Читать книгу Die Wiener Philharmoniker - Christian Merlin - Страница 10
Erster Konflikt mit dem Dirigenten
ОглавлениеDie Tatsache, dass der Dirigent das letzte Wort behielt, war nicht nur ein Hinweis auf den jähzornigen Charakter Otto Nicolais – Kehrseite seines leidenschaftlichen Engagements –, sondern auch der erste konkrete Ausdruck eines kulturellen Gegensatzes, der sich im Lauf der Geschichte des Orchesters öfter wiederholen sollte: jener zwischen preußischer und österreichischer Mentalität, wie sie nationale Klischees und sozialpsychologische Stereotype konzeptualisiert haben. Nicolai, der Georg Hellmesberger vorwarf, sich von seinem Hornkollegen nicht distanziert zu haben, hatte in der Tat nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem Orchesterdirektor, den er zwar für rechtschaffen und pflichtbewusst, aber als Künstler für zu nachlässig und gemütlich hielt.
Die Demokratie bei den Philharmonikern steckte damals noch in den Kinderschuhen, denn das Komitee stand unter dem Einfluss des Dirigenten. Erst später erkämpften sich die Philharmoniker mehr Unabhängigkeit und wählten aus ihrer Mitte Funktionäre mit genügend Rückgrat, um ihre Entscheidungen durchzusetzen. Ein Vorfall ist typisch für diese ersten Versuche: Als 1843 der Geiger Friedrich Brandstetter starb, schlugen die Philharmoniker vor, den Einnahmeüberschuss aus dem Konzert vom 22. April 1843 seiner Witwe zukommen zu lassen. Aber Nicolai antwortete, das sei seine Entscheidung und nicht die des Orchesters: Tatsächlich zahlte er später dem Bratschisten Mathias Meyer 25 Gulden und 37 Kreuzer aus, damit dieser das Geld der Witwe Brandstetters übergeben konnte. Doch die Beziehungen zwischen Nicolai und den Musikern waren seit dem Vorfall mit Lewy vergiftet.
Als Nicolai 1845 aus gesundheitlichen Gründen Konzerte absagen oder verschieben musste, mischte sich auch die Presse ein. Ein Artikel vom 27. Februar im Spiegel verkündete gar das Ende der philharmonischen Konzerte in Wien und berichtete über die »kleinlichsten Streitereien« zwischen dem Direktor und dem Orchester, dessen Mitglieder als »ungeratene Söhne« präsentiert wurden. In seiner Antwort vom 11. März stellte Nicolai bedauernd fest, eine solche journalistische Darstellung gösse nur Öl ins Feuer, versuchte, die Lage zu entschärfen, und hob wiederholt seine gute Beziehung mit dem »Orchesterpersonal« hervor, an dessen »Spitze er stehe«8. Anscheinend vergaß er bei seiner ungeschickten Formulierung, dass die Mitglieder des Orchesters keine Untergebenen waren, sondern dass er von ihnen gewählt worden war. Die Antwort des Orchesters ließ nicht lange auf sich warten: Der tschechische Solocellist Ägid Borzaga stellte klar, dass der wahre Verantwortliche für die momentane Situation Nicolai sei, der mithilfe seiner Anhänger überall verkünde, das Orchester könne ohne ihn nicht spielen. Das Streben nach Autonomie im Orchester war nicht mehr aufzuhalten. Dafür spricht auch ein weiterer Vorfall im Februar 1845: Nicolai wurde krank und musste darauf verzichten, das März-Konzert zu dirigieren. Zu seinem großen Ärger sagte das Orchester das Konzert nicht ab, sondern spielte unter dem Dirigat Georg Hellmesbergers, der damit seinem Titel als Orchesterdirektor gerecht wurde. Nicolai interpretierte das Geschehen in seinem Tagebuch folgendermaßen: »Auch war das Orchester verbittert, dass die Journale mir, dem Direktor, wegen der Vorzüglichkeit der Philharmonischen Konzerte immer ausschliesslich Weihrauch gestreut hatten, und es wollte beweisen, dass sie, die Mitglieder, die Konzerte eben so gut ohne mich geben könnten.«