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Das Engagement von Josef Hellmesberger sen.

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Bei Neuengagements spielten Familienbeziehungen häufig eine Rolle. Sieben Jahre nach dem Tod seines Vaters Jakob Uhlmann sen. stieß 1857 Jakob Uhlmann jun. zu den Oboisten. Das auffälligste »familiäre« Ereignis fand jedoch 1855 durch das Engagement von Josef Hellmesberger (1828–1893) bei den ersten Geigern statt: Er sollte hier 22 Jahre lang eine Schlüsselrolle spielen. Mit seinen 27 Jahren war er in Wien längst kein Unbekannter mehr. Bereits 1845 hatte er als 16-Jähriger im Orchester des Kärntnertortheaters das Solo in der Arie des Prinzregenten im zweiten Akt von Konradin Kreutzers Nachtlager von Granada mit einer solchen Perfektion gespielt, dass die Kritik begeistert war. 1849 hatte er das Streichquartett gegründet, das seinen Namen trug und nach der Auflösung des Jansa-Quartetts sehr schnell als der eigentliche Nachfolger des Schuppanzigh-Quartetts galt, das die meisten Streichquartette Beethovens uraufgeführt und zur Professionalisierung des Ensemblespiels erheblich beigetragen hatte. Bis 1887 war Hellemsberger dessen Primarius, dann nahm sein Sohn seinen Platz ein, bis sich das Ensemble 1901, nach 52 Jahren, auflöste. Ab 1850 war er Dirigent der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde und ab 1851 Violinlehrer am Konservatorium. Seine Funktion als Dirigent ermöglichte Hellmesberger, für Gesellschaftskonzerte, in denen bisher Amateure spielten, regelmäßig Philharmoniker zu verpflichten und ihnen somit in den mageren Jahren einige Verdienstmöglichkeiten zu verschaffen. Vor allem aber war er der Sohn von Georg Hellmesberger, der seit 1821 Mitglied des Opernorchesters und seit 1830 als Nachfolger von Ignaz Schuppanzigh dessen Orchesterdirektor war. Georg Hellmesberger erlebte somit, dass sich ihm sein Sohn am ersten Pult anschloss und den Titel »Solospieler« übertragen bekam, der bisher allein für Mayseder bestimmt war. Das Orchester verfügte nunmehr also über zwei Orchesterdirektoren (Georg Hellmesberger und Franz Grutsch) und zwei Solospieler (Mayseder und Josef Hellmesberger), wodurch die Arbeitsteilung zwischen dem Orchesterdirektor und dem Solospieler systematisiert wurde.

Es ist schwierig, sich eine genaue Vorstellung von Josef Hellmesbergers Spiel zu machen, das als Quintessenz des sogenannten Wiener Stils galt. Er hat nicht weniger als 30 zukünftige, zwischen 1838 und 1862 geborene Philharmoniker im Konservatorium ausgebildet. Aus den schriftlichen Unterlagen der damaligen Zeit geht hervor, dass die Qualität seines Spiels weniger auf technischer Perfektion und Virtuosität beruhte als auf Raffinement und Sensibilität. So jedenfalls beschrieb es der einflussreiche Wiener Musikkritiker, Universitätsprofessor für Musikgeschichte und Musikästhetik und spätere Wagner-Erzfeind Eduard Hanslick in seiner Gegenüberstellung von Hellmesberger und seinem Kollegen Joseph Joachim, Schüler von Joseph Böhm und zukünftiger Widmungsträger und Geburtshelfer des Violinkonzerts von Brahms: »Diese schlichte, schmucklose Größe scheint uns der hervorragende Zug in Joachims Spiel. Daß er sich damit mancher feineren, unmittelbar rührenderen Wirkung begiebt, verhehlen wir uns nicht. Mehr als eine Stelle von Beethoven hätte Hellmesbergers feines, reizbares Naturell uns mittelbarer ins Herz gespielt als Joachims unbeugsamer, römischer Ernst. Die Vortragsweise der beiden verhält sich beinahe wie Weibliches und Männliches, oder um ein musikalisches Bild zu brauchen, wie chromatisches und diatonisches Klanggeschlecht.«10

Auch wenn er sich davor hütet, nationale Kategorien zu gebrauchen, sind die von Hanslick verwendeten Begriffe aus heutiger Sicht eng mit den Stereotypen verbunden, die auf den Gegensatz zwischen Nord und Süd beziehungsweise zwischen Deutschland und Österreich verweisen (auch wenn Joachim in der Nähe von Bratislava geboren und in Pest aufgewachsen ist!). Die Vorstellung eines femininen Österreichs, das sich vom maskulinen Deutschland deutlich absetzt, ist, wie Gerald Stieg gezeigt hat, in der Tat »eines der fundamentalen mit der österreichischen Identität verbundenen Klischees«11.

Bezeichnenderweise sagt Hanslick nichts über Tonqualität, Bogentechnik, Vibrato, Artikulation oder Phrasierung: Er nennt kein technisches Detail, das uns weiterhelfen würde. Er beschreibt vielmehr die psychologischen Unterschiede in der musikalischen Wiedergabe: Strenge und Disziplin gegen Finesse und Sensibilität. Hanslick beteiligt sich somit aktiv an einer Identitätskonstruktion, die noch lange andauern wird.

In seinen Memoiren weist Komponist Karl Goldmark auf Hellmesbergers geistvolles, verinnerlichtes Spiel von unwiderstehlicher Wärme hin und erwähnt das ungewöhnliche Gehör des Musikers. Als er dem Hellmesberger-Quartett die Stimmen seines neuen Streichquartetts brachte und Hellmesberger mit der ersten Probe begann, korrigierte dieser, während er die Fragen des Orchesterdieners bezüglich der anschließenden Orchesterprobe beantwortete, den Bratschisten Franz Dobyhal mit dem lauten Ruf »Cis, Dobyhal!«. Dieser hatte eine falsche Note gespielt, die nicht einmal Goldmark aufgefallen war. Goldmark erzählt auch, dass Hellmesberger, als er seine Frühlingshymne dirigierte und die Sängerin Karoline Bettelheim eine zweitaktige Pause übersah und zu früh wieder einsetzte, es sofort bemerkte und die Aufführung rettete, indem er das Orchester ebenfalls zwei Takte überspringen ließ.

Weitere Hinweise über Hellmesberger verdanken wir den Kommentaren über sein Quartett. Dieses hatte die ersten beiden Streichquartette von Brahms uraufgeführt, die letzten Quartette von Beethoven neu interpretiert und zum ersten Mal öffentlich die Quartette D 113, 173 und 887, den Quartettsatz D 703 und das Quintett D 956 von Schubert sowie das Quintett von Bruckner gespielt. Somit hat Hellmesberger der Wiener Kammermusik, die seit dem Tod von Schuppanzigh 1830 brachlag, wieder neues Leben eingehaucht. Am Hellmesberger-Quartett schätzte Hanslick die Kunst, ein Werk »von innen heraus« zu verstehen, es als ein Ganzes zu präsentieren und seinen Charakter zu erfassen. Hanslick hielt das Spiel des Quartetts für sehr subjektiv und gefühlsbetont, das Spiel des ersten Geigers für »raffiniert, sensibel, manchmal kokett, aber immer elegant und charmant« und lobte das »zarte« Spiel mit der Neigung zum Elegischen und seinen »poetischen Charme«. Kritischer äußerte er sich über den »Flüsterton«, die »Gefühlsduselei« und ein »Zuviel an Rubato«.12 Zartheit und flexible, gar ungleichmäßige Tempi sind von nun an die mit dem Wiener Stil spontan assoziierten Klischees.

Zum Hellmesberger-Quartett gehörte 1849 ein Philharmoniker, der Cellist Karl Schlesinger. Bei seinem Eintritt in das Orchester 1855 rekrutierte Hellmesberger sofort den Bratschisten Franz Dobyhal und machte sein Quartett zum ersten aus den Philharmonikern hervorgegangenen Ensemble. Als Karl Hofmann 1865 den Sekundgeiger Matthias Durst ersetzte, waren zum ersten Mal alle vier Mitglieder des Quartetts Philharmoniker. Das war der Anfang einer langen Tradition von Kammermusikensembles, die sich aus Philharmonikern zusammensetzen. Die zweifache Aktivität als Opern- und Konzertorchester ist eines der charakteristischen Merkmale der Wiener Philharmoniker. Die Pflege der Kammermusik ist von nun an ein weiterer Eckpfeiler dieser Vereinigung, deren Mitglieder es gewohnt sind, auch in kleineren Besetzungen aufzutreten und aufeinander zu hören, was sich deutlich auf die Flexibilität des Orchesterspiels auswirkt.

Die Wiener Philharmoniker

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