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Geistliche Lieddichtung bei den Böhmischen Brüdern
ОглавлениеEs wird oft vermutet, daß sich Michael Weisse durch die Begegnung mit Luther zur Lieddichtung hat anregen lassen, der zu diesem Zeitpunkt auch mit diesem Gedanken beschäftigt war. Dies ist möglich, aber nicht belegbar1. Gegen die Annahme Luthers als ersten Motivator Weisses zur eigenen Lieddichtung spricht der Blick auf die breite Tradition volkssprachlicher geistlicher Lieddichtung in Böhmen: Diese wurde schon seit dem 14. Jh. im spätmittelalterlichen römischen Katholizismus gepflegt. Der geistliche Liedgesang außerhalb der Meßfeier der Kirche ist Teil einer vertieften individuellen Frömmigkeit, die der Bewegung der devotio moderna zugerechnet werden kann. Liederhandschriften deutscher, tschechischer und lateinischer Lieder aus dem 15. Jh. geben Zeugnis davon.2 Der volkssprachliche gottesdienstliche Gesang wurde v.a. von den Taboriten weitergebracht, die in ihrer auf tschechisch gefeierten Liturgie auch tschechische Lieder sangen. Sie erschufen neue Gesänge auch aus altem Liedgut, bes. aus dem 14. Jh. 3 Diese reiche Tradition in Böhmen führte zu dem ersten volkssprachlichen Gesangbuch, das 1501 in Prag erschien und dem Umfeld der utraquistischen Kirche zuzurechnen ist4. Noch bevor protestantische Lieddichtung einsetzte, gehörten schon ca. 1000 Lieder in lateinischer, tschechischer und deutscher Sprache zum Repertoire verschiedener konfessioneller Gruppierungen in Böhmen.5 Auch die Böhmischen Brüder hatten seit 1505 ein erstes offizielles eigenes Gesangbuch mit Liedern in tschechischer Sprache, das 1519 von einem weiteren, von Lukas von Prag bearbeiteten Gesangbuch abgelöst worden war.
Für Weisse, der in dieser Tradition stand, lag vermutlich der Entschluß, ein Gesangbuch mit eigenen deutschsprachigen Liedern herauszugeben, recht nahe, ohne daß er von Luthers Bedürfnis nach deutschsprachigen Liedern angestoßen werden mußte.
Michael Weisse begründet in der Vorrede zu dem von ihm herausgegebenen Gesangbuch „Ein new gesengbuchlen“, Jungbunzlau 1531, sein Handeln damit, daß er dazu „ersucht“ worden sei, die Brüderschaft in Landskron und Fulnek „mit geistlichen gesengen zu versorgen“, an denen es der deutschsprachigen Gemeinde noch mangelte.
Das Gesangbuch spielte im Leben der Böhmischen Brüder eine große Rolle. Es dient einerseits als Buch für den gottesdienstlichen Gesang, wobei es, anders als in den ersten Jahrzehnten der lutherischen Kirche, nicht nur dem Leiter des chorus choralis zur Verfügung stand, sondern der ganzen Gemeinde. Weil der Gottesdienst der Brüder unter Verzicht auf die römische liturgische Tradition6 gefeiert wurde und im Wesentlichen aus Schriftlesung, Predigt und Gesang bestand, entwickelte sich eine reiche Tradition des Singens, die sich besonders auch durch eine Vielfalt an Formen, z.B. den Wechselgesang, auszeichnete.
Darüberhinaus hatte das Gesangbuch eine Funktion als Grundlage der häuslichen Ausübung der Frömmigkeit. Es war Bibel, Katechismus und Postille gleichzeitig, d.h. es diente nicht nur der Frömmigkeit, sondern auch der Belehrung in den Grundlagen des Glaubens und wurde schon viel früher als im lutherischen Bereich zu einem Teil des persönlichen täglichen Lebensvollzuges der Brüder. Man sang am Tag bis zu 30 Lieder.7
So ist die Tätigkeit Weisses als Schöpfer neuer Lieder und Übersetzer schon existierender tschechischer und lateinischer Cantiones als Handeln innerhalb einer im Leben der Brüder tief verankerten Nähe zum Singen geistlicher Lieder zu verstehen, auf das der Kontakt mit Luther Einfluß gehabt haben kann, aber sicher nicht ausschlaggebend für sein Handeln war.