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2.6.2 Zwei Ebenen der Diskussion: Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2

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In einer sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Höflichkeit muss es auch darum gehen, diese Diskussionen über sprachliche Höflichkeit in einen breiteren wissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen; das heißt, dass Begriffe und Methoden der Höflichkeitsforschung auch unter der Fragestellung betrachtet werden, ob sie mit dem Stand der Forschung in der linguistischen Pragmatik, der Soziolinguistik und anderer linguistischer Teildisziplinen kompatibel sind, und ob sich aus einer stärkeren Integration der verschiedenen Ansätze eventuell neue Möglichkeiten ergeben könnten, das infrage stehende Phänomen angemessen zu erklären.

Die sprachwissenschaftliche Thematisierung von Höflichkeit kann aber nicht auf einer rein theoretischen Ebene stattfinden. Es wäre kaum zu rechtfertigen, wenn man die bereits angesprochenen alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffe einfach ignorieren würde – sie sind schließlich ein wichtiger Teil der Sprachkompetenz und des Sprachbewusstseins von SprecherInnen. Damit werden sie zu einem wichtigen Gegenstand für eine Wissenschaft, die versucht, die menschliche Sprachfähigkeit und auch Formen der SprachreflexionSprachreflexion zu beschreiben und zu erklären.

Das Verhältnis zwischen einem wissenschaftlichen Höflichkeitsbegriff und dem Alltagsverständnis ist dabei keineswegs geklärt – und es ist keineswegs banal. Wie man dieses Verhältnis modelliert, davon hängt letztlich auch ab, was man unter ‚Höflichkeit‘ versteht. Eine Möglichkeit besteht darin anzunehmen, dass Begriff und Wort im Wesentlichen den gleichen Ursprung haben, dass es ‚Höflichkeit‘ also erst gibt, seitdem man darüber nachdenkt und redet. Schon etymologisch bietet sich sofort der Verweis auf höfisches Verhalten an und die Identifizierung von höflichem Auftreten mit bestimmten gesellschaftlichen Klassen. Höflichkeit stände dann in der Tradition des Adels und der Höfe. Höflich sein hieße, sich funktional analog zu Höflingen zu verhalten. Wenn Höflichkeit dagegen als Begriff verstanden wird, der auch vor der Entstehung von Höfen und bevor das Wort Höflichkeit gebräuchlich wurde, eine gewisse Gültigkeit hatte, dann könnte man davon ausgehen, dass Menschen so etwas wie höfliches Verhalten an den Tag gelegt haben, bevor es Höfe als Institutionen gab und dass weiterhin auch außerhalb adliger Kreise sprachliche und außersprachliche Handlungen verbreitet waren und sind, die man sinnvollerweise unter den Begriff ‚Höflichkeit‘ subsumieren sollte. Das würde bedeuten, dass es eine sehr enge Verbindung zwischen Höflichkeit und der Möglichkeit von Kommunikation im Allgemeinen gibt. Die Entscheidung für die eine oder andere Variante kann weitreichende Konsequenzen für die Höflichkeitstheorie haben. Darauf werden wir zurückkommen.

In den sprachwissenschaftlichen Diskussionen über Höflichkeit legen die meisten AutorInnen großen Wert darauf, dass die verschiedenen Ebenen und Herangehensweisen genau unterschieden und getrennt werden, um begriffliche Konfusion zu vermeiden. Es sollte also zunächst einmal klar sein, ob man von Höflichkeit im normativen, alltagssprachlichen Sinne spricht und damit die Teilnehmerperspektive einnimmt oder ob man Höflichkeit als deskriptiven, sprachwissenschaftlichen Begriff verwendet, der zwangsläufig aus einer BeobachterInnenperspektive entwickelt werden muss.

Viele AutorInnen beziehen sich auf die Unterscheidung von Höflichkeit 1 (oder first-order politeness)Höflichkeit 1 (oder first-order politeness) und Höflichkeit 2Höflichkeit 2 (oder second-order politenesssecond-order politeness), die von Watts et al.Watts et al. vorgeschlagen wurde:

We shall argue in this introduction that distinction needs to be made between first-order and second-order politeness. We take first-order politeness to correspond to the various ways in which polite behavior is perceived and talked about by members of socio-cultural groups. It encompasses, in other words, commonsense notions of politeness. Second-order politeness, on the other hand, is a theoretical construct, a term within a theory of social behavior and language usage. (Watts et al. 2005, 3)

Höflichkeit 1 ist ein common-sense-Begriffcommon-sense-Begriff; er umfasst die Begriffe, die von Interaktionsteilnehmern aktiviert und ihren Bewertungen zugrunde gelegt werden. Sie spiegelt sich beispielsweise in den Tendenzen der Verwendung des Wortes Höflichkeit wider oder in der Thematisierung von (Un)Höflichkeit in einem Gespräch wie dem Ausschnitt aus der Talkshow.

‚Höflichkeit 1‘ als Begriff ist also stark an die Etikette angelehnt und weist Überschneidungen mit andern Konzepten wie ‚Respekt‘, ‚Pünktlichkeit‘, ‚Freundlichkeit‘ usw. auf, ist aber von diesen nicht eindeutig zu trennen. Wie viele alltagssprachliche Begriffe ist dieser also recht vage – für den alltäglichen Sprachgebrauch ist das kein Problem, in wissenschaftlichen Diskussionen sollten Begriffe aber klar definiert und konturiert sein.

Damit sind schon einige der Anforderungen an ‚Höflichkeit 2‘ genannt: Hier kommt es auf Klarheit, Erklärungskraft und Abgrenzbarkeit an. Darüber hinaus sollte jeder wissenschaftliche Begriff in einem umfassenderen theoretischen Ansatz verankert sein und damit eine Einordnung in ein begriffliches System ermöglichen, aus dem heraus sich die untersuchten Phänomene in ihrer inneren Logik und in ihrer Funktionalität erklären lassen. Im Falle der Höflichkeit sollte es etwa möglich sein, zu fragen, welchen kommunikativen oder sozialen Zielen die Bewertung von Handlungen dient. Es sollte darüber hinaus z.B. ermöglicht werden, ‚Höflichkeit‘ in Verbindung zu setzen mit Fachbegriffen wie ‚Sprechhandlung‘ oder ‚Kooperation‘, also auf Fragen zu antworten wie: Ist Höflichkeit eine Eigenschaft von Wörtern, Sprechhandlungen oder Äußerungen? Ist Höflichkeit eine Form von Kooperation, oder fällt sie vielleicht sogar mit dem zusammen, was in der linguistischen Diskussion als ‚Kooperation‘ bezeichnet wird? Ist Höflichkeit ein mitgemeinter Bedeutungsaspekt etwa im Sinn einer Implikatur? Welche Bedeutung hat Höflichkeit für die Kommunikation? Handelt es sich um ein notwendiges Element, um eine Verzierung oder um eine fakultative Zusatzinformation?

Solche und viele andere Fragen können nur dann zufriedenstellend beantwortet werden, wenn eindeutig ist, wovon man spricht und keine Verwechslungen mit Knigge-Vorschriften oder verwandten Begriffen auftreten. Watts et al. betonen deswegen, dass es besser wäre, auf der Ebene der theoretischen Diskussion den durch die Alltagsthematisierungen „kontaminierten“ Begriff ganz zu vermeiden:

As we have seen, in examining linguistic politeness we are dealing with a lay first-order concept which has been elevated to the status of a second-order concept within the framework of some more or less adequate theory of language usage. This being so, it is crucially important to state in what ways the two concepts differ, and this is, as we have also seen, rarely if ever done. Unless the theoretical second-order concept is clearly defined and given some other name, we shall constantly vacillate between the way in which politeness is understood as a commonsense term that we all use and think we understand in everyday social interaction and a more technical notion that can only have a value within an overall theory of social interaction. (Watts et al. 2005, 4f.)

Andererseits stellt es aber, wie erwähnt, auch einen Vorteil dar, wenn sich Theorie nicht allzu weit von der Kommunikationspraxis entfernt und dies auch durch die Verwendung von Begriffen deutlich macht, die aus Alltagsdiskursen kommen und dann im wissenschaftlichen Diskurs vor dem jeweiligen theoretischen Hintergrund genauer gefasst und zu Termini werden. Die Relevanz von Wissenschaft bemisst sich u.a. daran, ob sie in der Lage ist, eine Erklärung für im Alltag selbstverständliche Prozesse zu finden. Warum sollte sie dann Begriffe verwenden, die den Bezug zur alltäglichen Praxis eher verstecken als unterstreichen?

Wie die Praxis sind auch die Ebenen der first-order und der second-order politeness eng aufeinander bezogen und im Zweifelsfall kaum voneinander abgrenzbar. Es ist beispielsweise zweifelhaft, ob die Ausführungen von Autoren wie Mießgang, Gärtner/Roth oder Erlinger dem einen oder dem anderen Bereich zuzuordnen sind. Die Autoren populärwissenschaftlicher Klagen über den Verfall von Höflichkeit können durchaus einen wissenschaftlichen Hintergrund haben. Verwenden sie common-sense-Begriffe, wenn sie versuchen, die Zusammenhänge so darzustellen, dass ein möglichst breites Publikum angesprochen werden kann? Wo ist die Grenze zwischen der verständlichen Darstellung wissenschaftlicher Inhalte und der Thematisierung in bestimmten soziokulturellen Gruppen, wie es bei Watts et al. heißt?

Aber auch wenn es nicht immer leicht ist, bleibt es wichtig, sich die Unterscheidung immer wieder bewusst zu machen und die Ebenen zu trennen, um Verwirrung zu vermeiden. Wenn man beispielsweise über den Wandel von Höflichkeit spricht oder schreibt, sollte man genau sagen, ob man von veränderten Umgangsformen, von lexikalischem Wandel oder von Veränderungen in der Konzeptualisierung von Höflichkeit spricht. Das Gleiche gilt für Sprach- und Kulturvergleiche: Hier stellt sich immer die Frage des tertium comparationis. Kann man beispielsweise sagen, dass politeness, cortesia oder politesse das Gleiche sind wie Höflichkeit? Auf welcher Ebene liegen Unterschiede zwischen dem Deutschen, dem Englischen, dem Italienischen und dem Französischen? Auf der Ebene der Wörter, der Verhaltensweisen oder der Begriffe? Oder sind die Unterschiede gar auf der Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen angesiedelt? Ganz genau hinschauen sollte man auch bei den bereits angesprochenen, weit verbreiteten Klagen über den Verfall von Höflichkeit. Wenn jemand behauptet, die Schüler haben heute keinen Respekt mehr vor den Lehrern und der Institution Schule, wovon redet er dann? Da sollte man zuerst einmal prüfen, ob es stimmt, dass – wie oft behauptet wird – immer weniger Schüler ihre Lehrer „ordentlich“ grüßen. Und wenn es tatsächlich eine Veränderung auf der Ebene der Verhaltensweisen gegeben haben sollte: Kann man sagen, dass die Schüler heute unhöflicher sind als früher, oder haben sie einfach einen anderen Begriff von Höflichkeit und bewerten Handlungen anders?

Wenn man genau hinschaut, ist das Feld, das die Höflichkeitsforschung zu bearbeiten hat, sehr heterogen und unübersichtlich und stellt hohe Anforderungen an die methodische und begriffliche Herangehensweise in der Sprachwissenschaft oder in anderen Wissenschaften. Es gibt zwei bedenkenswerte Argumente, die darauf hinauslaufen, Höflichkeit gar nicht oder ganz anders zu thematisieren als das bisher gemacht wurde. Erstens: Watts hatte in der oben zitierten Passage schon vorgeschlagen, Höflichkeit als wissenschaftlichen Terminus gar nicht zu verwenden und den Begriff anders zu fassen. Ähnlich argumentiert BublitzBublitz:

Der Verzicht auf ‚Höflichkeit‘ als Beschreibungskonstrukt befreit uns zum einen von einem unerträglich überfrachteten und höchst vagen Begriff und verbietet zum anderen die unhaltbare Unterscheidung zwischen höflichen und unhöflichen Sprachen mit dem kausalen Rückschluss auf höfliche und unhöfliche Sprachgemeinschaften. (Bublitz 2009, 275)

Auch Bublitz erinnert also daran, dass die Vagheit des Höflichkeitsbegriffes ein Hindernis für die linguistische Diskussion darstellt. Im Folgenden werden wir trotzdem daran festhalten. Der wichtigste Grund dafür wurde bereits angesprochen: Wir halten Höflichkeit für einen Gegenstand, der zum einen im Rahmen von sprachtheoretischen Überlegungen dazu beitragen kann, das kommunikative Geschehen besser zu erklären als dies ohne ihn möglich wäre. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass sich die Sprachtheorie mit Gegenständen auseinandersetzt, die auch für den alltäglichen Sprachgebrauch und für die LaienreflexionLaienreflexion darüber relevant sind. Wir verstehen Bublitz’ Hinweis allerdings als Aufforderung, einen möglichst klaren und eindeutigen Begriff von Höflichkeit 2 zu entwickeln, mit dessen Hilfe erstens die kommunikative Praxis in deren eigener Begrifflichkeit analysiert werden kann und der zweitens dazu beitragen kann, dass diese Praxis im Rahmen von wissenschaftlichen Kommunikationsmodellen erklärbar wird. Dann sollte es auch möglich sein, sprachwissenschaftlich über Höflichkeit nachzudenken, ohne unhaltbare Unterscheidungen zu treffen – ohne also (z.B.) zu behaupten, das Französische sei höflicher als das Englische.

Das zweite Argument, das gegen ein solches Vorhaben spricht, findet sich in der Einleitung der Höflichkeitsmonographie von Watts:

The present book, however, should be seen as a radical rejection of politeness2 as a concept which has been lifted out of the realm of lay conceptualizations of what constitutes polite and impolite behavior and how that behavior should be evaluated. (WattsWatts 2003, 11)

Watts lehnt es also generell ab, eine Theorie der Höflichkeit zu entwerfen. Sein Augenmerk gilt dem, was auf dem Niveau von Höflichkeit 1 passiert; er will also untersuchen, wie Höflichkeit in der sozialen Interaktion eingesetzt, kommentiert und diskutiert wird und welche Funktionen diese Thematisierungen jeweils haben. Er betont dabei sehr stark den evaluativen Charakter von Höflichkeit und hält diesen für unüberwindbar. Wenn sich also die Sprachwissenschaft mit Höflichkeit beschäftigt, dann übernimmt sie einen Gegenstand, zu dessen konstitutiven Eigenschaften es zählt, dass er von InteraktionsteilnehmerInnen verwendet wird, um (subjektiv) zu bewerten, was andere InteraktionspartnerInnen machen. Dabei bleibt auch der normative Charakter zwangsläufig immer erhalten. Wissenschaft sollte aber nicht subjektiv und normativ sein. Folglich ist es für Watts ausgeschlossen, dass es eine sinnvolle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Höflichkeit geben kann.

Letztlich spricht aus den Bemerkungen Watts’ eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Form von Sprachtheorie. Er sieht hier das Problem, das eine Theorie ein Modell entwickelt, im Falle der Sprache aber dazu genau den Gegenstand heranziehen muss, den sie behandelt. Eine Sprachtheorie spricht darüber, wie wir Sprache verwenden – und verwendet dafür natürlich Sprache. Sie kann also nicht wirklich von ihrem Gegenstand abstrahieren und übernimmt seine (in der Wissenschaft störenden) Eigenschaften: „Its very essence is prescriptive and normative“ (Watts 2003, 48).

Darüber könnte man lange diskutieren. Wir beharren in diesem Buch darauf, dass eine MetaspracheMetasprache möglich ist, die sich der gleichen Wörter bedient wie die ObjektspracheObjektsprache, diese Wörter aber auf klarere und theoriekonforme Begriffe verweisen. So wie man über Freiheit, Traum, Netzwerk, Gesellschaft, Demokratie und vieles andere mehr sowohl alltäglich als auch wissenschaftlich anspruchsvoll diskutieren kann, so sollte das auch für Höflichkeit möglich sein.

Wir werden also den Versuch unternehmen, empirisch zu beschreiben und theoretisch zu erklären, was SprecherInnen tun und denken, wenn sie höflich sind, welche kommunikative Funktion dies hat und welche interaktiven Effekte es bewirkt.

Die Unterscheidung zwischen Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 wird in der Höflichkeitstheorie nach der sog. diskursiven Wende eine gewisse theoretische Brisanz erhalten. Wir werden deswegen in Kapitel 6.5.1 darauf zurückkommen.

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