nummer sicher gehen und uns gut überlegen, welche Route wir nehmen. Auf keinen Fall darf uns der Wintereinbruch überraschen, vor allem, weil keine Schneepflüge mehr fahren.

Und wann soll es losgehen?

Im Frühjahr.

Erst im Frühjahr?, murmelte Matthias.

Ja. Sobald die Straßen passierbar sind.

Das ist zu spät, klagte Matthias. So lang warten kann ich nicht.

Bleiben Sie hier und kümmern Sie sich um den Verletzten. Das ist Ihr Beitrag. Damit sichern Sie sich einen Platz im Konvoi.

Der Typ ist aber ganz schön mitgenommen, knurrte Matthias und musterte meine geschienten Beine.

Ja, aber er wird durchkommen.

Meinen Sie?, fragte Matthias mit hochgezogenen Brauen.

Die Tierärztin wollte sich einmischen, doch der Apotheker bedeutete ihr zu schweigen. Matthias ging in der Veranda auf und ab.

Und was ist mit Feuerholz?

Darum kümmere ich mich auch, versicherte der Patrouillenmann. Ich bringe Ihnen alles, was Sie brauchen.

Matthias dachte nach.

Und ich werde einmal die Woche vorbeikommen, ergänzte die Tierärztin, um nach ihm zu sehen und Ihnen mit den Verbänden zu helfen.

Matthias nickte.

Sie können ihn da drüben hinlegen, sagte er widerstrebend und wies auf das Bett am Fenster. Dann schlafe ich auf dem Sofa.

Der Patrouillenmann und der Apotheker trugen mich zu dem Bett.

Ich schlage vor, sagte die Tierärztin, dass wir seinen Verband jetzt wechseln. Dann kann ich gleich zeigen, wie das geht.

Der Apotheker zog Verbandszeug und mehrere Tablettendosen aus seiner Tasche. Der Patrouillenmann setzte sich auf den Hocker am Eingang und zündete eine Zigarette an.

Spricht er nicht?, fragte Matthias.

Bisher nicht, antwortete der Patrouillenmann, aber wissen Sie, nach dem Unfall und bei den ganzen Medikamenten ist das normal. Der Tod seines Vaters muss ihn auch ziemlich mitgenommen haben. Vermute ich. Geben Sie ihm etwas Zeit.

Als die Tierärztin sicher war, dass Matthias ihre Anweisungen verstanden hatte, zurrten sie die Schienen wieder fest und warfen die blutdurchtränkten Verbände in den Ofen.

Sollte die Salbe nicht reichen, erklärte die Tierärztin, streuen Sie Zucker auf die Wunden. Das wirkt entzündungshemmend. Und vergessen Sie bloß nicht seine Antibiotika.

Wir lassen Ihnen auch Schmerztabletten da, fügte der Apotheker hinzu, falls er vor Schmerzen schreit.

Der Patrouillenmann bedankte sich bei Matthias und bedeutete den beiden anderen, dass sie schon vorgehen sollten. Als er selbst durch die Tür trat, legte ihm Matthias eine Hand auf die Schulter.

Und was, wenn er’s nicht schafft?

Dann holen Sie uns so schnell wie möglich. Vergessen Sie nicht, sein Leben liegt in Ihrer Hand.

Ich werde mein Bestes tun, stammelte Matthias.

Das wird schon, machen Sie sich keine Sorgen. Ich komme in ein paar Tagen wieder vorbei, mit Feuerholz und Lebensmitteln.

Wie war noch mal Ihr Name?, fragte Matthias.

Joseph. Und das da sind Maria und ihr Mann José. Er zeigte in Richtung der Tierärztin und des Apothekers.

Als Joseph gegangen war, blieb Matthias noch lange in der Tür stehen.

Maria, stimmt, sie heißt Maria, dachte ich, bevor ich wieder im Nebel versank.

Das Gewicht von Schnee

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