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2.3 Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema

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Eine weitere Ebene des Wissens über Höflichkeit kann man durch die Analyse der in der Presse dokumentierten Diskurse erfassen. Um einen Eindruck zu bekommen, werfen wir einen kurzen Blick auf ziemlich willkürlich ausgewählte Zeitungsartikel, in denen über Höflichkeit geschrieben wird und im anschließenden Kapitel auf einige Buchpublikationen, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Die Auswahl sollte geeignet sein, öffentliches Sprechen über Höflichkeit exemplarisch zu dokumentieren und diskursanalytisch zu fragen, welche Ideen sich dahinter verbergen. Die Frage, auf die wir hier eine Antwort suchen, lautet also: „Worüber spricht man genau, wenn man außerhalb von Etikettetexten über Höflichkeit spricht?“

Zunächst stößt man dabei wieder auf Knigge und die Knigge-Gesellschaft. Im Jahr 2013 wurde Über den Umgang mit Menschen 225 Jahre alt. Die Zeit widmete diesem Jahrestag einen Artikel, in dem differenziert über das Lebenswerk des Freiherrn berichtet wird und in dem unterstrichen wird, dass Knigge mit Anstandsregeln nichts zu tun hatte. „Knigge war kein Freund von Anstandsregeln“ lautet die Überschrift des Textes von Hellmuth Vensky (2013). Darin wird auch über die Aktivitäten der Knigge-Gesellschaft berichtet. Auf journalistisches Interesse stoßen insbesondere die angebotenen Benimmkurse, in denen Lernziele wie Benehmen bei Tisch, Begrüßungsrituale oder Dresscodes verfolgt werden. Sie gelten als Soft SkillsSoft Skills, die in vielen Bereichen der Gesellschaft, u.a. im Berufsleben, eine immer wichtigere Rolle spielen. Betont wird, dass die Nachfrage nach Benimmkursen in den letzten Jahren zugenommen hat und dass dies auch daran liegt, dass sich die Verhaltensstandards geändert haben. Das wiederum führt zu Unsicherheit und dann zu Beratungsbedarf. Ganz im Sinne der Vorgaben der Knigge-Gesellschaft wird darauf verwiesen, dass es nicht um eine Reglementierung des Verhaltens gehen kann, dass vielmehr das Bauchgefühl in vielen Fällen eine gute Orientierungshilfe ist: „Oft gibt der gesunde Menschenverstand schon die richtige Benimm-Marschrichtung vor“ so ein Trainer (Schleufe 2012).

In manchen (wohl eher vornehmen) Stadtvierteln werden Benimmkurse auch für Kinder angeboten. So lautet beispielsweise die Überschrift eines Artikels in der SZ: „Benimm dich! Grüßen, essen, richtig sitzen: Im feinen Münchner Süden soll Kursleiterin Sophie von Seydlitz Achtjährige Manieren lehren“ (Lutz 2015). Es geht um Kinder, die schon viel darüber wissen, was anständiges Benehmen ist. Sie sollen in dem Kurs aber lernen, dass es um mehr geht als die richtige Handhabung der Gabel: „Gutes Benehmen bedeutet Respekt: Respekt vor anderen zeigen und selber respektvoll auftreten.“ Das Beispiel zeigt, dass Höflichkeit und alles, was mit ihr zusammenhängt, ein Ziel von Erziehung ist. Ist es nötig oder wünschenswert, Kinder auf die Befolgung von Regeln „abzurichten“, oder sollte Erziehung zur Höflichkeit mehr leisten? Die Antwort auf diese Frage verweist auch auf das Weltbild der Erziehungsberechtigten. Die Ziele der Eltern werden so charakterisiert: „Seine Tochter soll das Rüstzeug bekommen, um in einer Welt zu bestehen, in der ManierenManieren einen hohen Stellenwert haben. Das sollen die Kinder schon früh lernen“ (Lutz 2015). Solche Aussagen zeigen deutlich, wie zeit- und gruppenabhängig die Einstellung zu Höflichkeit und Manieren ist. Was auch immer die hehren Ziele solcher Kurse sein mögen, am Ende geht es darum, dass die Kinder einen Tisch richtig decken und gemeinsam essen, ohne zu schlürfen. Die Kursleiterin korrigiert Körperhaltung und den Umgang mit Messer und Gabel.

Auch der als unzureichend empfundene Umgang mit Höflichkeit in Schulen bietet immer wieder Anlass für die Berichterstattung: „Kein Platz für SchimpfwörterSchimpfwort“ – eine katholische Grundschule in Nordrhein-Westfalen erklärte sich zur „schimpfwortfreien Zone“ (Aprin 2014). Die Schule löste damit kontroverse Reaktionen aus. Selbst Vorschriften über angemessene GrußformelnGrußformel stießen auf mediale Aufmerksamkeit: „Passauer Schulleiterin verbannt ‚Tschüs‘“ (so Spiegel online auf der Grundlage einer dpa-Nachricht): „Sie erklärt ihre Schule zur ‚Tschüs- und Hallo-freien Zone‘“ und fordert stattdessen: „In Bayern heißt das ‚Grüß Gott!‘“ Der Präsident des Bayerischen Lehrerverbands BLLV schließt sich an: „Die Schüler müssen den richtigen Ton finden“ (Cornelius 2012).

In vielen Bereichen des Alltags- und des Berufslebens spielt Höflichkeit, wie Zeitungsartikel widerspiegeln, eine große Rolle. In der Presse finden sich Verweise auf den Digital-Knigge der Telekom, in dem Regeln für das digitale Benehmen formuliert werden (SZ.de 2010a) sowie auf verschiedene Bereiche des studentischen Lebens: In Zeit online (Kutter 2012) wird über Höflichkeit in studentischen Mails an Professoren reflektiert. Unter der Überschrift: „Hallöchen Herr Professor. Warum schreiben Studenten so unhöfliche E-Mails? Weil sie es nicht besser wissen“, wird die (Un)Angemessenheit von AnredeformenAnredeform im akademischen und medialen Kontext erörtert.

Besonders intensiv wird Höflichkeit im Bereich des Einzelhandels diskutiert. Dabei offenbart sich auch die Ambivalenz und Komplexität des Phänomens. Ein Artikel trägt diese Überschrift: „Der neue Zwang zur FreundlichkeitFreundlichkeit. Einzelhändler verfolgen eine neue Strategie: Sie zwingen ihre Mitarbeiter zu Höflichkeitsfloskeln und Nettigkeit. Die leiden unter dem Diktat“ (Schimansky 2012). Das Problem, um das es hier geht, kann man einfach zusammenfassen: EinzelhändlerInnen in Deutschland haben festgestellt, dass ihre KundInnen zufriedener sind, wenn sie im Geschäft höflich oder freundlich behandelt werden. Und wenn KundInnen zufrieden sind, dann laufen auch die Geschäfte gut. Also wurden die MitarbeiterInnen dazu aufgefordert, die KundInnen freundlich anzulächeln, sich zu bedanken und natürlich immer zu grüßen. Mit anderen Worten: höflich zu sein. Es stellt sich aber sehr schnell heraus, dass das leichter gesagt als getan ist. Oft merken die KundInnen, dass es sich um aufgesetztes Verhalten einer professionellen Höflichkeitprofessionelle Höflichkeit handelt und fühlen sich auf den Arm genommen – das ist noch schlimmer als unhöflich behandelt zu werden. Eine Einzelhandels-Mitarbeiterin, die im Artikel zitiert wird, erzählt,

[…] wie sehr sie sich manchmal zusammenreißen müsse, um die freundlichen Sätze über die Lippen zu bekommen. ‚Das ist schwierig, denn viele Kunden werden persönlich.‘ Oft merkten die Kunden, dass die Mitarbeiterin nur Floskeln aufsage, statt sich ernsthaft um sie zu kümmern. ‚Viele werden wütend, wenn man sie mit 08-15-Sätzen abspeisen will.‘ Ihr fällt es schwer, sich zu entschuldigen, wenn sie es nicht so meint. Oft beißt sie dann auf die Zähne und lächelt. (Schimansky 2012)

Höflichkeit ist auch eine Frage des richtigen Ausmaßes und vor allem der Glaubwürdigkeit. Es ist sehr fraglich, ob man sich oder jemandem Höflichkeit antrainieren und dabei „echt“, authentisch und aufrichtig wirken kann.

Der Einzelhandel ist in Sachen Höflichkeit aber nicht nur wegen solcher Vorschriften bekannt. Hier gibt es auch das Phänomen des „Verkäuferinnen-Du“, also eine seltsame Mischung aus förmlicher und informeller Anrede: „Frau Müller, kannst du mir mal 20 Euro wechseln?“ Darauf verweist ein weiterer Artikel, in dem Höflichkeit zum Thema gemacht wird: „‚Du, Frau Müller‘: Die richtige Begrüßung erfordert viel Fingerspitzengefühl. Was zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ alles schieflaufen kann, ergründet die AnredeforschungAnredeforschung“ (Straßmann 2013). In diesem Text geht es um die Anrede und um die Frage, welche der verschiedenen möglichen Formen jeweils passend ist. Der Autor verweist auf die Tatsache, dass es im Deutschen eine vertrauliche Anredevariante und eine Höflichkeitsform gibt. Er beschreibt die Tendenz, in immer mehr Kontexten das Du zu verwenden und damit das nachzuvollziehen, was sich in skandinavischen Ländern schon verändert hat: „In den skandinavischen Ländern ist bereits jede spezielle Höflichkeitsform dem demokratischen ‚Du‘ gewichen.“ Dem liegt offenbar die Annahme zugrunde, dass erstens Höflichkeit darin liegt, Distanz zu den GesprächspartnerInnen zu wahren (und nicht durch das Du Vertrautheit zu signalisieren). Und zweitens, dass Höflichkeit eher der aristokratischen Sphäre angehört, das Du eher dem demokratischen Diskurs. Eine weitverbreitete Annahme, die aus der Perspektive der linguistischen Höflichkeitsforschung noch zu diskutieren sein wird.

Gerade im Tourismus stoßen unterschiedliche Höflichkeitstraditionen und unterschiedliche Formen der Realisierung von Höflichkeit aufeinander. So zeigt sich sehr schnell, dass in unterschiedlichen Regionen und erst recht in unterschiedlichen Ländern bzw. Kulturen auch sehr unterschiedliche Formen des Umgangs miteinander existieren. Diese Unterschiede können leicht zu Konflikten oder zumindest zur Unzufriedenheit von Gästen führen. So wird in einem Artikel (SZ.de 2010b) über eine Höflichkeitsstudie in Frankreich berichtet. Der Erhebung zufolge sind die Französinnen und Franzosen gegenüber TouristInnen nicht nett genug: „Besucher aus dem Ausland empfänden die Franzosen oft als ‚arrogant, sogar verächtlich‘, sagt die Tourismusberaterin […].“

Solche Eindrücke ergeben sich durchaus auch dann, wenn keine größeren Sprach- oder Kulturbarrieren vorhanden sind. Klagen von deutschen BesucherInnen, z.B. über die Unhöflichkeit von Berliner TaxifahrerInnen, sind fast schon an der Tagesordnung. Auch in der Kommunikation zwischen Deutschen und SchweizerInnen erschweren Unterschiede in den Umgangsformen die Verständigung. Als Beispiel sei hier eine Passage aus einem Artikel aus Zeit online zitiert:

Der Schweizer ist in der Regel viel höflicher im Umgang mit seinen Mitmenschen. Das wird schon in der Tram (die hier ‚das Tram‘ heißt) deutlich, wo man an den Endhaltestellen täglich höflich begrüßt und auch verabschiedet wird vom Fahrer. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Supermarkt: Höflichkeitsfloskeln wie ‚Merci‘, ‚Danke‘, ‚Bitte‘ werden wohl in keinem anderen Land so oft verwendet wie hier. (Bertram 2014)

Der Artikel beschreibt die Unterschiede im Kommunikationsverhalten als unterschiedliche Grade von Höflichkeit, die das eine oder das andere Land auszeichnen. Auch das hört und liest man oft. Briten sind höflicher als Deutsche, Franzosen sind höflicher als Spanier usw. Wir werden in Kapitel 7.2 noch ausführlicher darauf zurückkommen. Hier mag der Hinweis genügen, dass der weit verbreitete Eindruck, manche Kulturen oder Sprachen seien höflicher als andere im Wesentlichen auf unzulässigen Verallgemeinerungen und einem diskussionswürdigen Verständnis von Höflichkeit beruht. Was uns hier interessiert, ist der Höflichkeitsbegriff, der sich in solchen Behauptungen manifestiert: Er ist sehr stark am Begriff der Etikette orientiert, er identifiziert Höflichkeit mit der Realisierung von für die jeweilige Situation vorgeschriebenen Sprechhandlungen und wertet ein Ausbleiben der jeweiligen Handlung als Unhöflichkeit. Also: Wer immer schön und sehr oft bitte und danke sagt, der (oder die) ist höflich, wer das nicht tut, ist unhöflich. Das ist aus der Perspektive einer linguistischen Höflichkeitsauffassung sehr verallgemeinernd und vor allem abstrahiert es von den Äußerungskontexten. Unstrittig ist allerdings, dass sich Kulturen auch in den Höflichkeitskonventionen qualitativ voneinander unterscheiden und dass diese Unterschiede die interkulturelle Kommunikationinterkulturelle Kommunikation erheblich erschweren können.

Interessanterweise wird vereinzelt auch auf problematische Aspekte der Höflichkeit hingewiesen. In einem Artikel (Blawat 2011) geht es um Kommunikationspannen. Die Überschrift lautet: „Die dunkle Seite der Höflichkeit. Manche Menschen riskieren ihr Leben, weil sie nicht unhöflich sein wollen. Die vermeintliche Tugend kann irritieren, zu Missverständnissen führen und manchmal sogar tödlich sein.“ Das klingt dramatisch. Höflichkeit wird hier als „Schmiermittel der Kommunikation“ im Alltag dargestellt, das jedoch in Extremsituationen unerwünschte Effekte haben kann, etwa bei gefährlichen Situationen in Flugzeugen oder bei Arztgesprächen: Nach einer zitierten Studie „[…] spielte es in drei Viertel aller Unfälle von US-Zivilflugzeugen in den Jahren 1978 bis 1990 eine Rolle, dass ein Crewmitglied seine KollegInnen allzu zurückhaltend, taktvoll und indirekt auf Fehler und Probleme hingewiesen hatte. Dies erschwerte dem Rest der Mannschaft, die Gefahr richtig einzuordnen und schnell genug zu reagieren.“

Ein anderer problematischer Aspekt ist die Nähe von Höflichkeit und Lüge. Lügt man, wenn man höflich ist? Und wenn ja, ist das verwerflich? Im Magazin der SZ (Heft 12/2016) heißt es in der Überschrift eines Artikels: „Loben, lügen oder schweigen. Eine Bekannte betätigt sich als Künstlerin. Darf man ihr sagen, dass einem ihr Schaffen nicht gefällt?“ (Erlinger 2016b) Anknüpfen lassen sich viele weitere Fragen nach der Begründung einer Absage, nach dem Verhalten bei einer Essenseinladung, bei der es nicht geschmeckt hat usw. Das berührt den Bereich, der in der Linguistik als „prosocial lies“ (Meibauer 2014, 152ff.) analysiert wird. Auch in diesen Beispielen wird deutlich, dass unter Höflichkeit ein Verhalten subsumiert wird, das vor allem in der Befolgung von Vorgaben für bestimmte Situationen besteht. Auch hier wird der Kontext ausgeklammert: Es scheint in jeder Situation erwartbar zu sein, dass man indirekt kommuniziert und bitte und danke sagt, wenn man nicht als unhöflich angesehen werden möchte.

Sprachliche Höflichkeit

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