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Sechsundfünfzig

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Heute ist es bedeckt, und die Bäume sind zusammengerückt. Das Barometer zeigt nach unten. Vielleicht ein aufkommender Schneesturm. Schwer zu sagen, denn wenn sich der Himmel verdunkelt, glaubt man immer, dass ein Schneesturm heraufzieht. Aber noch hüpfen die Meisen zwitschernd am Fuße der Bäume herum. Als ein Blauhäher auftaucht, flattern sie davon. Sobald er weiterfliegt, kehren sie eine nach der anderen zurück.

Matthias bringt mir eine Schüssel Suppe, ein Stück Schwarzbrot und ein paar Tabletten. Er setzt sich an den Tisch und senkt einen Moment lang den Kopf, während ich schon den ersten Löffel nehme. Nach dem Essen macht er eine Bestandsaufnahme unserer Lebensmittel und beugt sich minutenlang über die offene Bodenluke. Danach trägt er mich zum Sofa, um die Bettwäsche zu wechseln. Er packt mich unter den Achseln und hebt mich hoch. Meine Beine baumeln hin und her wie die einer Marionette.

Vom Sofa aus betrachte ich Matthias’ Silhouette im Gegenlicht. Er packt das Laken, reißt die Arme hoch, das sich bauschende Tuch sinkt langsam wieder herab. Wie ein Fallschirm. Ich höre ihn vor sich hinmurmeln, brummeln, grummeln. Ich glaube, er redet mit mir, allerdings ohne richtig zu artikulieren, so als blieben seine Worte zwischen den Zähnen stecken. Von den Medikamenten werden mir die Lider schwer, aber seltsamerweise wird seine Stimme dadurch klarer. Als spräche er im Schlaf zu mir. Als vermischten seine Sätze sich mit meinen Träumen. Als wollte er in meinen Kopf eindringen. Und mich mit einem Fluch belegen.

Bevor es angefangen hat zu schneien, wolltest du nichts essen, jetzt schlingst du alles hinunter. Wie ein Schwein. Ich hatte in letzter Zeit oft Angst, dass dich das Fieber umbringt. Aber du hast jeden Schub überstanden. Du hast meine Pläne durchkreuzt, du bist mir ein Klotz am Bein. Aber du bist auch die Lösung für mein Problem. Mein Weg zurück nach Hause. Und obwohl du dir nichts anmerken lässt, weiß ich, dass du dich verzweifelt an jedes meiner Worte klammerst. Den Schmerz erträgst du ganz gut, aber du hast Angst vor dem, was auf dich zukommt. Also erzähle ich dir was. Egal was. Erinnerungsfetzen, Geistergeschichten, Ausgedachtes. Jedes Mal leuchtet dein Gesicht auf. Nicht viel, aber ein bisschen. Und abends erzähle ich dir von den Büchern, die ich lese. Manchmal geht das bis zum frühen Morgen. Zum Beispiel von dem Buch, das ich gerade zu Ende gelesen habe. Das von den ineinander verwobenen Geschichten, die tausend und eine Nacht dauern. Ich stamme aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit, das weißt du, das merkt man mir an. Uns trennt eine ganze Generation, aber der mürrische, starrsinnige Alte, das bist eher du. Wir leben beide in den Trümmern unserer Existenz, aber anders als du bin ich nicht verstockt. Die Sprache ist meine Überlebensstrategie, mein Trick siebzehn, mein Hoffnungsschimmer. Willst du dich etwa mit mir messen? Soll das hier ein Wettstreit sein? Zwischen uns beiden? Du kannst es mit mir doch gar nicht aufnehmen. Schweig weiter, wenn du unbedingt willst. Bleib weiterhin stumm, wenn du es aushältst, mir ist das egal. Du bist mir ausgeliefert. Ich müsste mich nur auf dein Spiel einlassen und ebenfalls schweigen, dann würdest du schnell in den Falten deiner Bettwäsche versinken. Du willst, dass die Zeit vergeht, aber hast gleichzeitig Angst davor. Am liebsten würdest du dich selbst gesund pflegen, aber das geht nicht. Du bist ans Bett gefesselt. Du bist im Dunkeln gefangen. Du schaffst nicht mal die einfachsten Bewegungen. Und du bist ein Jammerlappen. Du kannst dich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass dein noch junger Körper hinüber ist, zerstört, ein Wrack. Du misstraust mir, das weiß ich, auch wenn du inzwischen akzeptiert hast, dass ich mich um dich kümmere. Und du beneidest mich. Weil ich stehen und laufen kann. Sieh mich an. Hör mir zu. Ich stehe. Sieh mich an, ich bin doppelt so alt wie du, aber meine Beine tragen mich.

Matthias macht eine Pause. Ich höre ihn näher kommen.

Seit es angefangen hat zu schneien, stöhnst du manchmal im Fieber oder murmelst vor dich hin, und immer mal wieder stammelst du ein, zwei Worte. Das ist natürlich kein Gespräch, aber ich nehme, was ich kriegen kann. In meinem Alter ist so ein kleiner Selbstbetrug nicht weiter schlimm. Phantasie zu haben, ist eine große Stärke. Sieh dich um, sieh dich noch mal um, sieh dich ganz genau um, es schneit, und wir merken nicht, wie die Zeit vergeht. Bald, und ich sage »bald«, um nicht »später« sagen zu müssen, »sehr viel später«, wirst du wieder stehen können. Du wirst dich an mir festhalten, wirst einen Fuß vor den anderen setzen, und irgendwann wirst du allein vom Bett zum Sofa gehen. Vom Sofa zum Stuhl. Vom Stuhl zum Ofen. Du wirst die Tür im Blick haben und ihr jeden Tag ein Stück näher kommen. Du wirst deine Worte abwägen, ohne sie auszusprechen. Du wirst die Härte des Winters spüren und den Zauber des Neuschnees verfluchen. Du wirst deine Wunden, das Ausmaß unserer Einsamkeit, die Trägheit des Frühlings und unsere Lebensmittelvorräte miteinander verrechnen. Du wirst mir zuhören, ohne dass ich es merke, und nicht verstehen, wie du es geschafft hast, dem Tod zu entrinnen. Bald, und ich sage »bald«, um nicht »jetzt« sagen zu müssen, bald werde ich nicht mehr die Kraft haben, für zwei zu kämpfen. Ich werde mich nicht mehr hinter meiner Langsamkeit oder irgendwelchen zusammengeklaubten Hoffnungen verstecken können. Aber ich werde so tun als ob. Und ich werde weiterhin daran glauben, dass du gesund wirst, dass die Tage länger werden und dass der Schnee irgendwann schmilzt. Ich werde weiterhin den Funkenschlag der Schmiede heraufbeschwören, die aus dem Boden schießende Stadt, das Lachen meiner Frau. Ich werde dir noch viele Geschichten erzählen und mir notfalls welche ausdenken. Wir haben keine Wahl, denn nur so können wir bewältigen, was auf uns zukommt. Mach dir keine Sorgen. Ich werde hierbleiben und mich weiter um dich kümmern. Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen, ich werde so tun als ob. Nur so können wir überleben.

Das Gewicht von Schnee

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