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3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeitbürgerliche Höflichkeit in Deutschland 3.2.1 Bürgerliche Natürlichkeit

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Wesentliches Moment in der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts bildet der Aufstieg des BürgertumsBürgertum. Die personenorientierte Geselligkeit tritt zugunsten einer sachlichen Objektivierung des Zusammenlebens in den Hintergrund; ein komplexeres Sozialgefüge ist an die Stelle der adligen StändegesellschaftStändegesellschaft getreten und hat mit der Notwendigkeit sozialer Neuorientierung auch den Bedarf an RatgeberliteraturRatgeberliteratur gesteigert.

Mit der Emanzipation des Bürgertums und dem grundlegenden Strukturwandel der Öffentlichkeit und dem Wandel sozialer Werte (vgl. Habermas 1962/1971) ist auch eine andere Form von Höflichkeit verbunden, die den Kontrast von AdelAdel und Bürgertum zum Ausdruck bringt. Die bürgerliche Natürlichkeit wird der höfisch-zeremoniellen Etikette entgegengesetzt, die als künstlich und übertrieben empfunden wird; mit der „AfectationAfectation“ kontrastiert eine „Höflichkeit des Herzens“, die zugleich eine egalitäre Höflichkeit und innere Sittlichkeit unter Seinesgleichen ist.


Abb. III.1: Daniel Nikolaus Chodowiecki (1779): Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens

In den höfischen und salonkonversationellen Geselligkeitsvorstellungen des 17. Jahrhunderts dominierte das Idealbild der geistreichen und galantengalant Konversation als Heilmittel gegen den ennui. Demgegenüber legten die Anstands- und Konversationslehren der bürgerlichen Öffentlichkeit im Deutschland des 18. Jahrhunderts besonderes Gewicht auf schlichtere Formen natürlicher, „wahrerer“ Höflichkeit der gesitteten Lebensart und des guten Tonsguter Ton in allen Lebenslagen.

In diese Zeit fällt, wie BeschBesch schildert, auch der Wandel der HöflichkeitspronominaHöflichkeitspronomen im Deutschen, und zwar von einer „Sozialrang-AnredeSozialrang-Anrede“ zu einer „Anrede, die Beziehungsverhältnisse markiert“ (Besch 2000, 2615). Als Anredepronomina fungieren nun Du und Sie und zum Teil auch Ihr, während es noch längere Zeit dauerte, bis die ursprünglich herrschaftlichen nominalen Anreden Herr, Frau, Fräulein gesamtgesellschaftlich üblich wurden.

Die moralisch-aufklärerischen Lebenslehren des 18. Jahrhunderts fanden ihren publizistischen Niederschlag in „moralischen Wochenschriften“ sowie in einer großen Anzahl von KonversationslehrenKonversationslehre, nach Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele (1968-69/1644) u.a., Christian Thomasius’ Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit und Von der Klugheit, sich in alltäglicher Conversation wohl aufzuführen (1971/1710).


Abb. III.2: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele (1644)

Daneben trugen die Erfindung der KonversationslexikaKonversationslexikon (BrockhausBrockhaus 1796 – 1808) sowie die ansteigende Zahl von Unterhaltungsspielen zur Normierung, Kodifizierung und Institutionalisierung der konversationellen Praxis bei (Schmölders 1986, 59ff.).

AnstandsbücherAnstandsbuch und Konversationslehren des 19. Jahrhunderts erfüllen einerseits neben ihrer vordergründigen Funktion der praktisch-handwerklichen Nutzbarkeit die weitergehenden Funktionen einer Selbstvergewisserungslektüre über Geselligkeitsformen. Andererseits fungieren sie als Aufstiegshilfe (so Linke 1996b, 88), und zwar durch die Einübung in öffentliche und private Formen bürgerlicher Geselligkeit, deren symbolische Ordnung sie durch die Modellierung der konversationellen Umgangsformen gleichsam mitkonstituieren halfen. Bürgerliche Höflichkeit wird so zum symbolischen Medium der SelbstverständigungSelbstverständigung und der IdentitätsstiftungIdentitätsstiftung.

Diverse Beispiele dafür werden in Linke (1996a) angeführt, darunter etwa Martin Schmeizel: Die Klugheit zu leben und zu conversiren, zu Hause, auf Universitäten und auf Reisen (1737). „Cautelen, die man fleißig zu practicieren“ habe, werden über den Ablauf und die Topik von Gesprächen aufgelistet (z.B.: das liebe Wetter, neue Sachen, Staats- und geistliche Sachen, Nachfragen nach des anderen Zustand und schließlich bei hoffärtigen Frauenzimmern: ihr Kleid loben und davon reden).

Die Internalisierung von Höflichkeit ist Aufgabe einer gesellschaftlichen Bildung. Der HöflichkeitserziehungHöflichkeitserziehung kommt daher nach bürgerlichen Vorstellungen ein besonderer Stellenwert zu.

Sprachliche Höflichkeit

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