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Die Perspektive auf das Kreuz im Sermon und im Lied

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In seinem Lied, das er fünf Jahre nach Erscheinen des Sermons gedichtet hat, kommen Grunderkenntnisse daraus zur Sprache, doch haben sich Schwerpunkte der Passionsbetrachtung verschoben.

Luther läßt sein Lied, verstanden als Betrachtung des Handelns Christi am Kreuz, an einem anderen Ort einsetzen. Mit dem og. Schwerpunkt, den Luther in seinem Lied auf das Danken legt, setzt er dort an, wohin ihn die Passionsbetrachtung nach dem Sermon erst geführt hat. Steht im Sermon zu Beginn das Erschrecken und die Erkenntnis der eigenen Sünde, die dann erst zum Erkennen der Liebe Gottes, die in der Passion wirkt, führt, so ist im Lied Freude und Dank der Beginn; und das Gedenken an Sünde und Verlorenheit an den Tod wird im Rahmen des Dankens betrachtet und als etwas Überwundenes zur Sprache gebracht. Im Sermon findet sich nach der Selbsterkenntnis und der Gotteserkenntnis die Aufforderung zum Annehmen der Tat Christi, indem man die Sünde mit „ganzem Wag“ auf ihn wirft. An dieser Stelle erst wird die Befreiung für den Betrachter wirksam. Im Lied hat die Befreiung schon vor der Zeit im duellum mirabile, das außerhalb des menschlichen Wirkungsbereiches steht, stattgefunden.

Die Erkenntnis der Liebe Gottes ist im Sermon ein Schritt auf dem Weg von verschiedenen Erkenntnisschritten. Im Lied ist es das Zentrum: Im „Hie ist das recht osterlamb“ wird deutlich, daß der Blick auf das Lamm Gottes die Situation ist, in der sich der Singende befindet, d.h. der Blick auf das Lamm ist der entscheidende Moment für ihn. Die „heiße Liebe“, aus der heraus er sich zum Opferlamm gegeben hat, ist hier die einzige und damit herausgehobene Aussage zur Erklärung des Geschehens.

Wie der Betrachter im Sermon im Sterben Christi seine Liebe und darin die des Vaters erkennt, so ist dies aus der Formulierung „davon Gott hat geboten“ ebenso ersichtlich: Das Ereignis geschieht nach dem Willen des Vaters.

Aus der Liebeserkenntnis heraus folgt im Lied die Sündenerkenntnis: Von dem Liebesgeschehen am Kreuz her wird Christus als Gnadensonne erkennbar, der das Herz des Menschen erhellt. In diesem Licht erkennt der Mensch, daß die Sünde, die zu Beginn allein als das universale Verhängnis zur Sprache kam, nun aus dem Herzen verschwunden ist; d.h. die individuelle Verlorenheit aufgrund der Sünde, die wie der Glaube im Herzen zu verorten ist, wird erkannt als der Vergangenheit angehörig und nicht mehr wirksam.

Am Ende des Sermon steht eine weitere Erkenntnis: Das Geschehen ist abgeschlossen. Niemand leidet mehr, weder Christus noch das eigene Gewissen. Entsprechend der oben beschriebenen Entwicklung zu einer neuen Schwerpunktsetzung Luthers beim exklusiven Sühnehandeln Christi ist auch im Lied jedes eigene Leiden und jede eigene Bezugnahme auf das Sterben Christi in seinem noch unabgeschlossenen Verlauf ausgeklammert. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Singende einsetzt, kann er schon „loben und dankbar sein“, denn das durch Christus erworbene Leben ist schon bei ihm eingekehrt. So ist die Betrachtung des Gekreuzigten in dem Lied eine, die vom Ende her erfolgt: Dank und Freude steht zu Beginn und am Ende des Liedes; der Blick auf das Lamm Gottes ist für den Betrachter allein Grundlage für das Gotteslob.

Wie sich dem Sermon folgend in der Betrachtung des leidenden Christus ein sakramentales Geschehen vollzieht, daß „der mensch alßo warhafftig new ynn got geporen“ ist, so vollzieht sich dies auch im Singen des Liedes: Der Singende tritt zu der feiernden Schar, die ihr Herz von dem Gnadenschein Christi erleuchten läßt. Aus der präsentischen Formulierung wird deutlich, daß die Gnade in der Gegenwart das Herz des Singenden erleuchtet und so der Sünde keinen Raum mehr läßt. Das Heilsgeschehen, der Sieg des Lebens über den Tod, hat zwar vor der Zeit stattgefunden, doch die Zueignung vollzieht sich in der Gegenwart. Statt der Sünde herrscht die Gnade, statt des Todes ist nun Christus selber der Herr über das Lebens des Singenden. Diese Wandlung, gleich einer Neugeburt, hat sakramentalen Charakter; unterstützt wird diese Bedeutung auch in dem Hinweis auf das Abendmahl, in dem Christus zur Seelenspeise des Glaubenden wird.

Infolgedessen ist auch der Weg der Betrachtung wie im Sermon als Beziehungsstiftung zu verstehen. Das Geschehen außerhalb des menschlichen Wirkungsbereiches und des menschlichen Zeitrahmens wird in der Betrachtung in dem Augenblick zum Geschehen am Einzelnen, in dem der Glaube das Blut Jesu dem Tod vorhält und er sich so auf den Sieg Christi über den Tod verläßt als ein für ihn gültiges Ereignis. So antwortet er auf die Beziehung, die Christus in seinem Tun zu ihm errichtet hat. In der Verbundenheit, die durch die Einwohnung des Lichtes Christi in seinem Herz stattfindet, ist die Christusbeziehung für ihn existentiell geworden.

Es zeigt sich also, daß der Weg, den der Betrachter des Kreuzesgeschehens nimmt, im Sermon und im Lied ein anderer ist. Die Grundaussagen über die Liebe Gottes, über die Sünde, über den Glauben und über das abgeschlossene Kreuzesgeschehen bleiben darin bestehen, aber der Ansatzpunkt der Betrachtung hat sich verändert. Grund dafür könnte der Ort des Liedes sein, das Osterfest, an dem der Singende von der Auferstehung her auf den Kreuzestod Christi blickt, im Gegenüber zum Sermon, der die Tradition der Passionsmeditation in der Passionszeit zum Anlaß nimmt. Doch wird dieser Perspektivwechsel auch der Entwicklung Luthers geschuldet sein, in der er sich allmählich von einem umgedeuteten Compassio-Gedanken abwendet und der Betonung des exklusiven Leidens Christi und damit dem Schwerpunkt des vollendeten Heilgeschehens zuwendet.

Die Passion Jesu im Kirchenlied

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