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Gregor und das Kästchen

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Murten, 5. November 1912, frühmorgens

Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, war Gregor nicht rundum froh, dass sein Geburtstag vorbei und überstanden war. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen einer vagen Freude und der Wut, deren Wellen ihn wie ein dunkles Meer umspülten. Er war ihnen ausgeliefert.

Er wollte nicht an seinen Geburtstag denken. Nein, auf keinen Fall. Noch hatte er kein Versteck gefunden für das Buch. Er wollte es so gut verstecken, dass er es selbst nicht wiederfand. Er wollte nicht an die Gespräche von vorgestern denken. Er wollte nicht daran denken, dass seine Eltern wieder einmal vergessen hatten, einen Kuchen mit Kerzen zu besorgen.

Auf der anderen Seite wollte er an seinen Geburtstag denken. Unbedingt! Immer wieder malte er sich den Moment aus, als er das Geschenk auf dem Sims entdeckt hatte. Er hatte die Hand danach ausgestreckt, die kühle, schneeverkrustete Schlaufe berührt. Er hatte den Turner ausgewickelt. Sein Herz hatte geklopft bis zum Hals. Er hatte ein Geschenk bekommen!

Gregor wollte, dass es wieder passierte. Aber er hatte erst in einem Jahr wieder Geburtstag! Gewiss, er hatte den Turner. Vielleicht bekam er nächstes Jahr einen Jongleur mit Ringen und Tellern. Einen Dompteur mit einem Tiger oder auch zweien. Aber war es nicht schrecklich, dass ein Jahr so unendlich lang war? Bestimmt bekam er auch wieder ein Buch, das er nicht lesen wollte. War es nicht schrecklich, dass ein Jahr so kurz war?

Gregor bemerkte plötzlich, wie schwarz der Morgen war. Winternachtschwarz. So schwarz wie die Wut, die in ihm brodelte. Er hätte schreien, gegen die Wand treten mögen. Er hätte gerne etwas kaputt gemacht, irgendetwas.

Ihm war heiss vor Wut und Verzweiflung, aber er musste leise sein, ganz leise. Seine Eltern durften niemals erfahren, dass er wütend war. Vermutlich hätten sie ihn in der Bibliothek mit all den schwierigen Büchern eingesperrt. Er hätte lesen müssen, lesen, lesen, lesen, bis er sich beruhigte.

Gregor kletterte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Die kalte Luft tat den heissen Wangen gut. Als er sich auf den Sims stützte, berührte seine linke Hand einen warmen Fleck. Lange konnte das hölzerne Kästchen da noch nicht gelegen haben. Gregor spähte in den nachtschwarzen Garten, auf die stille Strasse hinaus. Im Licht einer Strassenlaterne fiel ein dichter Vorhang aus Schnee. Es war niemand zu sehen. Gregor hob das Kästchen hoch und drückte es an sich.

Der Deckel liess sich leicht zur Seite schieben. Ein tröstlicher Geruch nach frischem Holz entströmte dem Kästchen. Gregor strich den Zettel glatt, der zwischen Würfeln lag. „Zähl, Gregor, zähl!“, stand da geschrieben. Nichts weiter, nur „Zähl, Gregor, zähl!“

Gregor legte die hölzernen Würfel, von denen keiner gleich war wie der andere, nebeneinander auf den Fenstersims. Und er zählte:

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.“

Er stutzte. Es gab noch einen Würfel. Allerdings sah er so aus, als sei er in der Mitte durchgeschnitten worden. Oder hatte das Holz einfach nicht mehr gereicht?

„Dreiundzwanzig ein halb“, sagte Gregor laut.

In ihm drin verebbte die Wut. Das Brodeln und Kochen wurde weniger, dann wurde er ruhig, ganz ruhig.

„Dreiundzwanzig ein halb“, wiederholte der Junge. Plötzlich war er unendlich müde. Er kroch zurück ins Bett und legte das Kästchen unters Kissen. Als es endlich zögerlich novemberhell wurde, schlief er noch immer tief und fest.

Zirkus Zauberhaft

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