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Ein multiethnisches Orchester

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In dieser Zeit kam es zu einer markanten Veränderung innerhalb des Orchesters. Nach dem Abgang von Georg Hellmesberger, dem ersten Orchesterdirektor der philharmonischen Gründungsjahre, wurde 1868 der 31-jährige Ungar Jakob Grün engagiert. Er hatte zuvor der Hofkapelle in Hannover angehört, zusammen mit seinem Freund und ehemaligen Mitschüler Joseph Joachim. Als man dort dem nicht konvertierten Juden Grün den Titel Konzertmeister verweigert hatte, hatte Joachim aus Solidarität mit ihm gekündigt. In Wien war dies offensichtlich kein Hindernis.

Die Emanzipation der Wiener Juden geht auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch vom 21. Dezember 1867 zurück, das den Juden eine eingeschränkte rechtliche Gleichstellung garantierte. Geschätzt befanden sich 1869 ungefähr 15 jüdische Musiker im Orchester. So sicher die Religionszuschreibung bei David Pollak, Karl Leidler, Adolf Brodsky, Alexander und Max Lichtenstern, Siegmund Bachrich, David und Wilhelm Popper, Franz Doppler und Richard Lewy ist, so unsicher ist sie bei Franz Simandl, dessen Familienname zwar im Verzeichnis der Wiener Juden angeführt ist, aber kein Vorname. Mit etwa 14% lag der Anteil jüdischer Musiker im Orchester höher als der Durchschnitt in der Bevölkerung Wiens: 1869 wurden nur 6,6% der Einwohner Wiens als Juden registriert. 14% sind weit mehr als bei der Einführung der Abonnementkonzerte im Jahr 1860, als bei den Philharmonikern nur fünf von 86 Musikern jüdischen Glaubens waren, also 5,8%. Auch dieser Prozentsatz war bereits höher als der des Registers der Stadt Wien: Juden machten damals nur 1,3% der Wiener Einwohner aus. Es ist nicht abwegig, in dieser wachsenden Inklusion von jüdischen Mitgliedern eine direkte Folge des Emanzipationsgesetzes von 1867 zu sehen. Ebenso führte der österreichisch-ungarische Ausgleich zu einem bis dato unbekannt hohen Anteil an Musikern aus den verschiedenen Ländern Cis- und Transleithaniens. 1869 saßen im Orchester 13 Böhmen, 7 Ungarn, 2 Mährer, 1 Slowake, 1 Kroate, 1 Russe und 1 Italiener. Zum Vergleich: 1860 gab es bei den Philharmonikern 10 Böhmen, 3 Ungarn und 1 Mährer.

Mit Jakob Grün besaßen die Philharmoniker nun zwei Konzertmeister. Die erste Frage, die Grün Josef Hellmesberger sen. bei der Übernahme seines Postens stellte, war, ob er seine Soli im Orchester stehend oder sitzend spielen soll. Nach ungarischer Tradition erhob sich nämlich der Konzertmeister für seine Soli. Auch in Wien war man durch Johann Strauß, der sein Orchester mit dem Bogen dirigierte, an die Figur des »Stehgeigers« gewöhnt. Viel später sollte Willi Boskovsky auf diese Weise die Neujahrskonzerte dirigieren. Der erste Konzertmeister Hellmesberger, der eine gewisse Herablassung dem zweiten Konzertmeister gegenüber nur schlecht verhehlte, gab sich flexibel und überließ Grün die Wahl. Letztendlich hatte er Gelegenheit, eine seiner gefürchteten ironischen Pointen anzubringen: »Wären Sie lieber sitzen geblieben und hätten das Solo stehen lassen!«

Grün, der bei seinen Solostellen häufig unter Lampenfieber litt, was seine Karriere als Solist stark beeinträchtigte, war ein gefragter Pädagoge, der mehrere Generationen von Philharmonikern am Konservatorium ausbildete, wo er von 1877–1909 unterrichtete. Nicht weniger als 20 zukünftige Orchestermitglieder gingen aus seinem Unterricht hervor, darunter zwei Konzertmeister (Julius Stwertka und Franz Mairecker) sowie zwei Solobratschisten (Franz Jelinek und Karl Freith).

Im selben Jahr, 1868, ging Solocellist Karl Schlesinger in den Ruhestand. Als Nachfolger wurde der glänzende Solist David Popper engagiert, der 25-jährige Sohn eines Prager Synagogal-Kantors. Er trat dem Hellmesberger-Quartett bei, blieb aber nur fünf Jahre im Orchester. Nach seinem Ausscheiden widmete er sich der Komposition (sein 2. Violoncellokonzert op. 24 spielte er beim philharmonischen Abonnementkonzert am 28. März 1879 unter Hans Richter selbst) und Konzerttourneen. Dabei spielte er oftmals mit seiner Frau, der Pianistin Sophie Menter, einer Schülerin von Liszt, und nahm 1886 an der Uraufführung des c-Moll-Trios von Brahms mit dem Komponisten am Klavier teil. Er unterrichtete auch an den Konservatorien von Budapest und Brüssel. Der junge Béla Bartók erinnerte sich später, dass er den von ihm verehrten Popper während seiner Studienzeit in Budapest kennengelernt hatte.

Bei seinem Eintritt ins Orchester rangierte Popper, obwohl er jünger war, vor Josef Hartinger auf der Musikerliste: Die ersten Pulte wurden zwar damals bereits zweifach besetzt, aber man unterschied streng zwischen einem ersten und einem zweiten Solisten. Josef Hellmesberger ist erster und Jakob Grün zweiter Konzertmeister, Johan Král erster und Alexander Seitz zweiter Solobratschist, David Popper erster und Josef Hartinger zweiter Solocellist, eine Rangordnung, die sich auch finanziell auswirkte. Popper verdiente 1500 Gulden, Hartinger nur 840. Dasselbe galt für die Bläser: Der erste Soloflötist Franz Doppler verdiente 960 Gulden, der zweite, Wilhelm Heinemeyer, 700, der erste Soloklarinettist Thomas Klein 960 Gulden, der zweite, Franz Otter, 760, der erste Solohornist Richard Lewy 960 Gulden, der zweite, Wilhelm Kleinecke, 900 Gulden. Nur die beiden Oboisten Karl Pöck und Jakob Uhlmann bezogen dasselbe Gehalt, nämlich 900 Gulden, da offenbar keiner der beiden Anspruch auf die 960 Gulden hatte, die die Bläsersolisten gewöhnlich bekamen. Erst ab den 1880er Jahren wurden beide Solistenstellen gleich behandelt: die Soloflötisten Anton Unger und Roman Kukula schon ab 1879, die Soloklarinettisten Alois Schmidl und Franz Bartolomey ab 1892, die Solohornisten Josef Schantl und Emil Wipperich ab 1884. Es gab keine Unterscheidung mehr zwischen einem ersten und einem zweiten Solisten.

Die Wiener Philharmoniker

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