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Fünfundvierzig

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Ich bin allein. Matthias ist mit seinen Schneeschuhen nach draußen gegangen. Ich ziehe an der abgenutzten Patchworkdecke, die meine Füße bedeckt. Meine kilometerweit entfernten Zehen am Fußende sind lila, aber sie wackeln. Wegen der Schienen sind sie das Einzige, das ich bewegen kann.

Der Schmerz quält mich immer noch, aber wenigstens sind die Fieberschübe vorbei. Ich schrecke nicht mehr keuchend hoch und frage mich, wo ich bin. Mittlerweile kenne ich den Raum, den Blick aus dem Fenster neben meinem Bett. Matthias’ Gesicht. Wenn ich die Augen öffne, weiß ich, wo ich bin, wer ich bin und was mich erwartet.

Kurz nach meiner Ankunft hier bekam ich Fieber und begann mit den Zähnen zu klappern. Matthias wachte an meinem Bett. Er wechselte meine Verbände und die schweißgetränkten Laken. Er trocknete mir das Gesicht und den Hals und machte mir kalte Umschläge. Er redete auch mit mir. Ich habe keine Ahnung, was er da erzählte, einen Haufen Geschichten, alle möglichen Abenteuer, es hörte sich an wie die Odyssee eines Mannes, der nach zwanzig Jahren in die Heimat zurückkehren will, aber von einem rachsüchtigen Gott daran gehindert wird. Im Morgengrauen verstummte er und legte sich zum Schlafen auf das Sofa. Wenn er wenig später wieder aufstand, hob er meinen Kopf an, gab mir etwas zu trinken und verabreichte mir mehrere Tabletten. In den verschiedensten Farben. Tagsüber kämpfte ich gegen einen unsichtbaren Abgrund an. Nachts schlief ich mit offenen Augen. Wie ein Toter.

Meistens träumte ich, dass ich vor etwas wegrenne. So schnell ich kann, durch die Gänge eines Labyrinths. Egal, wohin ich abbiege, immer ist da ein roter Faden auf dem Boden. Eine Bestie verfolgt mich. Ich kann sie nicht sehen, aber sie ist da, hinter mir. Ich höre ihren keuchenden Atem und das Trommeln ihrer Schritte. Sie ist mir dicht auf den Fersen. Schnappt mit ihren Fängen nach mir, will mir die Beine ausreißen. Ich renne weiter und weiter. Ich träume, ohne mich umzudrehen.

Als mein Fieber weiter stieg, muss ich das Bewusstsein verloren haben, denn ich erinnere mich, dass ich irgendwann keuchend in Matthias’ Arm aufwachte. Wir befanden uns draußen, im strömenden Regen. Mein Körper glühte, und der kalte Regen half mir, zu Sinnen zu kommen, wie ein Eisbad. Nachdem ich wieder bei mir war, hob Matthias den Blick zum Himmel, als wäre auch er errettet worden. Der Regen lief ihm übers Gesicht, das Haar klebte ihm an der Stirn. Dann trug er mich nach drinnen. Mit Müh und Not. Wir waren klatschnass, und ich konnte mich kaum an seinem Hals festhalten. Als er mich aufs Bett legte, hatte ich das Gefühl, in der Matratze zu versinken, so schwach war ich. Und Matthias musste sich auf seine Knie stützen, um wieder zu Atem zu kommen.

In den nächsten Tagen ging das Fieber langsam zurück, mein Zustand stabilisierte sich. Eine Zeit lang spürte ich nichts mehr, abgesehen von einem leichten Kribbeln in den Beinen. Dann aber kehrte der Schmerz zurück, stechend, mit voller Wucht. Als bohrten sich Tausende Nägel von innen in meine Haut, in meine Wirbelsäule, in meine Handflächen, in meine Füße. Als wäre ich am Bett festgenagelt. Ein schwarzer, kalter Schmerz, der mich fürchten ließ, ich könnte vielleicht nie wieder laufen.

Die Tabletten, die Matthias mir gab, dämpften den Schmerz, aber sie wirkten immer nur für wenige Stunden. Manchmal massierte Matthias mir die Beine. Er setzte sich auf die Bettkante, wickelte den blutdurchtränkten Mull ab, säuberte meine Wunden und bearbeitete meine Oberschenkel, Waden und Füße. Ich wurde nicht gern wie sein Teig geknetet. Aber er achtete immer sorgfältig darauf, meinen Wunden nicht zu nah zu kommen. Mit jeder Behandlung ging die Schwellung zurück, und ich fror nicht mehr ganz so sehr.

Ich wackle wieder mit den Zehen am anderen Ende meines Körpers. Ich glaube, meine Brüche wachsen langsam zusammen, die Wunden heilen, das Penicillin tut seine Arbeit. Aber der Schmerz ist hartnäckig, ausdauernd, unerbittlich. Mit einem Ruck ziehe ich die Decke wieder über meine Beine. Die Schienen bestehen aus Holzlatten und angenagelten alten Gürteln. An der einen Latte sind Sägespuren zu sehen. An der anderen der Abdruck eines Scharniers, das mit einem Hammer abgeschlagen worden ist. Man könnte mich für ein Ungeheuer halten, aus Holzlatten, Nägeln und Fleischfetzen. Aber die Schienen sind besser als nichts.

Das nächste Krankenhaus ist weit weg. Unerreichbar.

Das Gewicht von Schnee

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