Читать книгу Love Collection II - Clare Dowling - Страница 17

9

Оглавление

Zach behielt seine ausdruckslose Exerzierplatz-Miene bis zu dem Moment bei, in dem er die Tür des Zimmers, das man ihm zugewiesen hatte, hinter sich zumachte. Endlich allein. Er ließ seine Tasche auf den Boden fallen, ging zum Bett und setzte sich. Weder bemerkte er die freundlichen Farben des Zimmers noch dessen luxuriöse Ausstattung. Er merkte nur, dass seine Hände leicht zitterten, und starrte sie an. Dann ballte er sie ein paar Mal zur Faust und streckte sie wieder, damit sich ihr Zittern verlor.

Seine kleine Schwester war entführt worden.

»Nein«, flüsterte er grimmig. Er durfte sie nicht verlieren. Seit seine Mutter sie ihm damals auf dem Flugplatz in den Arm gelegt hatte, hatte er sich in der einen oder anderen Weise um sie gekümmert, und er konnte und würde sie nicht verlieren.

Aber hatte er nicht versagt in seinen Bemühungen, für sie zu sorgen? Vielleicht hatte Lily ja Recht. Vielleicht hatte er sich wirklich immer auf die falschen Dinge konzentriert. Auf Beaumont, zum Beispiel. Wie es schien, war er keineswegs nur hinter Glynnis’ Geld her. Und selbst wenn es so wäre, plötzlich war das nicht mehr die schlimmste Sache der Welt. Zach hatte genug Geld — er würde gerne für sie und den Mann, den ihr Herz begehrte, aufkommen. Verdammt, er würde jeden Cent hergeben, wenn sie nur wohlbehalten zurückkehrte.

Es war kein Trost, zu wissen, dass er nicht das erste Mal versagt hatte, was seine Schwester anbelangte. Er war heilfroh gewesen, von zu Hause wegzukommen, als er achtzehn wurde. Ohne eine Sekunde zu zögern, hatte er die Verantwortung für sie abgegeben und keinen Gedanken daran verschwendet, ob Großvater ihr wenigstens die grundlegendsten Dinge des Lebens beibrachte.

Genauso wenig hatte es ihn interessiert, sie wirklich kennen zu lernen, als er sie nach Großvaters Tod bei sich aufnahm. Er war so verdammt beschäftigt damit, sie vor irgendwelchen Lebenskünstlern zu schützen, die Geld aus ihr rausleiern wollten, dass er gar nicht auf die Idee kam, es könnte ihre Unwissenheit sein, die sie so verletzlich machte.

Er hatte sich bestimmte Vorstellungen von Glynnis gemacht, ohne sich die Zeit zu nehmen, herauszufinden, zu was für einem Menschen sie herangewachsen war. Und jetzt bestand plötzlich die Möglichkeit, dass er diese Gelegenheit nie mehr bekam.

Nein. Zach erhob sich und biss die Zähne zusammen. Nein, bei Gott, das darf nicht sein, also denk nicht mal dran. Er würde Glynnis zurückbekommen. Und Beaumont auch, wenn das zu ihrem Glück beitrug. Er wollte, verdammt noch mal, nicht noch einen Menschen verlieren, der ihm wichtig war — in seinem Leben hatte er schon zu oft Abschied nehmen müssen. Er hatte seine Eltern verloren, seine Großmutter und mehr Männer, an deren Seite er gekämpft hatte und die seine Freunde gewesen waren, als er zählen konnte. Es hatte nicht in seinen Händen gelegen, daran etwas zu ändern. Aber er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um seine Schwester zurückzubekommen.

Nicht dass seine ersten Schritte besonders viel versprechend gewesen wären. Er hätte von Anfang an darauf bestehen sollen, die Polizei zu benachrichtigen. Allerdings war sein ganzes Bemühen darauf gerichtet gewesen, hier bleiben zu können, denn sonst hätte er überhaupt keine Chance gehabt, Einfluss auf die Situation zu nehmen. Gleich morgen früh würde er das nachholen und die Polizei anrufen. Und in der Zwischenzeit würde er auf die Mittel zurückgreifen, die ihm auch ohne sie zur Verfügung standen.

Er nahm das Telefon vom Nachttischchen und gab mit der einen Hand seine Telefonkartennummer ein, während er mit der anderen sein Adressbuch aus dem Matchsack fischte.

Kurz darauf klingelte das Telefon am anderen Ende der Leitung, und nach dem dritten Mal sprang der Anrufbeantworter an. Die Stimme seines Freundes Cooper Blackstock auf dem Band hatte gerade begonnen, das übliche Sprüchlein aufzusagen, er solle eine Nachricht hinterlassen, als sie plötzlich von der echten Stimme ersetzt wurde, die ihn ungehalten anraunzte: »Was ist los?«

Zach warf einen Blick auf die Uhr und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Mist, Coop. Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist.«

»Zach?« Coops Stimme nahm einen deutlich freundlicheren Ton an. »Bist du das?«

»Ja.«

»Mensch, Midnight, wie geht’s? Ich habe gehört, dass bei deiner Schwester eine Frau wohnt, die ’ne echte Wucht ist. Ich glaube, Rocket hat über besagte Dame irgendwelche Informationen ausgegraben, aber er wollte mir gegenüber nicht damit rausrücken. Da wirst du wohl selbst mit ihm reden müssen. Und ist das nicht der Hammer? Wer hätte gedacht, dass der Typ, der einem immer mehr Einzelheiten aus seinem Sexleben erzählte, als man jemals wissen wollte, plötzlich so diskret sein kann?«

»Coop –«

»Ja, ich weiß.« Sein fröhliches Lachen polterte durch das Telefonkabel. »Selbst Peter Pan muss irgendwann mal erwachsen werden. Aber zurück zu deiner Schwester. Rocket sagt, sie ist mit irgendeinem Kerl abgehauen. Hast du sie schon wieder losgeeist?«

Zachs Hand schloss sich fester um den Hörer. Plötzlich wollte er es nicht laut aussprechen, denn das würde es realer machen. Allerdings blieb ihm nichts anderes übrig. »Ich habe ein Problem, Ice. Ich bin hier im Haus ihres Freundes auf Orcas Island, und es scheint so, als wären Glynnis und Beaumont auf dem Weg hierher entführt worden.«

»Was?« Jede Heiterkeit war plötzlich aus Coops Stimme verschwunden. »Großer Gott. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Ich nehme an, du hast nicht zufällig mal jemanden vom FBI in Seattle für eines deiner Bücher interviewt?«

»Nein, tut mir Leid. Dort habe ich gar keine Kontakte.«

»Dann gib mir mal John. Er soll ein paar von seinen Quellen für mich anzapfen.«

»Bin schon auf dem Weg. Eine Sekunde.«

Zach hörte ihn Rockets Namen rufen und dann ein kurzes Gemurmel, als er ihm offensichtlich die Situation kurz auseinander setzte, da John im nächsten Moment an der Strippe war und ohne Einleitung sagte: »Ich werde mich über das FBI in Seattle informieren, Zach, ich hör mich bei ein paar von den Jungs um, ob die oberen Chargen zuverlässig und diskret sind oder ob dort nur irgendwelche Arschlöcher rumsitzen, deren erste Sorge es ist, in die Schlagzeilen zu kommen, statt sich darum zu kümmern, dass die Geiseln in Sicherheit sind.«

Das war ein wichtiger Punkt. Die meisten Entführungsopfer, die Zach mit seiner Einheit befreite, waren Angehörige des Militärs, daher hatten sie nicht oft mit dem FBI zu tun. Aber sie hatten schon genug gefangen genommene Botschafter und Geschäftsleute befreit, um zu wissen, dass die Persönlichkeit des verantwortlichen Special Agent eine entscheidende Rolle dabei spielte, ob ein Opfer lebend oder in einem Leichensack die Heimreise antrat. Die Vorstellung, das Leben seiner Schwester in die Hände irgendeines Ehrgeizlings zu legen, der sich einen Namen machen wollte, ließ Zach das Blut in den Adern gefrieren.

Als hätte John seine Gedanken erraten, sagte er nüchtern: »Klär mich über die Einzelheiten auf, damit ich mir überlegen kann, was noch zu tun ist.«

Zach stellte die Lage ausführlich dar, so als würde er seinem Vorgesetzten Bericht erstatten, und einen Moment lang sagte Rocket nichts. Dann erkundigte er sich in einem vorsichtigen, neutralen Ton: »Soll das heißen, Beaumont ist das eigentliche Ziel?«

»Ich denke, so ist es.« Dann brach es aus ihm heraus: »Das ist ein Witz, oder? In Anbetracht meiner Anschuldigungen gegen ihn.«

»Stimmt. Aber solche Witze machen die letzte Zeit ja die Runde.«

Was immer er damit meinte. Normalerweise hätte Zach eine Erklärung verlangt. Er hätte auch auf den seltsamen Ton in Johns Stimme reagiert und ihn so lange ausgequetscht, bis er wusste, was er zu bedeuten hatte. Aber im Moment hatte er Wichtigeres im Kopf. »Hast du irgendwelche Kontakte hier in der Gegend? Ich weiß, das ist nicht dein Terrain, aber ich versuche herauszukriegen, ob es irgendwelche Gerüchte gab, dass bald etwas passiert.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Gott, John, ich tappe vollkommen im Dunkeln — ich weiß nicht einmal, wo sie sich Glynnis und ihren Freund geschnappt haben. Es könnte überall zwischen hier und Laguna Beach gewesen sein. Die Mutter von dem Kerl steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch und ist nicht imstande, mich mit irgendwelchen Einzelheiten zu versorgen.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass sie ein, zwei Beruhigungstabletten nimmt, die ihr eine ruhige Nacht verschaffen, und dass du morgen früh mehr erfährst, wenn sie wieder etwas ruhiger geworden ist«, sagte John. »In der Zwischenzeit solltest du dich auch ein bisschen ausruhen, und ich setz mich in Bewegung und versuche etwas rauszukriegen. Gib mir eine Nummer, unter der ich dich erreichen kann. Nein, warte, das ist vielleicht keine besonders gute Idee — du willst bestimmt die Leitungen frei halten, damit die Entführer durchkommen können. Mein Gott, Zach, du solltest dich endlich damit abfinden, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben — du bist wahrscheinlich der einzige Mensch, den ich kenne, der immer noch kein Handy hat. Aber gut, das lässt sich jetzt nicht ändern«, murmelte er, und Zach konnte praktisch riechen, wie die Schaltkreise in Rockets Hirn zu rauchen begannen. »Es geht auch so. Ruf mich morgen am späten Vormittag an, und ich sage dir, was ich herausgefunden habe.«

»Danke, John.« Er war seinem Freund tatsächlich sehr dankbar, aber dass ihm jetzt so warm ums Herz wurde, war ihm doch peinlich, und er räusperte sich und sagte mit erzwungener Leichtigkeit: »Am liebsten würde ich dir ja einen dicken fetten Kuss auf den Mund geben.«

»In diesem Leben wohl nicht mehr, Kumpel.« Dann nahm Johns Stimme wieder einen ernsten Klang an. »Halt die Ohren steif, Zachariah. Und lass es mich und Coop sofort wissen, wenn du willst, dass wir kommen. Er meinte, mit dem Auto bräuchten wir von hier aus fünf Stunden. Was sagst du?« Es gab einen leisen Wortwechsel am anderen Ende, und dann kam wieder Johns Stimme aus dem Hörer. »Ice sagt, wir können viel früher da sein, wenn wir ein Flugzeug chartern. Gib also einfach Bescheid.«

Nachdem sie sich gleich darauf verabschiedet und aufgelegt hatten, ging es Zach schon viel besser, auch wenn er seinem Ziel, seine Schwester zurückzubekommen, keinen Schritt näher war als vor zehn Minuten. Aber zumindest hatte er etwas unternommen. Und es war irgendwie ... beruhigend, seine Freunde eingeweiht zu haben.

Er lief eine Weile in seinem Zimmer auf und ab und beschloss dann, ins Bett zu gehen. Er erwartete nicht, viel Schlaf zu bekommen, aber er konnte es wenigstens probieren, und nachdem er sich bis auf die Unterhose ausgezogen hatte, packte er seinen Waschbeutel und machte sich auf den Weg ins Bad.

Als er die Tür geöffnet hatte, blieb er abrupt stehen. Toll. Dass er immer ein solches Glück haben musste. Es hätte doch eigentlich gereicht, dass er und Lily zwei Zimmer direkt nebeneinander hatten, aber nein, sie durften auch noch das Bad miteinander teilen, und offensichtlich hatte sie es schon vor ihm benutzt. Es war warm, dampfig und roch nach Parfüm. Sie hatte ihre sämtlichen Toilettenartikel auf der Ablage verteilt. Zach stand da und starrte das Durcheinander einen Moment lang an. Ihm fiel ein, dass Coop gesagt hatte, John hätte Informationen über sie, und dass er ganz vergessen hatte, sich bei ihm danach zu erkundigen. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, solche Dinge aus den Augen zu verlieren.

Dann zuckte er kurz die Schultern. Egal. Das hatte auch noch bis morgen Zeit. Er nahm eines der edel aussehenden kleinen Töpfchen und studierte eingehend das Etikett. Er schraubte den Deckel ab und schnüffelte an seinem Inhalt, dann stellte er es, nachdem er es wieder zugemacht hatte, zurück an seinen Platz. Als Nächstes nahm er einen glänzenden goldfarbenen Stift in die Hand. O Mann. Er schüttelte den Kopf, als er die Hülle eines cremigen roten Lippenstifts abnahm und ihn ganz herausdrehte. Frauen schleppten immer ganz schön viel Scheiß mit sich herum. Sein Waschbeutel war im Vergleich dazu spartanisch ausgestattet.

Vorsichtig drehte er den Lippenstift wieder rein und stellte ihn dahin, wo er ihn weggenommen hatte, dann trat er mit erhobenen Händen einen Schritt zurück, wie um sich davon abzuhalten, weiter in ihren Sachen herumzukramen. Er nahm seinen Waschbeutel und holte eine Zahnbürste und Zahnpasta heraus, putzte sich die Zähne und schluckte drei Aspirin. Mit einem Blick auf das feuchte Badetuch, das quer über der Stange des Duschvorhangs über der Badewanne hing, und den Massage-Duschkopf entschied er, das Duschen auf morgen zu verschieben.

Ungefähr um vier Uhr morgens, nachdem er es leid war, sich zum x-ten Mal von einer Seite auf die andere zu wälzen, stand er auf und nahm schließlich doch eine lange, heiße Dusche. Als er fertig war, war es fast fünf Uhr.

Die Sonne brannte auf Zachs Kopf, und die geteerte Rollbahn des Flugplatzes fühlte sich in der Hitze Afrikas unter seinen Füßen weich und klebrig an. Ihm war heiß, er schwitzte, und die Schultern taten ihm weh vom Herumschleppen seiner fünf Monate alten Schwester, die in seinen Armen zappelte. Sie hatte seine ganze Brust voll gesabbert, kaute ständig an der Klappe der Brusttasche seines Hemdes herum, und überall, wo ihr kräftiger kleiner Körper ihn berührte, klebten das weiße Baumwollhemd und die Khaki-Shorts an seiner Haut und zeigten unangenehme, feuchte Flecken. Zu allem Überfluss juckte der Mückenstich auf seinem linken Bein, über den sie ständig mit ihrem strampelnden Fuß rieb, wie verrückt. Vor Angst und Unruhe war ihm so schlecht, dass er glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

Er schluckte, um die Übelkeit zu unterdrücken, und sah seine Eltern an, ohne weiter auf sein Unwohlsein zu achten. »Schickt mich nicht weg«, bat er ein letztes Mal. Sie wollten, dass er das einzige Zuhause, das er je kennen gelernt hatte, verließ, und er hätte alles gegeben und getan, um sie umzustimmen. »Die Stewardessen sollen sich um Glynnis kümmern.« Er sah zuerst flehend seinen Vater an, dann seine Mutter. Aber diese warf nur einen kurzen Blick auf die Uhr, und da wusste er, dass sein Betteln bei ihr auf taube Ohren stieß. Daher richtete er seine Aufmerksamkeit ganz auf seinen Vater. »Bitte, Papa. Du hast selbst gesagt, dass Großvater am Flughafen sein wird, wenn das Flugzeug landet. Dann können ihm doch genauso gut die Stewardessen Glynnis übergeben. Es ist gar nicht nötig, dass ich dabei bin.«

»Sie wird in einem fremden Land aufwachsen, mein Sohn, und du bist ihr großer Bruder. Ich verlasse mich darauf, dass du auf sie aufpasst.«

Zachs Kinn schob sich nach vorne. »Das ist gemein! Ich bin doch erst elf; was kann ich schon groß tun? Ich kenne mich in diesem Philadelphia überhaupt nicht aus. Das ist Großvaters Zuhause. Soll er sich doch um sie kümmern.«

»Das wird er ja auch. Aber er wird immer älter, und deshalb wird sie auch deine Stärke und deine Energie brauchen.«

»Aber wenn er schon so alt ist, glaubst du nicht, dass ihm dann zwei Kinder zu viel sind? Mädchen sind gut zu haben — schick ihm doch einfach nur Glynnis. Jungen machen nur Schwierigkeiten. Sie können einen ganz schön schlauchen.« Er musste das ja wissen, schließlich hatte er es seine Mutter oft genug sagen hören.

Sie beugte sich zu ihm herunter. »Hör auf, mit deinem Vater zu streiten. Du gehst, und damit Schluss.« Aber dann küsste sie ihn auf die Stirn, und er schloss die Augen, um diese ungewohnte Zärtlichkeit auszukosten.

Sie richtete sich wieder auf und strich ihm eine Locke nach hinten, die ihm in die Stirn gefallen war. »Es wird schon nicht so schlimm werden, mein Schatz.« Dann blickte sie seinen Vater an. »Peter, wir müssen los, ich möchte mir im Dorf diesen Blinddarm noch mal ansehen. Zachariah, benimm dich bei deinen Großeltern. Und pass auf deine Schwester auf. Wir kommen euch bald besuchen.«

Und schon saß er im Flugzeug, festgeschnallt auf einem Sitz und mit dem verdammten Baby auf dem Schoß, das wieder angefangen hatte, an seiner Brusttasche zu kauen, während er sein Gesicht an das kleine Fenster presste. Er sah, wie seine Eltern davongingen, bevor das Flugzeug auch nur in Richtung Startbahn gerollt war. Dann wandte er seinen Blick von ihren sich entfernenden Gestalten ab und starrte seine Schwester an, und er fühlte Wut und heftige Ablehnung in sich aufsteigen. Das war allein ihre Schuld. Bevor sie auf die Welt gekommen war, war alles in Ordnung. Wenn sie nicht gewesen wäre ...

Doch als ihre Lippen zitterten und sie zu wimmern begann, während das Flugzeug über die Startbahn raste und in den Himmel stieg, nahm er sie hoch und drückte sie an seine Brust, um sie zu beruhigen. Ihre feuchten Ärmchen klammerten sich an seinen Hals, und er presste sie an sich und flüsterte ihr tröstende Worte ins Ohr, während er sah, wie hinter dem Fenster die Welt, die er kannte, auf die Größe einer Briefmarke zusammenschrumpfte und dann ganz aus seinem Blickfeld verschwand.

Zach schreckte auf und holte scharf Luft. Er blinzelte, in seinen Augen brannten ungeweinte Tränen, und er verspürte eine unendliche Leere in sich, das Gefühl der Verlassenheit. Dann lag er einfach nur da, starrte an die Decke und atmete tief durch, damit sich sein Herzschlag wieder beruhigte.

Als Kind hatte er diese schrecklichen Momente in unzähligen Träumen wieder und wieder durchlitten. Damals lebte er mit einem ständigen Gefühl der Einsamkeit, und nur die Freundlichkeit seiner Großmutter und das Lachen seiner Schwester konnten die Schärfe dieser Empfindung lindern. Das Versprechen seiner Mutter, sie zu besuchen, hatte sich als leeres Gerede erwiesen.

Während des ersten und auch noch während des zweiten Jahrs in dem verhassten Haus in Philadelphia hatte er tatsächlich gehofft, dass seine Eltern plötzlich vor der Tür stehen und eingestehen würden, dass sie einen Fehler gemacht hatten, als sie ihn und Glynnis wegschickten. Aber als er zu einem Teenager herangewachsen war, hatte er seine kindlichen Träume aufgegeben. Seine Eltern hatten die Aufgabe, ihn und seine Schwester großzuziehen, Großvater und Großmutter übertragen und waren nur ganze vier Mal erschienen, um sie zu besuchen. Und selbst dann hatten sie ihre Ungeduld, zurück zu ihrer Arbeit zu kommen, nicht verbergen können. Ein Haufen Fremder im fernen Afrika war ihnen eindeutig wichtiger gewesen, als Glynnis oder er es jemals hätten sein können.

Aber das war lange her, eine halbe Ewigkeit, und er war kein verängstigter Elfjähriger mehr. Warum wachte er dann weinend wie ein kleines Kind auf, noch dazu wegen eines Ereignisses, das so weit zurücklag, dass er sich daran — außer in seinen Träumen — kaum mehr erinnerte?

Ärgerlich drehte er sich um und sah auf die Uhr. Na toll. Viertel vor acht — er hatte nicht einmal drei Stunden geschlafen. Aber es wartete Arbeit auf ihn, und daher kroch er aus dem Bett und ging ins Badezimmer, wo er gegen sein Kopfweh noch ein paar Aspirin nahm und sie mit einem Glas Wasser runterspülte. Es brauchte keinen Psychologen, um zu wissen, was dieser Traum nach all den Jahren wieder in ihm wachgerufen hatte. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, als er nach seinem Rasierapparat und der kleinen Dose mit Rasierschaum griff, sah grimmig aus. Erneut hatte er in Bezug auf seine Schwester versagt — und dieses Mal ging es dabei vielleicht um Leben und Tod.

Aber dieses Versagen ließ sich wieder gutmachen, und er würde bald Herr der Lage sein, mochte kommen, was da wollte. Zehn Minuten später verließ er sein Zimmer.

Als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, betrat gerade die unscheinbarere der beiden Schwestern, die er gestern Abend kennen gelernt hatte, mit einem voll beladenen Tablett die Halle. Sie sah auf und zuckte zusammen, sodass das Geschirr bedrohlich zu scheppern begann.

»O Gott«, sagte sie. »Haben Sie mich erschreckt.«

»Tut mir Leid. Lassen Sie mich das doch tragen, bitte.« Er nahm ihr das Tablett ab. »Sie sind Jessica, oder?«

»Ja. Ich wollte gerade das Frühstück ins Speisezimmer bringen.« Sie warf einen Blick auf das Tablett in seinen Händen und verzog das Gesicht. »Oder zumindest so etwas Ähnliches. Wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?«

»Gerne.« Er folgte ihr durch die Halle ins Speisezimmer. Mrs. Beaumont und Richard, die an einem langen Tisch aus Kirschholz saßen, sahen auf, als er eintrat, und wünschten ihm mit gedämpften Stimmen einen guten Morgen.

Jessica dirigierte ihn zu einer Anrichte, wo sie die Krüge mit Milch und Orangensaft, eine silberne Platte mit Toast und ein Glasschüsselchen mit Marmelade von dem Tablett nahm und abstellte.

»Es ist leider nicht viel.« Sie deutete auf einen Stapel mit Tellern und Schüsseln. »Aber da sind noch Cornflakes, wenn Sie wollen, und frischer Kaffee.«

Zach zuckte die Schultern. »Das genügt mir vollkommen.« Er hatte keinen Appetit, nahm aber an, dass es gegen seine Kopfschmerzen helfen würde, wenn er etwas in den Magen bekäme. Er stellte das Tablett ab, nahm sich eine Scheibe Toast, strich einen Klecks Marmelade darauf, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und trug sein Frühstück zum Tisch.

Er aß den Toast, und als er einen Schluck Kaffee trank, sah er Mrs. Beaumont über die Tasse hinweg an. »Sie sehen etwas ausgeruhter aus«, bemerkte er. »Fühlen Sie sich imstande, zu besprechen, wie wir Glynnis und David zurückbekommen?«

Sie nickte ihm würdevoll zu. »Natürlich.«

»Gut. Dann sollten wir als Erstes die Polizei informieren.«

Sofort trat ein Ausdruck der Panik auf ihr Gesicht. »Nein!«

»Mrs. Beau—«

»Sie haben den Brief doch selbst gelesen! Da steht, dass sie David umbringen, wenn wir die Polizei rufen!«

In dem Brief stand, sie würden David und Glynnis umbringen, und Zach war nicht besonders erbaut davon, dass die Gefahr, in der seine Schwester schwebte, einfach ignoriert wurde. Aber er unterdrückte seine Verärgerung. Mrs. Beaumont hatte ihre Nerven eindeutig noch lange nicht so gut unter Kontrolle, wie er zunächst angenommen hatte. »Das ist üblich bei dieser Art von Verbrechen, Ma’am«, erklärte er ihr ruhig. »Natürlich wollen sie nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird — die Chance, dass sie davonkommen, sinkt rapide, wenn die Polizei hinzugezogen wird.«

»Sie haben gesagt, dass sie ihn umbringen!«

»Beide«, korrigierte Zach in hartem Ton. »Dass sie beide umbringen. Nicht nur das Leben Ihres Sohnes ist bedroht.« Dann schüttelte er den Kopf und schlug einen freundlicheren Ton an. »Aber darum geht es nicht. Diese Drohung ist reine Terrortaktik, Ma’am, und sie dient dazu, Sie davon abzuhalten, die Polizei zu rufen, beziehungsweise in diesem Fall das FBI, da möglicherweise Staatsgrenzen überschritten worden sind. Erfahrungsgemäß haben die Opfer eine größere Chance, wenn die Behörden hinzugezogen werden. Wir müssen also die Polizei informieren.«

»Nein.«

»Doch«, sagte er knapp. »Das steht völlig außer Frage.«

»Wie können Sie es wagen, mir zu sagen, was getan wird und was nicht, junger Mann! Ich werde meinen David nicht in Gefahr bringen. Und wenn Sie gegen meinen Willen die Polizei rufen, werde ich ... dann werde ich ...« Sie überlegte einen Moment lang, ob ihr eine Drohung einfiel, mit der sie ihn einschüchtern konnte, dann hob sie plötzlich ihr Kinn und sah ihm offen in die Augen. »Dann werde ich leugnen, dass die beiden überhaupt entführt worden sind.«

Zach schwieg kurz. »Was wollen Sie tun?«, fragte er in einem gefährlich ruhigen Ton.

»Ich werde der Polizei sagen, dass ich nicht weiß, wovon Sie reden. Und ich werde sie bitten, Sie von meinem Grundstück zu entfernen.«

Es kostete ihn eine übermächtige Anstrengung, auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Am liebsten hätte er über den Tisch gegriffen und sie am Hals gepackt — so weit hatte ihn bis jetzt noch kaum jemand gebracht. Er hatte Beleidigungen und Schikanen immer weggesteckt; wenn ein Vorgesetzter ihn angebrüllt hatte, er sei weniger wert als die Scheiße unter seinen Stiefeln, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Aber diese Dame hier strapazierte seine Geduld über alle Maßen.

In der gegenwärtigen Situation konnte er es sich jedoch nicht leisten, auszurasten. Er atmete ein paar Mal tief durch. »Das wäre ein Fehler, Ma’am«, sagte er ruhig, aber bestimmt. »Wem, meinen Sie, werden sie eher Glauben schenken, einer hysterischen Mutter oder einem Mann, der sein gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht hat, mit genau solchen Situationen fertig zu werden? Und abgesehen davon, wenn Sie mich von hier vertreiben, schweben Ihr Sohn und meine Schwester in noch größerer Gefahr, und im Moment geht es doch genau darum, die Gefahr, in der sie sich befinden, zu verringern und nicht noch zu erhöhen.«

»Bitte, Tante Maureen«, sagte Jessica mit ihrer sanften Stimme. »Ich denke, du solltest dir anhören, was er zu sagen hat.«

»Warum?«, fragte Mrs. Beaumont störrisch. »Was qualifiziert ihn denn mehr als zum Beispiel Richard?«

Hatte sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Zach starrte sie einen Augenblick lang fassungslos an, bevor er sich wieder so weit im Griff hatte, nichts als kühle Professionalität zu zeigen. Seine Stimme blieb gelassen, als er sagte: »Achtzehn Jahre bei den Marines der Vereinigten Staaten, Ma’am, in denen mein Job im Wesentlichen daraus bestand, Geiseln zu befreien.«

»Ja, aber —«

»Und Sie müssen verzeihen, dass ich darauf hinweise, aber ich habe gestern Abend nicht länger als eine Minute gebraucht, um Ihren Neffen zu entwaffnen. Wie kommen Sie zu der Annahme, dass er sich bei einem Verbrecher geschickter anstellt?«

Richard wurde rot, aber, das musste man ihm lassen, er tätschelte Mrs. Beaumont die Hand und sagte: »Da hat er Recht, Tante.«

Ihre Lippen zitterten, aber ihr Blick blieb unnachgiebig. »Ich möchte nicht, dass die Polizei gerufen wird.«

»Gut«, lenkte Zach ein. »Dann rufen wir sie eben nicht.« Fürs Erste jedenfalls nicht. Er merkte, dass er damit einen Punkt bei Mrs. Beaumont gemacht hatte. Abgesehen davon: Wenn er das FBI gegen ihren Willen einschaltete, könnte das die ganze Sache für Glynnis und David noch gefährlicher machen, als sie ohnehin schon war. Daher würde er die Angelegenheit für heute auf sich beruhen lassen, sich anhören, was Rocket herausgefunden hatte, und sie morgen erneut mit seinen Forderungen konfrontieren. »Was allerdings klar sein muss, ist, dass ich von jetzt an die Verantwortung übernehme, und darüber wird es keine Diskussion mehr geben. Wenn jemand die beiden sicher nach Hause bringen kann, dann ich.« Er sah sie streng an. »Sind wir da einer Meinung?«

Sie nickte, wenn auch nur widerwillig, und er ging zu den wesentlichen Punkten über. »Gut. Dann sollten wir uns über ein paar grundsätzliche Dinge verständigen. Es ist mir egal, wer ans Telefon geht, aber niemand spricht mit den Entführern, und niemand verhandelt mit ihnen außer mir.«

»Aber was ist, wenn sie dann wütend werden? Sie könnten David verletzen.«

Langsam fing sie an, ihm wirklich auf die Nerven zu gehen. Wann kapierte sie endlich, dass nicht nur ihr geliebter David an Leib und Leben bedroht war? Er riss sich jedoch zusammen und sagte mit ruhiger Stimme: »Sie werden nicht wütend, wenn man es richtig anstellt. Tun Sie so, als wären Sie das Hausmädchen, tun Sie so, als wären Sie der Gärtner, tun Sie so, als verstünden Sie kein Englisch.« Er bedachte jeden der Beaumonts mit seinem strengsten Blick. »Was Sie ihnen erzählen, ist mir egal. Aber wenn ich gerade nicht da bin, dann halten Sie sie hin und holen mich.«

Love Collection II

Подняться наверх